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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




28. Februar 2015
Thomas Vorwerk
für satt.org
Berlinale 2015




Vorwerks Berlinale Top 20
(30 Lang- und 23 Kurzfilme gesichtet)
  1. Snow White and the Seven Dwarfs (Alan Hand, 1937, Retrospektive)
  2. The Forbidden Room (Guy Maddin & Evan Johnson, Forum)
  3. The Diary of a Teenage Girl (Marielle Heller, Generation 14plus)
  4. The Naked Spur / Nackte Gewalt (Anthony Mann, 1953, Retrospektive)
  5. Angelica (Mitchell Lichtenstein, Panorama)
  6. The Face of Ukraine: Casting Oksana Baiul (Kitty Green, Kplus Kurzfilme)
  7. Petting Zoo (Micah Magee, Panorama)
  8. Videojuegos / Videogames (Cecilia Kang, Kplus Kurzfilme)
  9. Giovanni en het Waterballet (Astrid Bussink, Kplus Kurzfilme)
  10. Cobain: Montage of Heck (Brett Morgen, Panorama)
  11. Kacey Mottet Klein: naissance d'un acteur (Ursula Meier, Kplus Kurzfilme)
  12. Love & Mercy (Bill Pohlad, Berlinale Special)
  13. The Three Musketeers (George Sidney, 1948, Retrospektive)
  14. Gukje Shijang / Ode to my Father (JK Youn, Panorama)
  15. 14+ (Andrey Zaitsev, Generation 14plus)
  16. Mot naturen / Out of Nature (Ole Giæver, Panorama)
  17. Antboy: den røde furies hævn (Ask Hasselbalch, Generation Kplus)
  18. Hedi Schneider steckt fest (Sonja Heiss, Forum)
  19. Flocken / Flocking (Beata Gårdeler, Generation 14plus)
  20. Dissonance (Till Novak, Berlinale Shorts)



Cinemania-Logo 128:
Nackte Gewalt im Kuschelzoo


◊ ◊ ◊

The Naked Spur
(Anthony Mann, Retrospektive)

USA 1953, Dt. Titel: Nackte Gewalt, Buch: Sam Rolfe, Harold Jack Bloom, Kamera: William Mellor, Schnitt: George White, Musik: Bronislau Kaper, mit James Stewart (Howard Kemp), Janet Leigh (Lina Patch), Robert Ryan (Ben Vandergroat), Ralph Meeker (Roy Anderson), Millard Mitchell (Jesse Tate), 91 Min., Kinostart: 8. Dezember 1953

Von 1950 bis 55 drehte James Stewart acht Filme mit Anthony Mann als Regisseur, darunter fünf Western (Winchester '73, Bend of the River, The Naked Spur, The Far Country und The Man from Laramie). Stewart drehte in seiner Karriere mehr als ein Dutzend Western, aber da das Genre viel an Ansehen verloren hat, verbindet man den Schauspieler eher mit Capra-Komödien und Hitchcock-Thrillern.

Vielleicht liegt es daran, dass ich aktuell einige Romane von Richard Stark gelesen habe, aber das clevere Drehbuch von The Naked Spur erinnert mich sowohl an den Kriminellen Parker (obwohl der mit Kopfgeldjagd wenig am Hut hat) als auch an John Hustons The Treasure of the Sierra Madre: Die Gier des Menschen nach Geld sorgt dafür, dass aus einer Zusammenarbeit oft eine Konkurrenzsituation wird. »Quit acting like we're all friends!« »Plain arithmetics: money splits better two ways«. In einer Handlung, die bis auf ein paar Indianer nur fünf Personen involviert, geht es vor allem darum, wie die unterschiedlich »moralisch instabilen« Herren sich gegenseitig auszutricksen versuchen, wobei Robert Ryan als der, dessen Konterfei auf dem Steckbrief prangt, vor allem damit beschäftigt ist, die anderen gegeneinander auszuspielen, Misstrauen zu säen und sie aufeinander loszujagen. Wobei er auch in seiner weiblichen Begleitung (Janet Leigh) vor allem einen Keil sieht, den man zwischen die anderen treiben kann: »The best thing on our side is your pretty face.«

The Naked Spur (Anthony Mann)

Quelle: George Eastman House, Rochester, © 1953 Turner Entertainment Co.   

