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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




9. Juli 2019
Thomas Vorwerk
für satt.org


Cinemania-Logo 204:
Girls are awesome,
superheroes are amazing,
lies are obligatory



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  Spider-Man: Far From Home (Jon Watts)

Spider-Man:
Far from Home
(Jon Watts)

USA 2019, Buch: Chris McKenna, Erik Sommers, Comic-Vorlage (Figuren): Stan Lee, Steve Ditko, Kamera: Matthew J. Lloyd, Schnitt: Leigh Folsom Boyd, Dan Lebental, Music: Michael Giacchino, Kostüme: Louise Frogley, Production Design: Claude Paré, mit Tom Holland (Peter Parker / Spider-Man), Zendaya (Michelle »MJ« Jones), Jon Favreau (Happy Hogan), Jacob Batalon (Ned Leeds), Angourie Rice (Betty Brant), Samuel L. Jackson (Nick Fury), Jake Gyllenhaal (Quentin Beck / Mysterio), Cobie Smulders (Agent Maria Hill), Robert Downey jr. (Tony Stark / Iron Man, evtl. alte Aufnahmen), Marisa Tomei (Aunt May Parker), Remy Hii (Brad Davis), Tony Revolori (Flash Thompson), Martin Starr (Mr. Harrington), Hemky Madera (Mr. Delmar), J.B. Smoove (Mr. Bell), Toni Garrn (The Seamstress), Clare Dunne (Victoria), Ben Mendelsohn (Talos), 129 Min., Kinostart: 4. Juli 2019

Bei keinem Comic-Superhelden legt man so großen Wert darauf, seine Jugend zu bewahren wie bei Spider-Man. In den Comics durfte er zwar mal seine Mary-Jane heiraten und Autor Dan Slott machte gar einen superreichen Industriellen aus ihm, aber gerade bei seinen Filmauftritten haben seine Darsteller die auffallendste Halbwertzeit. Beim neuesten, ans MCU angesiedelten Darsteller Tom Holland betont man besonders seinen Schülerstatus, in Spider-Man: Far from Home wird sogar mal erwähnt, dass er immer noch 16 sein soll.

Zu den Kerndaten der Comicfigur gehören neben dem Kampf gegen Supergegner immer Peters Bemühungen, durch seinen lumpigen Fotografenjob etwas dazuzuverdienen, seine schulischen Leistungen nicht unter seinen nächtlichen Ausflügen leiden zu lassen, und bei all den Aktivitäten in seinen zwei Leben auch noch seine normale Identität geheimzuhalten. Und vielleicht so etwas wie ein Liebesleben aufzubauen, ob mit Mary Jane Watson, Gwen Steacy oder (lang ist's her) vielleicht sogar mit Betty Brant.

Film-Spidey 1 Tobey Maguire hatte hier mit Kirsten Dunst den größten Erfolg, Nr. 2 Andrew Garfield hatte sich mit Gwen Steacy (Emma Stone) vermutlich die ungünstigste Dame ausgesucht, bei Nr. 3 Tom Holland bestand der Kernwitz des ersten Films darin, dass man die Rolle der »MJ« neu besetzt hatte, aus Mary-Jane wurde Michelle Jones (Zendaya, jener wohl angesagte Popstar, der zwischendurch auch im Zirkus-Spektakel The Greatest Showman auftauchte), was man aber vor dem Publikum geheim hielt.

Die Geheimhaltung spielt auch im neuen Film eine große Rolle. Man solle bloß keine Handlungsdetails preisgeben, wurde einem vor dem Film extra eingebleut (die Dame von Sony las sogar von einem Zettel ab, so hochwichtig war das). Da ich wegen meiner Geheimidentität nebst Job die Filmwelt erst mit einigen Tagen Verspätung retten kann, spreche ich mal geringfügig offener, auch weil die vermeintlichen »überraschungen« so toll alle nicht sind.

Schon im Vorfeld des Films erfuhr man, dass Jake Gyllenhaal hier als Mysterio auftauchen würde, eine Figur, die in The Amazing Spider-Man #13 als Bösewicht eingeführt wurde und die einen eher geringen Einfluss auf das Marvel-Universum hatte, nicht zuletzt, weil die Käseglocke über seinem Kopf schon ein bisschen lächerlich wirkt.

In Far from Home wird Mysterio als Held aus einem fremden Universum eingeführt, mit dem zusammen Spider-Man gegen übermächtige Elementarwesen kämpft (einer der nächsten MCU-Filme soll sich um die »Elementals« drehen). Die Art und Weise, wie Gyllenhaal seine Rolle ausfüllt, wirkt so altmodisch und »camp«, dass man auch ohne Marvel-Basiswissen eine gewisse Skepsis mitbringt.

Ob und wie dann eine Überraschung an diesem Teil des Films ansetzt, lasse ich mal die Ticketkäufer erfahren, Fakt ist, dass spätestens der halbgare double punch an »Cliffhängern« zum Schluss des Films eher eine Witznummer ist, als irgendeinen Zuschauer in seelische Bedrängnis zu bringen, was denn jetzt wohl mit dem armen Spider-Man bis zum nächsten Film passieren wird.

