Sentimental Value
(Joachim Trier)
Norwegischer Titel: Affeksjonsverdi, Norwegen / Frankreich / Dänemark / Deutschland / Schweden 2025, Buch: Joachim Trier, Eskil Vogt, Kamera: Kasper Tuxen, Schnitt: Olivier Bugge Coutté, Musik: Hania Rani, Production Design: Jørgen Stangebye Larsen, Kostüme: Ellen Ystehede, mit Renate Reinsve (Nora Borg), Stellan Skåsgaard (Gustav Borg), Inga Ibsdotter Lilleaas (Agnes Borg Pettersen), Elle Fanning (Rachel Kemp), Anders Danielsen Lie (Jakob), Jesper Christensen (Michael), Lena Endre (Ingrid Berger), Cory Michael Smith (Sam), Catherine Cohen (Nicky), Andreas Stoltenberg Granerud (Even Pettersen), Øyvind Hesjedal Loven (Erik), Lars Väringer (Peter), 135 Min., Kinostart: 4. Dezember 2025
In Cannes wurde Sentimental Value mit dem großen Preis der Jury ausgezeichnet, bei den Europäischen Filmpreisen gab es fünf hochwertige Nominierungen, außer für den Film, das Drehbuch und den Regisseur Joachim Trier (Oslo, 31. August, Louder than Bombs, Thelma) auch für die darstellerischen Leistungen von Stellan Skåsgaard und Renate Reinsve, die hier im Zentrum stehen. Nora (Renate Reinsve) und Agnes (Inga Ibsdotter Lilleaas) sind zwei Schwestern, die ihr Leben gut im Griff haben. Agnes hat Mann und Kind, Nora eine gut laufende Theaterkarriere, die wir als Publikum aber über eine grenzwertige Panikattacke zu Beginn ihres (später gefeierten) Auftritts miterleben. Offensichtlich gibt es da emotionales Gepäck, mit dem auch ihre Kollegen am Theater etwas zu kämpfen haben.
Dann taucht der große Gustav Borg (Skåsgaard) wieder auf, ihr gemeinsamer Vater, ein gefeierter Filmregisseur, der gerade mit einer Retrospektive bei einem Filmfestival geehrt wurde. Rachel Kemp (Elle Fanning), ein internationaler Schauspielstar, die von einem Borg-Film sehr angetan war, lädt ihn zu einem Essen mit ihrer Entourage ein, die beiden verstehen sich künstlerisch sehr gut.
Doch Gustav hat für sein nächstes Filmprojekt, in dem es ziemlich deutlich um seine verstorbene Frau geht, eine Zusammenarbeit mit seiner Tochter vor, die daran nur leider gar kein Interesse hat, weil sie a) weiß, wie ihr Vater für seine Filme Schauspieler manipuliert, und b) auch im Familienleben mit ihm einiges erlebt hat, was sie gern hinter sich gelassen hat.*
*Kleine Anmerkung: Da ich selbst bei meiner Filmauswahl aktuell auffallend viele Missbrauchs-Thematiken hatte, will ich nur anmerken, dass es darum hier mal nicht geht. Stattdessen spielt hier, wie auch in Silent Friend (Start: 15. Januar 2026) ein ungewöhnlicher Protagonist eine Rolle.

Foto: Kasper Tuxen Andersen © Plaion Pictures
Schon als 12jährige hat Nora einen Aufsatz über das auffällig in Szene gesetzte Familienhaus geschrieben. In dieser Rückblende erfahren wir einiges über die Familiengeschichte der Borgs, auch, dass Nora als ältere Schwester früher Agnes beschützt hat, während aktuell die jüngere mit ihrer gefestigten Familienstruktur quasi das emotionale Standbein für die durch ihren Job sehr geforderte Nora ist.
Nora-Darstellerin Renate Reinsve, die mit Regisseur Joachim Trier schon in Der schlimmste Mensch der Welt zusammenarbeitete, und die Rolle quasi auf den Leib geschrieben bekam, fasst es so zusammen:
"Nora ist eine professionelle Schauspielerin, die ihre Trauer und Angst als Antrieb für ihr Schauspiel nutzt, aber sie ist nicht in der Lage, so mit anderen Menschen zu kommunizieren wie ihre Schwester Agnes."
In der Dynamik des Schwesterpaares erkennt man im Ansatz auch die Eltern wieder: Gustav ist der künstlerische Typ, der seinen Ballast geschickt in sein Werk einfließen lässt, über die verstorbene Mutter Sissel weiß man nicht soo viel, aber sie war immerhin Psychotherapeutin, konnte also auch mit Menschen umgehen, und opfert dieses Talent nicht für eine irgendwie abstrakte Kunst, die zwar andere Menschen bewegt, aber nicht auf einzelne eingeht.
Wo die Schwestern durch ihre Unterschiede zusammengewachsen sind, hat das offensichtlich in der Ehe von Gustav und Sissel nicht so geklappt. Und erst nach ihrem Tod will Gustav etwas - vor allem künstlerisch - verarbeiten. Da kann man dann auch verstehen, dass Nora daran nicht unbedingt teilnehmen will.
Gustav, der diese Beweggründe nicht versteht (und vielleicht auch gar nicht ergründen will) prioritisiert wieder sein künstlerisches Werk und spricht Rachel als zweite Wahl für die Rolle an. Die fühlt sich geschmeichelt, mit solch einem Regiestar zu arbeiten.