Da es anfänglich noch durchaus denkbar ist, dass Ryan trotz Steckbrief unschuldig sein könnte und somit ums nackte Überleben kämpft, macht es Spaß, dabei zuzuschauen. Einerseits ist der Film extrem dramatisch aufgebaut (allein die Musik!), andererseits gehen die Kontrahenten auch vergleichsweise nett und fair miteinander um. Wenn Ryan dafür sorgt, dass der bereits mit einem Beinschuss angeschlagene Stewart vom Pferd fällt, und zwar gleich eine nicht ungefährlich wirkende Böschung herab, klettert der nicht besonders heldenhaft erscheinende Stewart einfach wieder hoch und schaut böse, in der ersten direkten Konfrontation des Films ist es sogar so, dass sich zwei Gegner angrinsen, als träfen sich Brüder, die sich 20 Jahre nicht gesehen haben. Nur dass man eben die Hand am Colt hat.

Die vorhersehbare Lovestory zwischen Stewart und Janet Leigh hat immerhin den Vorteil, dass sie das Stockholm-Syndrom und den Florence-Nightingale-Effekt auf kongeniale Weise kombiniert: Sie ist als Gefährtin des Gesuchten Quasi-Gefangene, ist aber bei seinem Beinschuss die Krankenschwester, die über Nacht an seinem Schlafsack wacht. Ganz so hart, wie der Film sein könnte, wird es fast nie, der auf Hinterhalte mit Gesteinslawinen spezialisierte Ryan hat ein wenig zu oft praktikable Studiobauten zur Seite, aber solange die Anzahl der Konkurrenten sich nicht verringert, bleibt das (Un)Gleichgewicht der Kräfte interessant, und die Spielfreude der Darsteller wirkt ansteckend.

Dass ich den Film mag, wusste ich eigentlich ab der ersten Einstellung: in weiter Ferne ein schneebedeckter Berg am Horizont, während die Darstellernamen in typischer Westernschrift eingeblendet werden. Und als es dann an der Reihe ist, den Titel zu offenbaren, kommt ein Kameraschwenk mit reißerischer Musik und man sieht den »nackten« Sporn (laut Duden die Einzahl von Sporen, die im Western ja meist sternförmig sind) an der Hacke von Jimmy Stewart, der sich im Verlauf des Films tatsächlich auf etwas seltsame Weise diesen Titelcredit verdient.

Selbst bei Millard Mitchell in der Rolle des kauzigen alten Sidekicks, wie ihn in Western häufig Walter Brennan spielte, ist es eine Freude, ihm bei der Arbeit zuzuschauen. Wie er mit seinem Maultier spricht und mit dem Leben hadert, weil er bei der Goldsuche einfach kein Glück hat. »I've seen fellas too drunk to walk fall on their face and find gold – but never me!«

Wenn James Stewart am Ende des Film nicht allen Star-Klischees entsprochen hätte und der Film mit dem Satz »Maybe I don't fit your ideas of me, but that's who I am« geendet hätte (und ob Janet leigh sich darauf eingelassen hätte, ist eigentlich egal), wäre fast ein kleines Meisterwerk daraus geworden, aber gegen Ende lösen sich die Konflikte des Plots viel zu gefällig auf. Aber die ersten zwei Drittel von The Naked Spur sind so stark, dass ich darüber fast hinwegsehen kann.

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Petting Zoo
(Micah Magee, Panorama)

Deutschland / USA / Griechenland 2015, Buch: Micah Magee, Kamera: Armin Dierolf, Schnitt: Chris Wright, Illustration, Titel: Kim Köster, Kostüme: Joshua Hurt, mit Devon Keller (Layla Peck), Austin Reed (Aaron), Deztany Gonzales (Melanie), Kiowa Tucker (Danny), Adrienne Harrell (Grandma), Chris Olson (Laylas Vater), Jocko Sims (Mr. Brandenburger), Emily Lape (Tante Jeanie), Cory Criswell (Onkel Doug), 92 Min.

Das Drehkonzept von Petting Zoo ist schnell beschrieben: ein kleines Team filmt richtige Menschen in ihrem eigenen Umfeld. Hauptdarstellerin Devon Keller wurde innerhalb eines großen Casting-Aufwand eher zufällig entdeckt, weil sie bei einer Fashion Show an der alten Highschool der Regisseurin im Publikum saß. Die 16jährige und ihre Mutter mussten dann zwei Monate lang überzeugt werden, und die Leistung der »Nicht-Schauspielerin«, die an Judy Greer und Sarah Polley erinnert, zeichnet sich eine Mischung aus Fragilität und Selbstbewusstsein in der Rolle aus.