Das Kernproblem des Films ist für mich, dass man sich zwar an die bevorzugten Problem des Comic-Spidey hält, aber der Film zu zerfahren ist, um zwischen seinen Bestandteilen ein kohärentes Ganzes entstehen zu lassen.

Da hat man Peters Superhelden-Aktivitäten, sein durch Happy Hogan fortgeführtes technologisches Coming-of-Age, Hogans kleines angedeutetes Techtelmechtel mit Aunt May, Spider-Mans Kontakte mit Nick Fury und den Überbleibseln von S.H.I.E.L.D. ... und dann auch noch eine quasi shanghaite Klassenfahrt nach Europa, während der er MJ näher kommen will, während die sich erschreckend gut mit Nebenbuhler Brad Davis zu verstehen scheint.

Die ursprünglichen Nebenfiguren wie Flash Thompson, Betty Brant etc. hat man ja im vorherigen Film zu einem archie-mäßigen High-School-Subplot umgemuddelt, wobei Peters neuer bester Freund Ned (Jacob Batalon) sogar von Peters Nebenjob als Fassadenkletterer erfuhr und ihn jetzt nebenbei unterstützt. Das ist eine Konstellation, die in vielen aktuellen Marvelcomics für ein jüngeres Publikum, z.B. The Unstoppable Wasp, The Magnificent Ms. Marvel, prima funktioniert, aber im Film findet man nicht das passende Maß. Man springt immer wieder hin und her zwischen den »verschiedenen Welten« des Peter Parker, und durch den Europa-Trip, bei dem man scheinbar jeden Tag in einer anderen Metropole verweilt (ohne Jetlag oder irgendwelche außerschulischen Aktivitäten, für die man womöglich eine weibliche Begleitperson gebraucht hätte), wird das Ganze noch stärker fragmentiert. Die ethnische Diversität von Peters SchulkameradInnen, die aber größtenteils bessere Statisten bleiben, wirkt auch wie ein Hinweis auf die momentan ganz gut laufenden Comics, nur dass den Figuren im Film nicht die Chance gegeben wird, sich zu entwickeln.

Durch die Bank weg könnte man sagen, dass alle Figuren abgesehen von Peter jeweils umfassend in zwei Sätzen geschildert werden können, es fällt wirklich schwer zu bestimmen, wer nach Peter Parker die zweitwichtigste Rolle des Films einnimmt (oder dritt-, viert-, fünftwichtigste). Da behilft man sich mit dem Marktwert der Darsteller, aber selbst jemand wie Jake Gyllenhaal wirkt hier komplett verschenkt.

Eine Kollegin fand zwar einen politischen Ansatz, mit dem man die Filmhandlung thematisch interessanter machen könnte (»Der Klimawandel ist fake news!«), aber wenn man sich umfassend mit dem Kernthema des Films befasst und eine gewisse Prämisse mehrfach abhandelt (sorry, ich hoffe darauf, dass ihr nach Sichtung des Films nachvollziehen könnt, was das Hauptthema des Films ist - übrigens etwas, womit die Marvel-Figur Mysterio auch seinerzeit in den Comics eingeführt wurde), wirkt das zwar so, als wolle man fast philosophische Gefilde mit der Filmhandlung ergründen, doch ist das mehr Philosophie für 11jährige mit geringer Aufmerksamkeitsspanne.

Ich kann erkennen, das gewisse Schwächen des Films später eine narrative »Erklärung« erfahren (man vergleiche dieses Phänomen mit meiner Kritik zum Film Serenity von Steven Lohnson, wo ich vor allem die schlechten Effekte bemängelte), aber es wird aus der gar nicht soo schlechten Idee einfach nichts gemacht, man begnügt sich mit ein paar guten Gags, Gastauftritten aus dem MCU und einem riesigen Gewusel von Figuren, für die sich die Filmemacher aber größtenteils nicht interessieren, sie werden nur pflichtschuldig als Stichwortgeber abgehakt, gefühlt mit jeweils exakt drei Szenen, in denen dann meistens auch noch der selbe running gag gemelkt wird bis zum geht nicht mehr: Nick Fury möchte gerne, dass man seine Anrufe nicht ignoriert, Ned und Betty werden unerwartet zu einem Paar, das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass die beiden sich gegenseitig »Babe« nennen - und auch das Herumgedruckse zwischen Happy Hogan und Aunt May erinnert eher an fünf Folgen von Rote Rosen als an irgendetwas, was tatsächlich mit Gefühlen - oder meinetwegen auch nur mit Lust oder Leidenschaft - zu tun hat.

