Sorry, Baby
(Eva Victor)
Originaltitel: Sorry, Baby, USA 2025, Buch: Eva Victor, Kamera: Mia Cioffi Henry, Schnitt: Randi Atkins, Alex 0'Flinn, Musik: Lia Ouyang Rusli, Production Design: Caity Birmingham, Kostüme: Emily Constantino, mit Eva Victor (Agnes), Naomi Ackie (Lydie), Louis Cancelmi (Preston Decker), Lucas Hedges (Gavin), Kelly McCormack (Natasha), John Carroll Lynch (Pete), Hettienne Park (Eleanor Winston), E.R. Fightmaster (Fran), Cody Reiss (Davin), Jordan Mendoza (Logan), Anabel Graetz (Professor Wilkinson), 104 Min., Kinostart: 18. Dezember 2025
Lydie (Naomi Ackie) und Agnes (Eva Victor, die Regisseurin und Drehbuchautorin dieses Films) sind seit Jahren beste Freundinnen, und dabei so grundverschieden, dass man kaum wüsste, wie man ihren Unterschieden mit einem halben Dutzend Adjektiven gerecht werden sollte. (Ich will ja auch nicht alles zerreden, was man beim Sichten des Films genüsslich selbst entdecken kann.) Ein Detail, das nur auf eine der beiden zutrifft, aber vermutlich beide trefflich charakterisieren könnte, ist mir im Film aufgefallen: Lydie ist für einige Tage bei Agnes zu Besuch, weiß wohl nicht ganz, was sie gerade mit ihrer Zeit anfangen soll, und schaut in der Glotze Sidney Lumets berühmten Gerichtsfilm, dessen Originaltitel den meisten Leuten aus meiner Generation, die noch mit klassischem Schwarzweiß-US-Kino im TV aufgewachsen sind, wenig sagen wird. Aber dass Lydie nach einiger Zeit feststellt, dass sie mit "Twelve Angry Men" nichts anfangen kann, ist vielsagend, irgendwie ganz putzig, und nicht wirklich überraschend. Und die Reaktion von Agnes, um die es im Film vorrangig geht, wäre vermutlich sehr ähnlich gewesen.
Der Film dreht sich um die junge Literaturprofessorin Agnes, die nach einem traumatischen Erlebnis an der verschlafenen Uni in New England verbleibt, und das, was mit ihr geschah, auf ganz eigene Art verarbeitet. Der Film setzt ihr "Feststecken" so um, dass die Geschichte nicht chronologisch, sondern in Kapiteln erzählt wird, die jeweils nach vage umrissenen "Jahren" benannt sind.
So lernt man die Hauptfigur und ihre nicht unbedingt nur negativ konnotierte Verschlossenheit erst langsam kennen (und lieben), bevor man genau weiß, was denn in dem speziellen Jahr passiert ist. Es mag sie geprägt haben, aber ihr Charakter konnte sich dennoch (wenn auch mit Zeitverlust) entwickeln.

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Interessant dabei ist, dass auch die Autorin hinter der Geschichte (wie viel autobiografisches einfloss, sei dahingestellt) das Buch im Kern allein im Kämmerchen verfasste, Victor nutzte die Corona-Zeit für ein autodidaktisches Studium des Mediums Film, und nachdem Barry Jenkins und das Team rund um Moonlight das Drehbuch angenommen hatten, wurde sie auch noch widerstrebend in die Regierolle gedrängt, weil klar war, sie würde die beste Person sein, um diese Geschichte zu erzählen. Ihr Feinsinn, Humor und psychologisches Gespür machen aus, was im Presseheft ein bisschen großkotzig als einzigartige "neue Stimme im zeitgenössischen US-Independent-Kino" beschrieben wird.