Die 17jährige Layla (Devon Keller) hat gerade erfahren, dass ihre Bewerbung für ein College-Stipendium erfolgreich war. Das könnte für sie den Ausbruch aus ihrem hoffnungsarmen Leben bedeuten, denn aktuell lebt sie in einer nicht sehr behüteten oder begüterten Patchwork-Familie bei ihrer Großmutter und arbeitet in einem Call-Center. Man lernt sie kennen, als sie die Brücken hinter sich zu verbrennen scheint. Sie kündigt, verschwindet öfters mitten in der Nacht aus ihren Übernachtungsmöglichkeiten, wozu auch ihr Freund Danny gehört, mit dem sie schließlich Schluss macht, implizit, weil sie erkennt, dass der mit ihren Zukunftsplänen nur schwer zu vereinbaren ist. Und in dieser Situation stellt sie fest, dass sie schwanger ist, was ihre neuen Zukunftspläne gehörig durchkreuzt.

Petting Zoo (Micah Magee, Panorama)

Das texanische San Antonio ist die Gemeinde mit der zweithöchsten Rate an Schwangerschaft von Teenagern innerhalb der USA. Regisseurin Micah Magee kommt auch hierher und zählt sich zu dieser Gruppe. Und für ihren Film hat sie recherchiert, welche Konsequenzen das typischerweise mit sich bringt.

Und so drängt Laylas Familie sie, nicht abzutreiben (der Onkel wird fast handgreiflich und sie flieht mal wieder), und nach und nach findet sie sich mit ihrer neuen Lebensplanung ab, beginnt einen neuen Job, verzichtet auf die College-Laufbahn – und lernt sogar einen jungen Mann kennen, der weitaus mehr Verantwortungsbewusstsein zeigt als ihr früherer Freund.

Die Story entwickelt sich noch mit ein paar weiteren Schicksalsschlägen, die sich zwischen cleveren Drehbuchfinten und realistischen Komplikationen abspielen. Im Interview nach dem Film erklärt die Regisseurin (zwischenzeitig mit ihrem dritten Kind auf dem Arm und dem liebenswerten Hund Jackson im Gefolge), dass man laut Skript 193 Szenen geplant hatte, von denen dann nur 86 im Film belassen wurden. Und von diesen 86 sind einige wirklich bemerkenswert. Beispielsweise die Szene im Krankenhaus: Lange Zeit kein Arzt, kein Blut, kein Schweiß, aber dennoch emotional herausragend und in der gefühlskalten Darstellung des amerikanischen Gesundheitssystems niederschmetternd.

Eine Szene, die gut verdeutlicht, wie clever das Drehbuch durchdacht ist, obwohl vieles so zufällig wirkt, zeigt Layla beim Fahrtraining unter Aarons Anleitung: das erste Anfahren gelingt überraschend problemlos, nach anfänglicher Euphorie stimmt man sich auf ein schwungvolles Tempo ein – bis dann nach einer scharfen Bremsung das obligatorische »Absaufen« von Fahranfängern folgt. Und die gesamte Transaktion reflektiert detailgenau die Beziehung zwischen den beiden, obwohl der Film an keiner Stelle auf diese Parallele hinweist.

Da neben der Austin Film Society und der griechischen Mentorin Athina Rachel Tsangari (Attenberg) hat auch die DFFB und das Medienboard Berlin-Brandenburg zum Zustandekommen des Films beigetragen, und so kann man wohl hoffen, dass auch ein deutscher Kinostart ansteht, auch wenn die zahlreichen Jurys auf der Berlinale den Film sträflich übersehen haben. Ich war auch etwas enttäuscht, dass der Film nicht in der zunehmend eingeschläferten »Cross-Section« mit dem 14plus-Programm gezeigt wurde. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach der vielversprechendste Debütfilm im Programm.

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Gukje Shijang
(JK Youn, Panorama)

Südkorea 2014, Intern. Titel: Ode to my Father, Buch: Park Soo-jin, Kamera: Choi Young-hwan, Kim Hyung-seok, Schnitt: Lee Yin, Musik: Lee Byeong-woo, Kostüme: Kwon Yoo-jin, Rim Seung-hee, Production Design: Ryu Seong-hie, Maske: Son Eun-ju, mit Hwang Jung-min (Yoon Duk-soo), Yunjin Kim (Young-ja), Oh Dal-su (Dal-gu), Jung Jin-young (Duk-soos Vater Jin-gyu), Jang Young-nam (Mrs. Yoon, Duk-soos Mutter), Uhm Ji-seong (Duk-soo als Kind), Jang Dae-woong (Dal-goo als Kind), Shin Rin-ah (Mak-soon), Ra Mi-ran (Duk-soos Tante Kkotbun), Kim Seul-gie (Kkeut-soon), Hong Seok-yeon (Duk-soos Onkel), Park Seon-woong (Kim Bong-nam), Nam Jin-bok (Chung Ju-yung), Jung Yun-ho (Nam-jin), 126 Min.

