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Ekkehard Knörer
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Mai 2002
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- daily knörer -


6. Tag: Eosanderstraße (Charlottenburg)
Besichtigung: Montag, 6.5., 15 Uhr 30 bis 16 Uhr

Wannenbalkone

Auf dem Stadtplan ist die Eosanderstraße eine Sackgasse. Das aber täuscht. Sie geht ab von der Otto-Suhr-Allee, an der ein Fußgänger kaum Freude haben dürfte, ein Abzweig sogleich in stillere Gewässer. An den Fenstern auf ihren Kissen diese Menschen, die es überall gibt, in allen größeren Mietshäusern: die nach draußen schauen, weil da immer noch mehr passiert als drinnen, und sei es, dass einer herumläuft und Fotos macht von Dingen, die des Fotografierens kaum würdig scheinen.

Neben vereinzelten sehr würdig herumstehenden, aus der Häuserzeile zur rechten und zur linken unaufdringlich hervorstechenden Jahrhundertwendebauten gibt's viel plattgesichtige Scheußlichkeitsarchitektur aus den 50er-Jahren, seltsam wannenförmige Balkone, andere schlicht weiß und abgeblättert, aber viel besser sieht auch nicht aus, was neuer ist.

Sehr belebt ein Spielplatz, der ein bisschen zwischen die Häuser gedrängt ist, über dem Eingangstor schläft ein Raubtier, in der Ecke sitzt ein Affe. Überhaupt ist eine Art Verhundertwasserung des Spielplatzdesigns zu bemerken, hier in Berlin jedenfalls, eine Bewegung in Richtung schief-bunt-geheimnisvoller Abenteuerspielplatzarchitektur: nur zu, denke ich und erinnere mich an lieblose, sportgerätähnliche Metallgestänge, in deren Speichen ich einst Nachmittage zubringen durfte.

Hauseingang AD 1905

Kaum einmal fehlt in einer Berliner Straße die Eck-Kneipe, hier heißt sie Saiten-Sprung, nun ja, der Berliner Wortwitz war schon immer eher ein Gerücht. Verblüffend, dass die nicht sehr lange Straße gleich drei Friseurläden beherbergt, ganz unterschiedlicher Aufmachung. Retro-Schick beim "Friseur", gesichtslos-geschäftsmäßig der Coiffeur und beim "Salon für sie und ihn" hängt eine gelockte Mona-Lisa im Fenster.

Am Ende aber wartet die Eosanderstraße mit einem echten Knalleffekt auf, sie schließt sich nicht nach Sackgassenart, sondern sie öffnet sich ins leichte Rund eines Halb-Hochhauses mit einer glatten Fassade aus Glas, hinter der Balkone wie Vitrinen gereiht sind. Die Öffnung aber hat ihren Sinn, sie richtet sich an das, was hinter einem Häuser-Querriegel liegt, was man, beinahe ein Theatereffekt, zu sehen bekommt, wenn man sich dem in diesen Riegel gebrochenen großen Durchgang nähert: garniert mit Frühlungsbäumegrün strahlt einen hier, einen Sprung über die Straße hinüber, der Seitenflügel des Schlosses Charlottenburg an.

Balkone hinter Glas

Nicht dass man es, mit ein bisschen Bildung und Assoziationsfähigkeit nicht hätte ahnen können: Johann Friedrich Nilsson Eosander von Göthe (sic!) nämlich, dem die Straße ihren Namen verdankt, war Hofarchitekt in Berlin, später für sämtliche Schlossbauten verantwortlich, damit auch für den Ausbau des Schlosses Charlottenburg. Gut endete das allerdings nicht: er geriet in Verdacht, Kartenmaterial, auch militärisch wichtige Unterlagen veruntreut zu haben, begab sich erst in schwedische, dann in sächsische Dienste und starb 1728 in Dresden.

Schloss Charlottenburg


 
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