Ich bin ja bekanntermaßen jemand, der sich nach Avengers: Infinity War nahezu augenblicklich entschied, auf Endgame zu verzichten, im Sony-Nachfolger geht es mit der fragmentarisierten Erzählweise weiter. Ein Seltsames, aber für mich persönlich zutreffendes Fazit: Ich kenne mich augenblicklich im Comic-Marvel-Universum besser aus als je zuvor, die Filme jedoch haben für mich immer geringeren Unterhaltungswert. Ich lese auch lieber drei bis fünf Versionen der Dark Phoenix-Geschichte (Claremont, Morrison, Generations) statt mich mit der offenbar enttäuschenden zweiten Filmfassung abzugeben. Für mich geht der Trend deutlich zurück zu den Comics, ich habe auch gerade die alten Hefte von Bill Sienkiewicz' New Mutants wiedergelesen, weil ich das Gefühl habe, der Film wird noch dreimal verschoben - und Claremont und Sienkiewicz haben die absurde Hinhalte-Taktiv von Fox dazu benutzt, zwischenzeitig einfach einen neuen Comic zu erstellen, der an die alten Hefte anknüpft. Ich bin bei Chris Claremont immer skeptisch, aber davon erwarte ich mir mehr als von irgendeiner Comic-Verfilmung der nächsten Monate


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  Wenn Fliegen träumen (Katharina Wackernagel)

Wenn Fliegen träumen
(Katharina Wackernagel)

Deutschland 2019, Co-Regie, Buch: Jonas Grosch, Kamera: Fabian Spuck, Schnitt: Diana Matous, Musik: Jochen Wenz, mit Thelma Buabeng (Naja), Nina Weniger (Hannah), Niels Bormann (Luz), Tina Amon Amonsen (Marie), Zoltan Paul (Peter), Robert Glazeder (Ole), Johannes Klaussner (Carlos), Sebastian Schwarz (Christian), Katharina Wackernagel (Anästhesistin), Helmut Mooshammer (Dr. Faust), Sabine Wackernagel (Hannahs Mutter), Robert Beyer (Der Tod), Iver Kjekshus (Polizist Knut), Marie Burchard (Polizistin Inga), 83 Min., Kinostart: 27. Juni 2019

Im Presseheft heißt es lapidar: »Wenn Fliegen träumen ist ein skurril-melancholischer Roadtrip nach Norwegen, über Einsamkeit und das pralle Leben.« Ich habe diesen Satz erst nach Sichtung des Films gelesen, aber schon die Formulierung »das pralle Leben« hätte mich vermutlich abgeschreckt. »Das pralle Leben« dreht sich hier um die einsame, aber lebensfrohe schwarze Psychotherapeutin Naja (Thelma Buabeng), die gemeinsam mit ihrer suizidgefährdeten Halbschwester Hannah (Nina Weniger), die u.a. als Reiseführerin norwegischen Gruppen die Berliner Mauer zeigt, aufbricht, um das Haus der verstorbenen gemeinsamen Vaters zu besuchen. In einem roten Feuerwehrauto geht es nach Norwegen, zwischendurch gabelt man den Spanier Carlos (Johannes Klaussner) auf, der nach Finnland will und zwischen den Halbschwestern Begehrlichkeiten schürt. Und verfolgt werden sie von einer noch skurrileren Gruppe, die bei Naja gemeinsam in der Therapie ist.

Hinter dem Film steckt ebenfalls ein Geschwisterpaar, Schauspielerin Katharina Wackernagel arbeitet schon zum vierten Mal mit ihrem Bruder Jonas Grosch zusammen, der zuvor immer für die Regie zuständig war, diesmal überließ er ihr das Ruder und ist vor allem für das Drehbuch und verschiedene Produktionsposten zuständig.

Mit einem nicht zu übersehenden Stolz ist Wenn Fliegen träumen eine selbstverantwortliche Low-Budget-Angelegenheit ohne die üblichen Konzessionen an die in Deutschland so vorherrschenden Fördergelder. Wobei dies nicht heißen soll, dass man es nicht versucht hätte, aber nach zähen Diskussionen (das Drehbuch ist 13 Jahre alt) hat man sich nach einem gesicherten Grundbudget kurzentschlossen und spontan ins Abenteuer gestürzt, wobei ein großes Glück war, dass die Hauptdrehorte in Norwegen gleich bei einem Campingplatz lagen, in dem das kleine Team unterkommen konnte.

Road Movies profitieren ja meist von einer gewissen Flexibilität des Drehteams, wenn man nicht alle Unabwägsamkeiten des Drehs einfach mit finanziellen Mitteln klären kann. Wenn Fliegen träumen hat als Film auch durchaus Potential, aber gewisse (nicht ausschließlich inszenatorische) Kinderkrankheiten, finanzielle Zugeständnisse und die generell sehr absurd-skurrile Herangehensweise an den Filmstoff unterstützen sich nicht immer gegenseitig.

Beispielsweise gibt es schon zu Beginn des Films Passagen mit einem bleichen Kerl im schwarzen Frack und Zylinder, der zudem auffällige schwarze Fingernägel hat. Montiert sind diese Szenen unkonventionell (jede Menge jump-cuts, eine gewisse »Unabhängigkeit« von Zeit und Raum), die Positionierung der Szenen innerhalb der Haupthandlung impliziert auch einen gewissen traumähnlichen Status, und ganz am Ende des Films, mit dem Abspann, bekommt man dann auch die Gewissheit, dass es sich hier um den »Tod« gehandelt haben soll, mit dem Naja hier als Engel im weißen Gewand fast tanzte. Da der Tod im Film auch eine Rolle spielt, wird das auch durchdacht sein, die Szenen erschwerten mir persönlich aber nur den Zugang zur eigentlichen Geschichte, die sich mit unzähligen schnell eingeführten Figuren auch nicht automatisch »öffnete« für den Betrachter, vieles wirkte episoden- oder anekdotenhaft, was per se nicht schlecht sein muss - aber ich behielt immer einen gewissen Abstand zum Film und den Figuren die darin agierten.