Gukje Shijang heißt wörtlich übersetzt »International market« und bezeichnet den Straßenmarkt für Importwaren in Busan, in dem der greise Duk-soo (Hwang Jung-min mit unübersehbarem Alters-Make-up) mit seiner Frau einen heruntergekommenen Laden namens »Kkotbun's« betreibt, obwohl alle Nachbarn (und die Kinder) die beiden drängen, diesen längst nicht mehr zeitgemäßen Schandfleck zu schließen und sich zur Ruhe zu setzen. Nennenswerte Einnahmen bringt der Laden schon länger nicht mehr.

Die eigentliche Geschichte setzt ein, als Duk-soo mit einem seiner Enkelkinder ein wenig spazieren geht und dabei fällt. In der Montage wird offensichtlich, dass ihn die Situation an ein traumatisches Erlebnis mit einem anderen kleinen Mädchen erinnert und so wird seine Lebensgeschichte erzählt, beginnend mit der Flucht als kleiner Junge aus dem nordkoreanischen Hungnam gegen Ende des Koreakriegs 1951. Während ein verheerender Luftangriff der Chinesen droht, den Küstenort dem Erdboden gleichzumachen, versucht eine Schar von Flüchtlingen, einen Platz auf einem der großen Schiffe der US Navy oder anderen Booten, die den Hafen verlassen zu bekommen. Duk-soos Eltern haben es mit vier kleinen Kindern, von denen der ca. 6jährige der Älteste ist, nicht einfach in den panischen Menschenmengen und schließlich ist man gezwungen, über ein Kletternetz eine Schiffswand zu erklimmen. Duk-soo ermahnt seine kleine Schwester Mak-soon, sich gut festzuklammern auf seinem Rücken, denn dies ist kein Spielplatz. Die Hand eines anderen um sein Überleben kämpfenden Flüchtlings zieht an dem Kind und plötzlich hält Duk-soo nur noch den Ärmel des Kleides, das seine Schwester trug, in der Hand. Zuvor sah man schon andere Flüchtling bei diesem beschwerlichen Kletterakt abstürzen und wie in James Camerons Titanic auf den harten Rand eines Ruderboots aufschlagen und danach im Wasser verschwinden. Duk-soos Vater will nach der verschwundenen Tochter suchen und schärft dem Sohn in einer zentralen Stelle ein, dass dieser, falls der Vater nicht wiederkommen sollte, nun das Familienoberhaupt sei, ein Moment, den man so auf dem Plakat zu Ode to your Father wiederfindet, und der in diesem dramatischen Umfeld gut verdeutlicht, wie hier ein Melodrama mit so viel Taschentuch-Potential wie sechs Stunden Bollywood vermengt wird mit einem echten Blockbuster mit fettem Budget, Massenszenen, Bauten, Actionsequenzen und auch so manchem clever eingebautem CGI-Effekt.

Gukje Shijang (JK Youn, Panorama)

Bildmaterial © CJ Entertainment   

Die naheliegendste Inspiration für den Film ist sicher Forrest Gump. Gleich in der Einstiegsszene, die den Gukje Shijang zeigt, fliegt ein Schmetterling über den Markt und knüpft eine Verbindung zum Wohnhaus der Familie, wo eine Geburtstagsfeier bevorsteht. Ganz wie die CGI-Feder zu Beginn von Robert Zemeckis' Film mit Tom Hanks. Zwar ist Duk-soo kein Einfaltspinsel wie Forrest, doch auch seine Biographie vermengt sich immer wieder mit wichtigen historischen Ereignissen und er hat auch ähnliche Zusammentreffen mit Prominenten, auch wenn er keinem US-Präsidenten die Hand schüttelt, sondern beinahe eine Anstellung bei späteren Hyundai-Chef Chung Ju-yung bekommt oder im Vietnamkrieg (!) auf den »koreanischen Elvis« Namjin trifft (dargestellt vom aktuell ähnlich beliebten Popstar Jung Yun-ho in einer kleinen Gastrolle).

Im Grunde funktioniert Ode to my Father wie ein aufwendiger Spielberg-Streifen, nur dass man hierzulande mit der koreanischen Geschichte nicht so vertraut ist wie mit der amerikanischen und man deshalb die kleinen Insider-Jokes deutlicher betonen musste (der Film ist zwar national ein Kassenschlager, aber man hatte offensichtlich auch das internationale Publikum im Blick und gibt diesem die Chance, die Gastauftritte zu verstehen). Selbst, wenn man vielleicht nie vom 2010 verstorbenen Mode-Designer André Kim gehört hat und erst recht nicht weiß, dass der gebürtig Kim Bong-nam hieß. Wenn da ein überkandidelt auftretender Kunde auf der Suche nach einer »exotisch-abnormalen« Stoffbahn auftritt und wie nebenbei prophezeit, dass »in unserer Generation die Zersetzung der Geschlechterrollen ein wichtiges Thema sein wird«, dann weiß man als Zuschauer ganz sicher, dass dies eine bekannte Person des öffentlichen Lebens ist.