Foto: Kasper Tuxen Andersen © Plaion Pictures
Spätestens an dem Punkt, wenn Rachel die Schwestern und das Familienhaus kennenlernt (und Gustav in seiner manipulativen Art auch noch einige Aspekte der "Inspiration" für das Drehbuch überzieht), hat mich Sentimental Value, auch in der Komplexität des Drehbuchs, an May December erinnert, einen unterschätzten Lieblingsfilm aus dem Vorjahr. Auch da kollidieren Vorarbeiten zu einem Film mit realer Familiengeschichte, nur ist die Manipulation so allgegenwärtig, dass die meisten Figuren schlecht dabei wegkommen, was es für das breite Publikum irgendwie schwer machte.
Das ist bei Sentimental Value ganz anders. Ungeachtet mancher menschlicher Fehler wird man hier dazu eingeladen, mit allen Protagonisten mitzufühlen. Zum Teil habe ich da (vielleicht bin ich auch nicht austherapiert) sogar negative Aspekte erkannt, die - so mein Eindruck - gar keine große Rolle im Film spielen sollten.
So fand ich zum Beispiel (wie gesagt, eher Nebenbeobachtungen, die ich vielleicht überbewertet habe), dass Gustav in seiner patriarchalen Rolle, die er eigentlich verwirkt hat, als er sich aus der Familie verabschiedet hat, die Leistungen seiner Töchter nicht gebührend würdigt, aber seinem Enkelsohn, mit dem er eine neue Chance sieht, zum zehnten (oder so) Geburtstag, völlig ungeeignete Filme schenkt (Hanekes Klavierlehrerin und Gaspar Noés Irreversible, noch dazu mit völlig deplazierten Kommentaren über Monica Bellucci).
Dieser kleine Gag am Rande mag in seiner Funktion, etwas über Gustav auszusagen, Erfolg haben, für mich war das die schwächste und überflüssigste Szene im Film. Eine Filmauswahl, die etwas weniger Sex und Verletzung in Beziehung setzt und ein pubertierendes Geburtstagskind potentiell ganz falsch beeinflusst (um nicht zu sagen: traumatisiert), wäre hier ganz gut gewesen. Aber ich will auch nicht ausschließen, dass hier noch auf irgendwas dunkles hingewiesen wurde, und ich habe womöglich nur das Unpassende erkannt, nicht das Abgründige.

Foto: Kasper Tuxen Andersen © Plaion Pictures
Nach diesem harten, aber nicht wirklich durchgezogenen Kritikpunkt will ich den Film aber noch etwas abfeiern, wenn's recht ist.
Die Schauspielleistungen sind toll. Als erstes zu nennen sind da die beiden Schwestern (vor allem Renate Reinsve), aber auch Elle Fanning als vermeintliche "Ersatztochter", die aber die falsche Sprache spricht, funktioniert nicht nur im Film, sondern auch als Finte, um dem Film ein größeres internationales Publikum zu eröffnen. Stellan S. ist eine stabile Projektionsfläche für die Figur im Drehbuch, skandinavische Schauspielikonen wie Lena Endre oder Jesper Christensen fügen sich wunderbar in kleine Rollen ein, wie auch Lars Väringer (Unga Astrid, Midsommar) als Kameramann Peter. Auch eine Figur, die keine wichtige Rolle per se spielt, aber einen Punkt verdeutlicht, der nur über Dialoge anderer Personen nicht den selben Impetus gehabt hätte.
Wie bei May December spürt man auch im Drehbuch zu Sentimental Value (von Joachim Triers Lieblings-Co-Autor Eskil Vogt) die Meisterschaft darin, nicht nur Zusammenhänge im Dialog zu erklären, oder - noch schlimmer - textlich vor allem zu behaupten, sondern als Zuschauer*in erlebt man, wie sich die (Puzzle-)Teile langsam zusammen setzen. Das sollte der Standard beim Filmemachen sein, aber längst nicht jeder bekommt es so hin, dass es wie mühelos und natürlich erscheint.

Foto: Kasper Tuxen Andersen © Plaion Pictures
Eine andere besondere "Fertigkeit" von Filmemachern ist das Filmende. Man sieht oft Filme mit einem kunstvollen Anfang, aber das Ende enttäuscht öfter, als dass es überzeugt. Manches Filmende kommt so plötzlich und unerwartet, dass es einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Wenn man die Grunde dafür mit etwas Überlegung dann noch ermitteln kann, okay. Andernfalls nicht so.
Das andere Extrem sind Filme, denen zwei oder drei Enden hinten drangepappt werden. Spielbergs A. I. ist dafür ein Beispiel. Der hat aktiv nach Sterbehilfe geschrien, das war kein Spaß mehr.
Sentimental Value hat ein Ende (ohne über die Handlung selbst etwas zu sagen), das sich deutlich ankündigt, und es hat die perfekte Länge. Man ahnt mögliche Fettnäpfchen, aber die werden elegant umschifft. Und wie nebenbei wird das Ende gerade so lang herausgezögert, dass man im Kinosessel über die unerwarteten Inszenierungsmittel nachdenken kann, ehe man erkennt, warum eine gewisse "Distanzierung" genau so gewollt war.
Selten habe ich ein so gut durchdachtes Filmende gesehen, das in den letzten zwei Minuten dem Film noch mal so viel zusätzliche Info und "closure" schenkt.