Als Filmkritiker sieht man Filme generell anders als andere Leute, bei mir ist es auch so, dass ich meine Kritiken nur selten direkt nach dem Film verfasse, sondern ich mich auf meine Notizen verlasse und lieber einen gefestigten, durchaus auch mal über Wochen und Monate entstandenen Gesamteindruck zu Rate ziehe. Manche Filme finde ich beim Verlassen des Kinos noch recht toll und sie verlieren später, andere gewinnen erst durch eine tiefergehende Deutung, durch meine Methode leiden am stärksten die Filme, die keinen tiefen Eindruck erzielen konnten. Wenn der Gesamteindruck ganz gelungen war, man sich aber vier Wochen später ums Verrecken ohne die Notizen an nichts erinnern kann, dann zeugt das nicht nur davon, dass man dement wird und zu viele Filme gesehen hat - es spricht auch generell nicht für den Film. Ich würde sogar soweit gehen, dass manchmal ein schlechter (über Wochen »gefestigter«) Eindruck aussagefähiger, wenn nicht gar »besser« ist als ein mittelprächtiges Erinnerungsvakuum.

Okay, ich habe mich etwas verquatscht. Worauf ich hinauswollte: für meine Art der Berichterstattung benötige ich gewisse Kerndaten, und ich lege Wert darauf, mir die Rollennamen aufzuschreiben. Hilft nachher bei der Zuordnung zu den Darstellern, und meist unterstützt es auch die Narration. Demnächst folgt die Rezension zu dem Film Vox Lux, wo eine große Zahl meiner Kollegen und Kolleginnen vom Film schwer überfordert wurden, weil sie etwa einen Zeitsprung (mit eingeblendeter Jahreszahl) übersehen haben oder durch einige, ich sag mal »anspruchsvolle« Casting-Entscheidungen komplett verwirrt wurden.

Der »normale« Zuschauer, der sich auf den Film konzentriert und nichts mitschreibt, hat mir gegenüber manchmal den Vorteil, dass er Gesichter besser zuordnen kann. Und dass nicht nur in asiatischen Filmen. Ich habe zwar ein immenses Gedächtnis, was Schauspieler und ihre Filme angeht, aber wenn ich in einem Film auf zwei oder drei neue Gesichter treffe, die sich womöglich nicht klar unterscheiden (der Held umgarnt zwei Blondinen etc.), da komme ich schon mal ins Schwimmen, bekomme aber zusätzliche Hilfe, weil ich mir halt die Namen aufschreibe (gerne auch mal mit Nachnamen). Wenn ein Film aber darauf verzichtet, Namen zu nennen, bekomme ich manchmal Probleme.

Nun ist das ein zweischneidiges Schwert, weil mich Filme, die nach Drehbuch-Schnittmuster alle Figuren mit Namen einführen, dabei aber mit eher tölpelhaften Dialogen fungieren, nerven, ich aber den langfristigen Verzicht auf Namensnennungen manchmal auch anstrengend finde (insbesondere, wenn man die Figuren nicht ohne weiteres unterscheiden kann, Paradebeispiel Dunkirk). Dabei ist die zweite Methode natürlich viel lebensähnlicher, weil einem ja auf der Straße auch nicht jede Zufallsbegegnung sofort den Namen offenbart.

Toll ist damals Krimi-Autor Dashiell Hammett mit dem Problem umgegangen (wobei ich mir dessen bewusst bin, dass Buch und Film ganz unterschiedlich funktionieren). Hammetts Plots entwickeln sich oft aus der Sicht eines Detektivs, und wenn der ein Zimmer betritt, in dem sich zwei Männer befinden, wird dem Leser geschildert, wie die sich unterscheiden, der Detektiv benutzt womöglich auch eine Art Spitzname wie »grüne Krawatte« für einen - und erst, wenn dann der Name genannt wird, wird dieser auch in der Erzählung übernommen.

So ähnlich verlaufen auch meine Filmmitschriften mitunter. Aus der »dicken Brillenträgerin« wird vielleicht »Birgits Mutter?«, später »Birgits Mutter!» und irgendwann »Gabi, die Exfrau von soundso«. Wenn man das dann sechs Wochen später im günstigeren Fall noch entziffern kann, ist manchmal sogar eine Rekonstruktion von Sachverhalten möglich, die man beim Betrachten selbst womöglich übersehen hat.

Wow, so lange um ein Thema herumgeschwafelt habe ich glaube ich noch nie, und ich sollte wirklich mal zurück zum Film kommen, aber anderthalb verwandte Gedanken muss ich noch loswerden:

a) Wer sich Notizen macht, schaut manchmal auf sein Blatt (um zumindest die Stelle zu finden, bis wo man es vollgekritzelt hat), und kann dabei etwas verpassen. Manchmal kann man so aber auch später Dinge vergleichen, die nicht passen (ich mag es, auf Alters- und Jahresangaben zu achten - die passen nicht immer so richtig gut zusammen, was ich peinlich finde, denn ein Drehbuchautor hat genug Zeit, sich das zusammenzubasteln).

b) Ziemlich schrecklich finde ich es in Filmen, wenn man schnell hintereinander fünf oder mehr Gesichter zeigt und dazu kurz die Namen einblendet oder -spricht. Gute Filmemacher geben ihrem Publikum die Möglichkeit, von der Informationsvergabe zu profitieren. Timing ist dabei natürlich sehr wichtig.