Für die Film aber noch wichtiger sind die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Etappen im Leben Duk-soos. Da gibt es etwa eine Szene als kleiner Junge in Südkorea, wo GIs ihm eine Tafel Schokolade schenken, und etwas größere Kinder ihn und einen Klassenkamerad, der sich danach zu seinem besten Freund entwickelt, verfolgen und schlagen, um die Schokolade zu klauen. 15 Jahre später wiederholt sich diese Szene und er ist derjenige, der ein Kind mit einer Ersatztafel Schokolade tröstet. Und das erweist sich später als lebensrettend.

Oder das traumatische Erlebnis mit der Schwester: die komplette Situation wiederholt sich im Vietnamkrieg. Man könnte jetzt kritisieren, dass das nicht besonders subtil ins Drehbuch eingearbeitet ist, aber ich für meinen Teil war an dieser Stelle des Films schon ziemlich gefangen in der Handlung. Vor allem auch, weil ich nach den aufregenden Erlebnissen in Duisburg, wo Duk-soo als Minenarbeiter seine spätere Frau Young-ja trifft (Yunjin Kim, dass der Nachname hinten steht, verdeutlicht schon, dass sie inzwischen ein internationaler Star ist, beispielsweise in der Fernsehserie Lost). In Duisburg passiert schon so einiges, und man gewinnt die Figuren lieb, auch den etwas großkotzigen Dal-gu (Oh Dal-su), der vor allem deshalb mit seinem Freund mitkam, weil ausländische Frauen sich durch »physikalische Entwicklungen« (ich bin mir nicht mehr sicher, ob es an der Stelle eine typische Handbewegung gab) und einen »freien Geist« auszeichnen. Einfach übersetzt: der Möchtegern-Elvis in der roten Lederjacke bekommt in Korea nicht genug Action – verschaut sich dann aber in Duisburg ausgerechnet in eine koreanische Aufpasserin, die sexuell so aggressiv auftritt, dass er um Gnade fleht. Das Tolle an dem Film ist, dass er zwischendurch mal mit plattem Humor wie aus Eis am Stiel auftrumpfen kann, dann aber wieder zu Melodrama und Action zurückfindet. Und ich muss zugeben, dass ich mir nach der Duisburg-Phase (mit vielem nicht 100%igem Deutsch, was mich aber nur erheiterte, weil man das in teuren US-Produktionen auch meistens nicht richtig hinbekommt) einbildete, der Film nähere sich seinem Ende, weil schon so viel passiert war. Aber was hier an Handlung in knapp über zwei Stunden Lauflänge gequetscht wird, ist schon erstaunlich. Und wie man recht einfallsreich immer wieder zwischen den Zeitebenen hin und her springt, zeugt von der Qualität und dem schieren Ausmaß dieses Films.

Und irgendwie gelingt es dem mächtigen Drehbuch, am Ende alle Handlungsstränge so zusammenzuführen, dass eigentlich jedes Detail und jede Episode ihre Bedeutung erhält. Ich bin kein großer Fan von melodramatischen Familienzusammenführungen und musste auch nicht zum Taschentuch greifen, aber dieser Film hat mich auf eine Art gefesselt, wie es Spielberg und Konsorten in diesem Jahrtausend noch nicht geschafft haben (und Forrest Gump übrigens auch nicht – nicht einmal ansatzweise!). Alles eine Spur fett aufgetragen, aber für mich war das okay. Nein, besser als okay – wirklich mitreißend. Vielleicht, weil die Story und ihre Inszenierung so gut zusammenpassen.

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Flocken
(Beata Gårdeler,
Generation 14plus)

Intern. Titel: Flocking, Schweden 2015, Buch: Emma Broström, Kamera: Gösta Reiland, Schnitt: Linda Jildmalm, Musik: Lisa Holmqvist, mit Fatime Azemi (Jennifer), John Risto (Alexander), Jakob Öhman (David), Eva Melander (Susanne), Malin Levanon (Mia), Henrik Dorsin (Tony), 110 Min.