Was mich zu Beginn des Films fasziniert hat: Agnes bekommt Besuch von ihrer besten Freundin Lydie, die mittlerweile verheiratet und schwanger ist, generell grundverschieden, aber mit einem unbeirrbaren "Bauchwissen", was Agnes angeht ("You do leave the house, right?"). Wir erleben Agnes ein wenig mit Lydies Augen, kennen aber beide noch nicht. Und dann hatte ich plötzlich das Gefühl, dass der ganze Film nur in alleinstehenden Häusern (und drum herum) spielt. Und das ist so ein Zeichen dafür, wie wir Agnes' Welt erleben. Die einzelnen Häuser erzählen natürlich auch von einer entfremdeten Gesellschaft, von der Agnes sich entfernt hat. Auf einem Finger hat sie ein schmuckloses Tattoo, das man als Fenster (mit Strebenkreuz) deuten kann.
Das Tattoo hat sie übrigens auch schon vor dem "year with the bad thing", und es zeugt fundamental davon, wie sie die Welt erlebt.

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Statt zu viel von der Geschichte vorwegzunehmen, lasse ich die Kerngeschichte außen vor. Nur so viel dazu: ein gern gewähltes Filmsujet wird mit einer cleveren Ellipse gekonnt angedeutet, und statt einer Täter-Opfer-Dichotomie arbeitet man mit Ambivalenz und vielen Grautönen (auch im weiteren Umfeld)
Eine kurze Exkursion, um das eigentliche Thema zu umkurven. Mir ist in letzter Zeit aufgefallen, dass zum Beispiel bei Übertragungen von American-Football-Spielen einem jungen verstorbenen Spieler eine Gedenkminute gewidmet wird, dabei kein Wort über Umstände verloren wird, aber eine Einblendung kommt, an welche Hotline oder Beratungsstelle man sich wenden soll, wenn man unter Depressionen leidet oder suizidale Gedanken hat.
Im weitesten Sinne kommt auch Agnes mit solchen offiziellen Stellen in Kontakt, Personen, die ausgebildet wurden, zu helfen, die aber in den konkreten Fällen im Film damit komplett überfordert sind. Und daraus wird im Film eine Art ungleichgewichtiger Humor, der aber nebenbei gut zeigt, wie Agnes ihre eigene Art entwickelt, mit der Situation umzugehen. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Katze, die auf dem Filmplakat so eine zentrale Stelle einnimmt (und die sie in einer sehr schön inszenierten Szene mal mit zum Einkaufen nimmt).
Die Einkaufsszene ist exemplarisch für die ganze Herangehensweise. Humor, Lebensbewältigung, eine ganz persönliche Sicht auf die Dinge, und mit seltsamer Synergie auch ein mutiger Inszenierungswille wachsen zusammen und schaffen etwas ganz eigenes, warmes, leise mitreißendes.

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Ich habe bei diesem Film immer wieder den Impuls, die Autorin / Regisseurin und die Hauptfigur, aber da geht es mir weniger um die ganz konkreten autobiographischen Wurzeln der Geschichte, sondern darum, wie die Einsichten der Schöpferin ins Innenleben ihrer Figur den Film und seine Art, die Geschichte zu erzählen, prägen. Das Drehbuch wurde ja schon beim Sundance Festival ausgezeichnet, aber auch der Stilwille bei diesem Regiedebüt ist unübersehbar.
Eva Victor hatte laut Presseheft auch ein ganz klares Bild für die Besetzung einer Rolle, und sie schrieb Lucas Hedges (Three Billboards outside Ebbing, Missouri, Manchester by the Sea, Ben is back, Lady Bird) persönlich an, um ihn von der Rolle zu überzeugen. Der Nachbar Gavin wirkt ähnlich scheu wie Agnes, Lydie erkennt natürlich augenblicklich eine Verbindung ("He's cute. You're fucking him?") und er spielt eine (nicht überbetonte!) Rolle im "Heilungsprozess"
Ähnlich wie John Carroll Lynch (immer wieder ein überzeugender Charakterdarsteller, spielte Norm Gunderson, den Gatten der schwangeren Polizistin Marge in Fargo, und war nicht zuletzt auch der Regisseur von Lucky, dem Abschiedsfilm von Schauspielkollege Harry Dean Stanton), der hier nur eine Zufallsbegegnung ist, mit der Agnes sich vielleicht 12-20 Minuten unterhält, der aber auch wie ein weiterer kleiner Dominostein genau an der richtigen Stelle steht und etwas in Bewegung bringt.