Juchhu, zurück zum Film! Anfänglich hatte ich ja die »Verfolgergruppe« kurz erwähnt, ich bin aber noch nicht im Detail auf diese Figuren eingegangen. Lange, bevor Carlos das erste Mal auftaucht, geht es auch um die Therapiegruppe, die Naja betreut. Dazu gehören die Nymphomanin Marie, der Autorenfilmer Peter, der Testamentsvollstrecker Luz - und Ole, Vater von sechs Kindern. Bei der Vorstellung dieser Figuren werden sie tatsächlich zunächst auf diese sehr unterschiedlichen Charakteristika reduziert. Natürlich kommt der visuelle Aspekt mit dazu, etwaige Akzente usw., aber abgesehen davon, dass Marie auf mich wirkte wie die kleine Schwester von Veronica Ferres (inkl. aller damit einhergehenden Klischees), wollte ich zunächst mal mehr über diese Figuren wissen.

Ich nahm nebenbei eine Menge aufgesetzte Fröhlichkeit war, ärgerte mich über den antiseptischen Greenscreen-Einsatz bei Fahrszenen und ergänzte nach und nach in Hammett-Manier die Namen zu den Figuren. Und dann stellte ich während des Films fest (und da unterscheide ich mich vermutlich von 99,9% der Menschheit), dass wir gerade eine Therapiegruppe kennengelernt haben, die sich aus den Namen Luz, Marie, Naja, Ole und Peter speist. Oder anders gesagt: LMNOP. Sorry, aber da finde ich dann schon, dass das etwas seltsam ist und erkenne erste Drehbuchstrukturen, die für mich nicht unbedingt »das pralle Leben« spiegeln.

Im Presseheft schildert Katharina Wackernagel, was so ihre liebsten Komödien sind, ich mag Komödien auch, aber vieles wirkt hier wie eine holpriges Abziehbild von Bringing up Baby oder What's up, Doc? (das wilde Gewusel im Polizeirevier), wobei überzogener Klamauk und skandinavische Lakonie sich auch nicht automatisch ergänzen. Und bei aller Absurdi- und Skurrilität brauche ich doch etwas mehr als einen wilden Haufen von seltsamen Figuren, geposte Lebensfreude und ein Elchkostüm.

Die interessanteste Idee des Films war für mich die Silhouette eines Rauchers (oder Raucherin?) an einem Fenster in der Nachbarschaft (ein einprägsames, komplett visuelles Bild, ohne aufgesetzten Symbolismus), wenn man das ganze Klimbim (Nymphomanin und Testamentsvollstrecker, klingt doch wie die Klimbim-Familie, oder?) deutlich heruntergefahren hätte und auch mit der Esoterik und dem »prallen Leben« etwas sparsamer umgegangen wäre, hätte man hier womöglich etwas draus machen können. Aber offenbar wollte man ja exakt jenen Film drehen, mit dem ich nur sehr eingeschränkt etwas anfangen konnte.

Katharina Wackernagel wollte laut Interview »mit Raum und Zeit, Logik und den üblichen Sehgewohnheiten spielen und sie bewusst auf die Probe stellen«. Das ist eine sehr positiv formulierte Art, den Film zum umschreiben. Ich fühlte mich als Zuschauer auch »auf die Probe gestellt«, nur mit anderen Vorzeichen.


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  Don't give a Fox (Kaspar Astrup Schröder)

Don't give a Fox
(Kaspar Astrup Schröder)

Dänemark 2019, Buch, Kamera, Graphic Design: Kaspar Astrup Schröder, zusätzliche Kameras: Mathielde Algreen, Maud Lervik Grotland, Frederik Marbell, Schnitt: Michael Bauer, Musik: Martin Dirvok, mit Sofie, Signe, Line u.v.a., 87 Min., Kinostart: 4. Juli 2019

Girls are awesome! Zum Feminismus gehören Zusammengehörigkeitsgefühl und Rebellismus, und wenn man den Feminismus so weit herunterbricht, würde dieser Film ein Nonplusultra dieses Lebensgefühls bieten.

Die Frage, die sich mir dabei stellt (und das ist ein Sakrileg): reicht das schon als Existenzberechtigung für diesen Film? Die jungen Protagonistinnen dieses Films eint als Freistellungsmerkmal neben ihrem Geschlecht die Leidenschaft fürs Skaten. Dies ist eine Sportart, die (wie diverse andere Sportarten) vor allem auf eine maskuline Szene zugeschnitten ist, Frauen werden hier schnell zu belächelten Underdogs. Natürlich sollen auch Mädchen skaten dürfen, und meinethalben darf man darüber auch einen Film drehen... doch...

...ich fände es schon irgendwie viel besser, wenn die Mädels besonderes Talent auf ihren Boards zeigen würden - und der Film ästhetisch oder dramaturgisch überzeugen würde. Leider ist eher das Gegenteil der Fall.