Am tiefsten beeindruckt hat uns ein Film, der seine bedrückende Spannung durchgängig hält. Eine Beschuldigung setzt eine voranschreitende Ausgrenzung in Gang, deren Mechanismen der Film präzise und intensiv erfahrbar macht. Überzeugend stellt er dabei die Rolle der Social Networks dar, in denen die Anonymität zu einem ungehemmten Aufbau von Aggressionen führt. Die unerwartete Entwicklung der Geschichte, fesselnde Dialoge und das großartige Schauspielensemble schaffen ein grandioses Gesamtwerk.

So lautet die Laudatio der Teenagerjury, die dem Film den Gläsernen Bären im Bereich 14plus zusprach. In Flocken geht es um eine Vergewaltigungsanzeige der 14jährigen Jennifer (Fatime Azemi). Und um die Reaktion der Gemeinde. Denn der Täter soll ihr Klassenkamerad Alexander (John Risto) sein, und der ist nicht nur in den Augen seiner umtriebigen Mutter über jeden Zweifel erhaben. Alexanders Vater leitet einen Schlachtereibetrieb, bei dem ein Großteil der Bevölkerung beschäftigt ist. Jennifers Background indes wird mit »White Trash« umschrieben. Im Internet heißt es beispielsweise »Sie ist eine Nutte wie ihre Mutter«.

Flocken (Beata Gårdeler)

Bildmaterial © Dan Jåma   

Soziale Unterschiede dürfen natürlich nicht über Rechtsfragen entscheiden, aber das Perfide an Flocken ist, dass das allgemeine Mobbing Ausmaße annimmt, die die eigentliche Tat fast in den Hintergrund drängen. Beim Schwimmunterricht wird Jennifer untergetaucht und keiner »hat etwas gesehen«, ihre kleine Schwester bleibt beim Fußballspiel nur auf der Bank, Kleinigkeiten, die immer größere Kreise ziehen, und irgendwann zieht der Dorfmob mit Halloween-Masken durch die Nacht und an die Hauswand schmiert man »Whores are for raping«. Man muss sich mal vor Augen führen, wie krank diese Ausartungen relativ schnell werden, und die bedrückende Atmosphäre zieht sich durch den ganzen Film, auch durch Bereiche, in denen sie eigentlich nichts zu suchen hat. Und da fragt sich immer mal wieder, wie weit der Einfluss von Alexanders Familie eigentlich geht. So muss Jennifer ihre Aussage auf dem Polizeirevier einem Mann gegenüber machen (»Do you remember what pants you were wearing?«), selbst der Priester, der zu Beginn noch meinte, Jennifer könne mit allen Sorgen zu ihm kommen, entlässt sie aus ihrem Putzjob, und eine Gleichaltrige, die zunächst wie Jennifers beste Freundin wirkte, fasst es beispielsweise so zusammen: »You sure don't look like you've been raped!« (als wenn sie da Expertin wäre und jede Frau exakt auf die selbe Weise reagiert).

Dabei ist es so, dass man als Zuschauer, wenn man sich die ersten Szenen des Films, bei einer Hochzeit, noch mal vor Augen führt, durchaus psychologische Vorgänge erkennen kann, die zu der Tat genauso gut passen wie die von der Polizei festgestellten Blessuren. Aber stattdessen wird Jennifer immer mehr ausgegrenzt, und im letzten Drittel des Films eskaliert so einiges.

Für meinen Geschmack sind einige eher subtile Szenen (Alexanders Mutter legt ihrem Sohn ein paar Gurkenscheiben auf seine Käsestulle) viel gelungener als der »Showdown« mit einer Parallelmontage zwischen einer Kirchenszene und Jennifer, die eine Schrotflinte sucht. Ich bin zwar mit dem Ende des Films nicht wirklich zufrieden, aber der Film als Ganzes ist stimmig und besonders überzeugt, dass auch die Probleme Alexanders beleuchtet werden.

Womit ich aber ein ziemliches Problem hatte, das war die Gerichtsverhandlung. Das Urteil ist für den Film natürlich sekundär, weil es um ganz andere Fragen geht, aber für meinen Geschmack funktionierte im Gerichtssaal einfach einiges, und das kann man nicht einfach mit dem Desinteresse von Autorin und Regisseurin abtun. Da gibt es mal einen plötzlichen Wechsel darin, wer eigentlich befragt wird (vielleicht hat hier auch nur die Montage versäumt, klarzustellen, dass zwischendurch Zeit vergangen ist), und dann gelingt es Jennifers Anwalt (der mindestens nicht der Beste in seinem Job ist und vielleicht sogar auch von Alexanders Familie beeinflusst wurde), Alexander in die Enge zu treiben, seine Aussage in Frage zu stellen – und ihr bricht ab mit den Worten »keine weiteren Fragen«. Das war für mich so ungeheuer sinnlos (egal, welche versteckte Agenda der Anwalt vielleicht noch haben könnte), dass es den Rest des Films schon stark in Mitleidenschaft zog. Und dann noch (mindestens) zwei reichlich überflüssige Gewalttaten, die natürlich jeweils eine Aussage hatten, zwischen mir und dem Film aber eine Distanz schafften. Aber vielleicht braucht man diesen emotionalen Impetus, um manche Zuschauerschichten zu erreichen.

