Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern
(Stina Werenfels)
Schweiz / Deutschland 2014, Buch: Stina Werenfels, Boris Treyer, Lit. Vorlage: Lukas Bärfuss, Kamera: Lukas Strebel, Schnitt: Anderegg, mit Victoria Schulz (Dora), Jenny Schily (Kristin), Lars Eidinger (Peter), Urs Jucker (Felix), 90 Min., Kinostarts: 21. Mai 2015
Es gehört heutzutage schon einiges dazu, um inmitten des Berlinale-Angebots noch aufzufallen. Insbesondere als deutschsprachiger Film, der nicht einmal im Wettbewerb startet. Dora hat das geschafft. Durch eine Story, die interessante Fragen über Moral und Selbstbestimmung aufwirft (nach einem Theaterstück von Lukas Bärfuss). Durch eine nahezu todesmutig auftretende junge Nachwuchsdarstellerin. Und durch eine Filmemacherin, die etwas zu erzählen hat und dabei auch Mittel findet, ihre Aussage inszenatorisch »an den Mann zu bringen«.
Die 18jährige Dora (Victoria Schulz) ist geistig etwas zurückgeblieben (oder wie das aktuelle politisch korrekte Blabla dafür lautet), ist aber durch ihre Volljährigkeit nun in der Lage, ihre Sexualität auszuleben. Oder erstmal zu »erforschen«, aber in diesem Bereich scheint Dora schnell zu lernen, was natürlich auch damit zusammenhängt, dass ihr gewisse Beklemmungen, die die Gesellschaft jedem Heranwachsenden jahrelang einimpft, mehr oder weniger komplett fehlen. Damit läuft Dora aber auch Gefahr, verletzt zu werden (physisch wie psychisch), und ihre Eltern, die sich 18 Jahre lang oft intensiver um sie kümmern mussten als es ihnen vielleicht recht war, sind nicht bereit, sie von heute auf morgen einfach alles selbst entscheiden zu lassen. Auch, weil Doras erster Lover ein eher unverantwortungsloser bis rücksichtsloser Kerl ist (Lars Eidinger als »Privatdozent für Wirtschaftsmathematik« ist in seiner Darstellung auch recht mutig), dem sein und ihr Spaß wichtiger ist als Grundsatzdiskussionen mit den Eltern. Dummerweise gesellt sich zu diesen Problemkomplexen (die Eltern haben auch ohne Dora einiges um die Ohren) auch noch die allgemein angenommene Regel, dass man sich als mündiger Bürger um vieles eigenständig kümmern sollte, nicht zuletzt auch die Schwangerschaftsverhütung.
Bildmaterial © 2015 Alamodefilm
Mit diesem Abriss hat man schon einen ziemlich guten Einblick in die Themen des Films und die Probleme der Figuren. Und hier und da geht es noch weitaus stärker ans Eingemachte.
Dass der Film dezidiert die Position Doras übernimmt (und das ist in Filmen mit Behindertenthemen die absolute Ausnahme, selbst Still Alice fiel durch diese Perspektive noch auf), wird in der Inszenierung durch subjektive Kamera und analytisch gesehen etwas einfach wirkende gewollte Unschärfen bewerkstelligt, die aber nicht etwa die Figur verunglimpflichen, weil sie implizieren, dass Dora nur Teilaspekte ihrer Umwelt wahrnimmt, sondern fast im Gegensatz dafür sorgen, dass der Blick Doras, den man als Zuschauer übernimmt, die Welt fantastischer, spannender und beschwingter erscheinen lässt.
Bildmaterial © 2015 Alamodefilm
Ähnlich wie jüngst in The Voices geht dieser Inszenierungsstil Hand in Hand mit einer ausgesetzten Medikation Doras – nur dass hier dadurch aus dem Film keine bonbonbunte Fantasiewelt wird, die im harten Kontrast zu einem Horrorthriller steht. Als Zuschauer ist man sich der verschiedenen Bewusstseinsebenen und der moralischen Probleme weitaus bewusster – man bekommt aber dennoch den Freiraum, sich in der Geschichte zu verlieren. Bis dann mal wieder ein Moment kommt, der von den Horrorszenen um den durchgedrehten Ryan Reynolds doch nicht so weit entfernt ist – nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass man hier immer auf der Seite Doras ist. Sie selbst ist das prinzipielle Opfer ihrer Aktionen. Bis zum Zeitpunkt ihrer Schwangerschaft, wodurch jemand anderes in eine potentielle Opferrolle aufrückt.
Bildmaterial © 2015 Alamodefilm
Mitreißend ist an dem Film, wie sich die Geschichte entwickelt, man mit Doras Neugier mitempfindet und schneller als man ahnt in einen gewissen Sog hineingerissen wird. Der Subplot um Mutter Kerstin (Jenny Schily) wirkt indes – vor allem im Vergleich zur »Hauptgeschichte« – eher wie eine Ablenkung, die zwar auch ihre filmischen Höhepunkte hat, aber eben zu einem kleinen Fokusverlust führt.
Bildmaterial © 2015 Alamodefilm
Zu diesem Film habe ich mir vier Seiten Notizen gemacht. Eng beschrieben – wenn ich das nur abtippen würde, wäre es vermutlich zwei- bis dreimal so lang wie diese Kritik. Und fast alles, was ich mir damals notiert habe, ist interessant genug, um es hier detailliert zu beschreiben. Doch wenn ein Film gut ist, will man ja nicht alle guten Stellen ausplaudern, der Zuschauer soll auch noch was entdecken können. Und davon gibt es in prallgefüllten 90 Minuten eine Menge. Einer der zwei, drei unverzichtbaren deutschsprachigen Filme, die es in guten Jahrgängen in die Kinos schaffen.