Nach einigen relativ unmotiviert hintereinandergeschnittenen Aufnahmen der skatenden Girls, in unterschiedlichen Formaten und oft unterirdischer Bildqualität setzt die eigentliche »Geschichte« des Films damit ein, das die (zumindest im Film so dargestellte) Anführerin der Gruppe, Sofie, einen Unfall hat, der ihr drei Monate das Skaten versauen wird, und so bricht man gemeinsam in einem pinken Van zu einem Road-Trip auf - und lebt das Gruppengefühl aus.

Man hängt ab, quatscht und musiziert im Auto, lässt eine Gitarre reparieren, nimmt voller Ironie an einem Bingoabend teil (»They're all staring at us. They can tell we're no regulars!«) oder geht shoppen (mit Zeitlupeneinstellung auf dem catwalk!). Rebellion und Feminismus pur, das beweist schon das Involvement der Kampagne »Girls are awesome«.

Irgendwann geht es dann um die sexuelle Orientierung einer der Skaterinnen, Signe, und sie erzählt von ihrem coming out. Ob sie die Individualistin innerhalb der Gruppe ist oder eine Repräsentantin der lesbischen Grundstimmung, wird leider nicht einmal im Ansatz klar. Aber immerhin hat der Film zwischendurch mal ein echtes Thema, dass über eine Folge der Kika-Serie »Die Mädchen-WG« (oder so ähnlich) hinausgeht. Etwas später kommt es zu einem echten Problem, weil der Bus nur noch im vierten Gang fährt. So wie der Film größtenteils im zweiten.

Trotz guter Ansätze (KollegIn Käte lobt mit Recht, dass endlich mal ein Sportfilm auf Zusammenhalt statt Konkurrenz baut) und generell zu begrüßendem Thema ist der Film irgendwie erstaunlich nichtig. Schon der Filmtitel, der auch der Gruppenname ist, bleibt trotz tätowierter Fuchsköpfe unglaublich harmlos in seiner Protesthaltung, es hat erstaunlich lange gedauert, bis ich mir des »riskanten« »Wortwitzes« in Don't give a fox überhaupt bewusst wurde. Der »fox« ersetzt ein anderes Wort, das mit f beginnt...

Um diesen Schock zu beschreiben, fehlen mir die Worte (gähnt, dreht sich auf die andere Seite und schläft weiter).


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  Made in China (Julien Abraham)

Made in China
(Julien Abraham)

Frankreich 2019, Buch: Kamel Guemra, Julien Abraham, Frédéric Chau, Kamera: Julien Meurice, Schnitt: Scott Stevenson, Musik: Quentin Sirjacq, mit Frédéric Chau (François), Medi Sadoun (Bruno), Julie De Bona (Sophie), Steve Tran (Félix), Bing Yin (Meng), Mylène Jampanoï (Lisa), Clémentine Célarié (Annie), Li Heling (Tante Fa), Xing Xing Cheng (Großmutter), William Taing (Stéphane), 87 Min., Kinostart: 18. Juli 2019

Ich bin dafür bekannt, dass ich bei Filmreihen, wo mir ein Teil gegen den Strich geht, auf Folgeteile verzichte, wenn es keine umwälzenden Neubesetzungen in der Regie o.ä. gibt. Also breche ich schon mal nach sechs Filmen die Harry-Potter-Reihe ab, weil man sich partout auf David Yates eingegroovet hat (und ich habe alle Bücher gelesen!), verzichte auf Avengers: Endgame, weil mir Infinity war nichts gab und ich von den Russo-Brüdern schon die Captain-America-Filme nicht mochte oder - Extrembeispiel, aber ich stehe dazu! - verzichte komplett auf 50 Shades of Grey, weil ich schon den allerersten Twilight-Film super-nervig fand und Sado-Maso-Bondage statt Vampire auf mich auch nicht besonders nach einer Verbesserung klingt (dann schaue ich Secretary statt so eines Hochglanz-»Medienereignisses«).

Bei Monsieur Claude (zum besseren Wiedererkennen benutze ich mal den deutschen Titel) und seinen Sequels steige ich auch aus, die französische Multi-Kulti-Komödie generell meide ich, gebe dem Genre aber immer mal wieder eine Chance. Hier klang zumindest ganz interessant, dass die Geschichte des Films von Frédéric Chau (einem der Schweigersöhne des Monsieur Claude) stammen soll. Laut Regisseur Julien Abraham hatte Chau vor dem Einsteigen Abrahams bereits anderthalb Jahre mit Co-Autor Kamel Guemra am Drehbuch gearbeitet, laut Stabangaben im Presseheft erhielt Chau dann aber als Credit nur ein »beruhend auf einer Idee von«, was ich im Normalfall nicht einmal in meine Credit-Abschrift aufnehme. Aber ich habe mal vorsichtshalber auf imdb nachgeschaut, man soll den Presseheften ja nicht alles glauben. Und siehe da...