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Ten no Chasuke
(Sabu, Wettbewerb)

Japan / Frankreich 2015, Intern. Titel: Chasuke's Journey, Buch, Lit. Vorlage: Sabu, Kamera: Daisuke Soma, Schnitt: Naoichiro Sagara, Musik: Junichi Matsumoto, Production Design: Mishitoshi Kurokawa, mit Ken'ichi Matsuyama (Chasuke), Ita Ohno (Yuri), Ren Ohsugi (Taneda), Yusuke Iseya (Joe), Hiromasa Taguchi (Charlie Pon), Tina Tamashiro (Chako), Hiroki Konno (Yasuo), Orakio (White-Faced Cop), Susumu Terajima (Kuroki), 106 Min.

Sabu (Monday, Blessing Bell und Hard Luck Hero) ist einer dieser Filmemacher, die schon eine lange Verbindung mit der Berlinale haben, fünf seiner Filme liefen zwischen 1997 und 2010 auf der Berlinale. Und irgendwie klingt es nach einem großen Geschenk aus langer Freundschaft, dass man ihm nach diversen Auftritten im Panorama und Forum ausgerechnet die Adaption seines eigenen Debütromans im Wettbewerb zeigen ließ.

Die Anfangssequenz des Films ist vielversprechend. Im »Afterlife« (mir ist keine adäquate Übersetzung dafür eingefallen) sitzen Dutzende von Szenaristen vor großen Schriftrollen und schreiben mit hektischen Pinselstrichen nieder, was im Leben der Sterblichen so passiert. Chasuke serviert hier nur den Tee, schaut den Autoren aber gern über die Schulter und weiß ziemlich gut Bescheid, was hier so abgeht, welche Autoren weniger talentiert sind, welche Figuren auf welche Weise von diesem intertextuellen Netzwerk betroffen sind usw. Er hat sich sogar ein wenig verliebt in eine der Figuren, Yuri, deren Autor immer wieder versucht, sie durch aberwitzige Situationen zum Sprechen zu verleiten, dabei aber versagt. Sie spricht kein Wort.

Ten no Chasuke (Sabu)

Bildmaterial © Bandai Visual, Shochiko and Office Kitano   

Als eine donnernde Stimme oberhalb des himmlischen Schreibzimmers mal nach »Avant-Garrde!« verlangt, fühlt sich einer der Autoren, dessen Material schon zuvor Probleme hat, überfordert und fragt Chasuke nach einem Ratschlag. Chasuke würde sich nie erdreisten, den Status eines Autoren einzunehmen, will eigentlich nur still beobachten, aber unter Druck fällt im ein, dass die gerade gelesene Kneipenszene ja stattdessen in einer Karaoke-Bar spielen könnte. Evtl. ist das dann bereits Avantgarde. Doch durch ein paar Zufälle führt dies dazu, dass eine der Figuren aus der Karaoke-Bar nun bei einem Autounfall Yuri voll erwischen, und Chasuke fühlt sich nicht nur schuldig, sondern will den Unfall ungeschehen machen, bevor er passiert – und einige der Autoren willigen ein, ihm zu helfen: Er wird auf die Erde geschickt und die Autoren wollen ihm hin und wieder Zeichen geben, was er tun muss, um Yuri zu retten. Ein wenig, als wenn man die Prämissen von Back to the Future, It's a Wonderful Life und The Matrix miteinander kombiniert. Wie gesagt, sehr vielversprechend.