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Ich bin voll des Lobes über viele kleine Details und größere Puzzlestücke (auch Louis Calcelmi als Agnes' Mentor Preston Decker prägt den Film), aber es gibt auch Details, die mir etwas zu prägnant erscheinen. Das mag mit dem Hintergrund von Eva Victor als Komikerin zusammenhängen.
Bei einer eher kleinen Rolle (die Person taucht erst gegen Ende auf) hatte ich das Gefühl, dass das Casting allzu deutlich ausgefallen ist. Allerdings kann man sich auch nur dann darüber beschweren, dass etwas zu deutlich ist, wenn es einem auffällt. Und wenn die Regisseurin den Punkt, der eine wichtige Rolle in der kompletten Geschichte spielt, eher subtil einbringen will, besteht natürlich auch die Gefahr, dass das Publikum die Verbindung gar nicht zieht. Und da will ich mich gar nicht mal als Naseweis aufspielen, der es natürlich erkannt hätte.
Somit verzeihe ich das. Stellt euch einfach M. Night Shyamalans The Sixth Sense vor, wenn der Kerntwist des Films nur, sagen wir, 65 Prozent des Publikums klar geworden wäre... Man hätte es ihnen zwar danach erklären können, aber der Film wäre dadurch nicht besser geworden. Und wenn die Anzahl derer, die es "zu früh" gemerkt haben, höher ausgefallen wäre - das ist auch heikel.
Film als Medium hat zum Beispiel in der Montage das Problem, dass auch Cutter*in und Regisseur*in bestimmte Stellen nicht bei jeder Veränderung mit den Augen eines ganz "frischen" Publikums neu erleben können. Man kann immer wieder neue Freunde in den Prozess einbeziehen und die nach dem Eindruck befragen, aber man kann auch nicht Mirna, die Schnittfassung B7 als erstes sah, und Armin, der erst F3 und B7 später sah, befragen, was jetzt besser war. Selbst bei einer Massenbefragung wird man da immer eine gewisse Unsicherheit haben.
Einen anderen Kritikpunkt kann ich ganz klar benennen: die Figur Natasha (Kelly McCormack spielt die Rolle, ich glaube nicht einmal, dass sie die Hauptschuld trägt) zeichnet sich durch eine sehr durchschaubare unangenehme Manipulation aus, die ich (Glück gehabt?) so extrem nie im eigenen Leben erlebt habe. Manipulation nutzt jeder mal, sollte man clever machen. In Filmen und Serien (oder auch bei Shakespeare) weiß man im Publikum ja sehr oft bereits über die bestehende "Intrige" Bescheid und kann so mit einer gewissen Freude miterleben, wie geschickt oder ungeschickt jemand ausgetrickst werden soll.
Hier ist es leider so, dass Natasha einfach nur nervt, weil sie quasi unsere Hauptfigur wie der weltdümmste Mobber ausbooten will, aber es dem Publikum offensichtlich ist, aber Natasha macht das immer wieder und offenbar kommt sie damit auch durch (meine Einschätzung, vielleicht teilt die auch nicht jeder). Im Verlauf des Films gibt es dann noch einen Grund, warum Natasha existiert und so gezeichnet wurde, aber so richtig klar wurde ich damit nicht mehr.
Auch dies ist natürlich eine Überzeichnung, wie man sie aus Humorformaten kennt. Ich habe mir keine der Comedy-Videos angeschaut, mit denen Eva Victor schon vor dem Film eine gewisse Bekanntheit erreicht hat, aber bei den beiden Punkten fand ich den Humorgrad halt etwas deutlicher als im übrigen Film.
Aber ungeachtet dessen kann ich Sorry, Baby vollen Herzens empfehlen.