Bei dieser Art von Multi-Kulti-Komödie (eigentlich missfällt es mir schon, diesen von mir eher positiv konnotierten Begriff zu verwenden) gelingt es den Filmemachern (selbst, wenn sie Migrationshintergrund mitbringen) oft, in unzählige rassistische Fettnäpfchen zu treten. Was für mich aber fast noch schlimmer ist: oft überzeugen die Filme auch nicht als Komödie, sie sind in der filmischen Struktur noch reaktionärer als in ihrer politischen Einstellung à la »Man wird doch mal drüber lachen dürfen«. Oft reicht mir bei solchen Filmen schon der deutsche Filmtitel wie »Ein Dorf sieht schwarz« (zahlreiche andere Titel habe ich verdrängt), um sie weiträumig zu meiden.

Made in China war jetzt im Abspulen blöder ethnischer Klischees nicht ganz so idiotisch wie vergleichbare Filme, aber die vermeintlich emotionale und dramatische Familiengeschichte des Vollblutfranzosen François (Frédéric Chau), der wegen seiner Gesichtsphysiognomie (der »Mandelaugen«) u.a. von seinem besten Freund gegängelt wird, »auf Chinesen« zu machen, um etwa den Konsequenzen einer Polizeikontrolle zu entgehen, war so unglaublich konfliktfrei, dass es schon fast wieder ein Ereignis war.

Wegen eines blöden Missverständnisses herrschten zwischen François und seinem Vater ein Jahrzehnt Funkstille, und jetzt, wo François' Freundin Sophie schwanger ist, will diese nicht auf die andere Familienhälfte ihres zukünftigen Kindes verzichten. Im Kern also die komplette Monsieur-Claude-Kiste, nur ohne den cholerisch-rassistischen Patriarchen, der auch noch als Identifikationsfigur herhalten soll.

Noch stärker als bei Monsieur Claude alias Qu'est-ce qu'on a fait au Bon Dieu? ist hier aber schon die gesamte Geschichte so nichtig, dass ich noch während des Films verkündete, dass ich aus meiner Autobiographie gleich drei spannendere Drehbücher fabrizieren könnte - und das liegt nicht daran, dass mein Grundmaterial dramatischer ist, man macht hier einfach nichts daraus, und ich glaube noch nicht einmal, dass es daran liegt, dass man besonders »authentisch« an der Originalgeschichte kleben wollte.

Die Kernkonflikte der Geschichte sind hier etwa: Vertragen sich Fran√ßois und sein Vater wieder? (und wird man überhaupt erfahren, weshalb sie so zerstritten sind?); Wird sein Deppen-Freund Bruno (Medi Sadoun, ein anderer Schwiegersohn des Monsieur Claude) bei der Quasi-Cousine Lisa ankommen?; Und wird das Kind einen französischen oder chinesischen Namen tragen?

Ich mag gar nicht lange über den Film schreiben, weil er so uninteressant ist. Nur noch ein Beispiel, woran ich festmache, dass die Drehbuchautoren versagt haben: Bei der ersten Szene, in der man François und seine Freundin Sophie zusammen sieht (er hat sie bereits geschwängert und sie teilen sich eine Wohnung), wird auf reichlich ungeschickte Art eingebracht, dass François als Fotograf sein Geld verdient. Sie schaut ihm am Laptop über die Schulter und stellt fest: »Komisch, du fotografierst die Leute immer von hinten!« - er dazu: »Ja, ich mag das!« Die Informationsvergabe (wobei das Wissen um seine künstlerische Eigenart nichts zur Handlung beiträgt) ist gänzlich aufs Publikum abgestimmt, es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum solch ein (ohnehin läppisches) Gespräch nach Monaten des Zusammenlebens stattfinden sollte und nicht in der Kennenlern-Phase. Es sei denn, sie hat sich monatelang kein Stück für seine kreative Arbeit interessiert (denn Leute, die von hinten fotografiert werden, fallen schon etwas auf).

Ich habe jetzt nur die erste Hälfte meiner Notizen zum Film genutzt, aus reiner Langeweile habe ich den Rest noch mal überflogen, und das spannendste Detail dabei war, dass Bruno bei einem Familienfoto gegen Ende jemandem mit Zeige- und Mittelfingern »Eselsohren« macht - wie gesagt, ein Depp, auch eine Art von Figur, die es in frz. Komödien eindeutig zu oft gibt. Und die auch nur sehr bedingt für Humor sorgt.


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  Electric Girl (Ziska Riemann)

Electric Girl
(Ziska Riemann)

Deutschland / Belgien 2018, Buch: Dagmar Gabler, Angela Christlieb, Ziska Riemann, Lucy van Org, Kamera: Hannes Hubach, Schnitt: Fridolin Körner, Musik: Ingo Ludwig Frenzel, Kostüme: Polly Matthies, Animation: Lunanime, mit Victoria Schulz (Mia), Hans-Jochen Wagner (Kristof), Svenja Jung (Lizzy), Björn von der Wellen (Jacob), Irene Kugler (Mias Mutter), Victor Hildebrandt (Mark), Oona von Maydell (Paula), 89 Min., Kinostart: 11. Juli 2019

Ganz besondere, spezielle Abgründe der Hölle können sich manchmal auftun, wenn Comiczeichner (oder -Zeichnerinnen) sich selbstverantwortlich im Bereich Film austoben dürfen, und sie dabei bestimmte knallbunte, realitätsferne Gefilde ausloten, die in jenem anderen Medium vielleicht noch eine gewisse Existenzberechtigung verzeichnen, nun aber zum Quadrat verzerrt über dem Betrachter einbrechen.