Ten no Chasuke hat das Potential, über selbstreferentielle Bezüge und quasi-philosophische Fragen tatsächlich fast avantgardistisch zu werden – doch der Film hält es sich offen, hierbei auch filmischen Konventionen folgen zu dürfen. Ein lustiges Spiel mit dem Medium selbst. Das funktioniert zu Beginn des Films großartig. Als fleißiger Leser der diversen miteinander verwobenen Geschichten gibt uns Chasuke (als Erzählerfigur, die kein Autor sein will) kleine Einblicke in die unterschiedlichsten Geschichten. Als wenn er die Fernbedienung besäße, um dem Zuschauer Facetten eines monumentalen Fernsehprogramms zu offenbaren. Meine liebste Szene, die zu großem Gelächter bei der Pressevorführung führte, zeigt Beispiele eines Autoren, der sich offensichtlich gern von bestehenden Werken »inspirieren« lässt. Ein harmloser Kerl verschüttet sein Getränk über eine bekannte Schauspielerin, als die beiden an einer Straßenecke zusammenknallen, bei einer sinnlichen Töpferstunde finden sie zueinander und schließlich unternehmen sie gemeinsam eine Kreuzfahrt auf einem Luxusliner, der aber leider auf einen Eisberg kracht, weshalb sie stirbt. Wer Notting Hill und Ghost nicht sofort wiedererkennt, bei dem klingelt's spätestens bei Titanic, und mit ein bisschen Glück weiß man als Zuschauer auch, dass hier die Geschichte einfach mal umgedreht wurde, denn normalerweise säuft ja Leo ab und Kate überlebt. Auf dieser Ebene und mit Gags wie dem bei Chasukes Eintreffen auf der Erde, wo er sich erst mal ein üppiges Mal gönnt, weil bis zum Unfall ja noch gut zwei Stunden Zeit bleiben, hätte Ten no Chasuke der absolute Überflieger zumindest des verschwindend geringen Teils des Berlinale-Wettbewerbs werden können, den ich mir angesehen habe.

Aber im Film geht es auch um die »heilenden Hände« Chasukes, der wie ein Westentaschen-Jesus mit Twitter-Unterstützung zum Medienereignis wird und mit einem Paar billiger Flügel auf dem Rücken gern »Herr Engel« genannt wird, um Feenstaub und Glitzereffekte und um die »Ave Maria« trällernde »Schwester« Chasukes (an seiner Biographie wird nachträglich herumgefingert wie in einer Soap) – also alles in allem ein Spur zu viele Verweise auf Himmel und Christentum.

Es gibt zwar immer wieder tolle Ideen, auch inszenatorische (ich müsste den Film mehrfach sehen, um mir sicher zu sein, in welchen Momenten Sabu jeweils verwischte Einzelbilder einsetzt oder was die zahlreichen Prozessionen bedeuten sollen, die sich immer wieder im Hintergrund der Geschichte abspielen), aber das Ganze fasert immer mehr auseinander, die Geschichte wird immer langatmiger und beliebiger, man hat schlicht das Gefühl, dass es nicht immer eine gute Idee ist, wenn ein Regisseur einen Roman schreibt, den in ein Drehbuch verwandelt, dass er selbst inszeniert – und keine sagt mal zwischendurch Bescheid, dass diese oder jene Idee nicht wirklich funktioniert oder den Erzählfluss des Films sabotiert. Und so gibt es einige uninspirierte Action-Szenen und ein viel zu langes Ende, das irgendwas von wahrer tiefer Liebe erzählen soll, aber irgendwie nur gefühlt länger ist als das Titanic-Ende. Und natürlich weiß man aus dem Hintergrund des Films, dass Sabu sich auch über schlecht geschriebene Drehbücher lustig macht, aber für meinen Geschmack hätte es dem Film sehr gut getan, wenn er dies cleverer umgesetzt hätte und nicht im Nachhinein als ultimative Ausrede für immer deutlichere Schwachpunkte nutzt.

Ich fand in der ersten Hälfte auch die zarte Liebesgeschichte zwischen Chasuke und Yuri sehr interessant und hätte auch kein Problem damit gehabt, wenn die in einem allzu deutlichen Film-Happy-End ihre Auflösung gefunden hätte. Doch eine gefühlte halbe Stunde zuzuschauen, wie man quasi das Ende von Romeo and Juliet vor- und zurückspult, ihn sie und sie ihn retten lässt, beide abwechselnd sterben und wieder auferstehen lässt usw., bis es irgendwann keinen mehr interessiert, wie es nun ausgeht und ob und was sie nun sagen wird ... – das alles mag von Sabu von langer Hand so geplant gewesen sein und auch eine tolle Aussage implizieren. Aber als Zuschauer ist es so, als ob man ewig auf einem Kaugummi herummalmt, das längst den Geschmack verloren hat. Und so deutlich habe ich das bisher noch in einem Sabu-Film so erlebt.

Trotzdem: die erste Hälfte des Films ist das Kinoticket schon allein wert. Nur macht er dann später vieles zunichte, was er so schön ersonnen hat.

Mitte März in Cinemania 129:
Kinostarts im März / April 2015: 3 Herzen (Benoît Jacquot), Das blaue Zimmer (Mathieu Amalric), Eine neue Freundin (François Ozon), That Lovely Girl (Keren Yedaya) und evtl. The Voices (Marjane Satrapi).