Ich denke dabei vorrangig an Frank Millers The Spirit (Friede der Asche Will Eisners), aber auch an Marjane Satrapis The Voices oder (to a lesser degree) einige Werke von Enki Bilal. Vermutlich gibt es noch mehr, was ich aber erfolgreich aus meinem Hirn verbannt habe. Zur Trauma-Verhinderung setzen da ja mitunter psychologische Mechanismen ein, weshalb bei mir auch nicht die Alarmglocken beim Namen Ziska Riemann schellten, obwohl ich aufgrund der Co-Autorin Lucy van Org tatsächlich noch einige Erinnerungen an den ebenfalls schrecklichen Lollipop Monster durch die Hirnwindungen blitzen sah.

Ziska Riemann (vermutlich nicht verwandt mit einer gewissen Katja) wurde einst bekannt als Comic-Mündel von Gerhard Seyfried, der durch das junge Talent eine Frischzellenkur erfahren haben muss. Ich habe nie einen Comic von Ziska Riemann gelesen, kann mir also kein Urteil erlauben, aber ihre zwei Filme geben mir das Gefühl, dass ich mit ihrem graphischen Werk auch nicht viel anfangen könnte.

In Electric Girl geht es um Studentin / Kellnerin / Poetry-Slammerin Mia (Victoria Schulz), die mit dem Synchron-Job für zehn Staffeln der japanisch angehauchten Animationsserie Kimiko ihre eher wacklige Finanzlage deutlich festigt (fortan greift sie gern mal in eine Tasche und schmeißt zerknüllte 50-Euro-Scheine um sich), doch sehr schnell gerät sie in den Bann der japanischen Superheldin und verliert zunehmend ihren Realitätsbezug.

Irgendwann rennt sie wie ein blauhaariges 1,60-Küken, das zu viel Brausetabletten geschnieft hat, durch die Gegend und will mit Superhelden-Posen Tokio retten - obwohl der Film fast komplett in Hamburg spielt.

Das man sich mit bunten Bildern und Anime- und Cosplay-Anleihen bei einem jungen Publikum anbiedern will, würde ja noch fast durchgehen, wenn der Film nicht an so vielen Stellen unfreiwillig komisch daherkäme. Die Besetzung der Mia mit der durchaus begabten Victoria Schulz (aus Dora - oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern) leidet stark darunter, dass es wie verunglücktes Typecasting wirkt: Abermals muss die junge Frau sich in überzogener Euphorie und eingeschränkter Wahrnehmung ihres Umfelds üben, wobei die Zitate aus der Kimiko-Serie ähnlich hilfebedürftig wirken wie ihre selbstgedichteten Versuche in Sachen Poetry Slam.

Wenn sie sich bei ihrer zweiten Synchronaufnahme mit einem deutlich jüngeren Kollegen im nerdigen Diskutieren des Kimiko-Kosmos übt, hat man noch Hoffnung im Film, auch der grenzwertige Nachbar Kristof (Hans-Jochen Wagner), eine Art verlotterter Pastewka mit Stoppelbart und Feinrippunterhemd, könnte vielleicht irgendwas retten beim Film, aber gerade dieses »Retten«, das immer wieder zum Thema gemacht wird, wird konsequent in einer ästhetisierten Zeitlupe zelebriert, die an nerviger Dusseligkeit kaum zu überbieten ist. Ob man durch Pfützen patscht, eine lächerliche Schranke durchfährt oder es schafft, dass sich bei einem 89-Minuten-Film das letzte Viertel wie zwei zähflüssige Stunden anfühlt, Electric Girl macht fast überall, wo man das Gefühl hat, hier mussten inszenatorische Entscheidungen getroffen werden, nahezu alles falsch.

Der Kernkonflikt des Films zwischen Fantasiewelt und Realität wird konsequent zu einer unvermeidlichen Kollision hingeführt, doch danach geht der Film noch eine gute halbe Stunde weiter und vermeidet unbeirrbar alles, was irgendwie Konsequenzen ähneln könnte.

Beim Showdown hätte ich alles drauf verwettet, dass die eingebildete (?) Superhelden mit den Worten »Wenn es gelb wird, muss ich springen« von einem Hausdach hüpfen würde, was dann in einem Freeze-Frame à la Thelma & Louise aufgelöst wird. Doch es kam noch so viel schrecklicher...

Wenn Mia übrigens mehrfach im Film ihre Umwelt mit den Worten »ihr seid so asynchron« abqualifiziert, dann wirkt es wie ein besonderer Hohn, dass Mia gleich bei den allerersten Synchronaufnahmen selbst asynchron war - nicht bei der Ausübung ihres Jobs, sondern was ihre eigenen Lippenbewegungen angeht. Womöglich ist da noch ein tiefschürfender Diskurs versteckt, aber - wie gesagt - nichts kann diesen Film noch retten. Er will nicht mal gerettet werden, sondern sieht sich vermutlich in einer abstruses Märtyrer-Rolle.


Demnächst in Cinemania 205:
Rezensionen zu aktuellen Kinostarts (noch komplett unklar, welche).