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2. Februar 2022
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Wo in Paris die Sonne aufgeht (Jacques Audiard)


Wo in Paris
die Sonne aufgeht
(Jacques Audiard)

Originaltitel: Les Olympiades, Paris 13e, Frankreich 2021, Buch: Céline Sciamma, Léa Mysius, Jacques Audiard, Comic-Vorlagen: Adrian Tomine, Kamera: Paul Guilhaume, Schnitt: Juliette Welfling, Musik: Rone, Künstlerische Leitung: Virginie Montel, mit Lucie Zhang (Émilie), Makita Samba (Camille), Noémie Merlant (Nora), Jenny Beth (Amber Sweet), Camille Léon-Fucien (Eponine), Océane Cairaty (Stéphanie), Anaïde Rozam (Leila), Pol White (Père de Camille), Genevìeve Doang (Sœur d'Émilie), 106 Min., Kinostart: 7. April 2022

Nach gut zweieinhalb Jahrzehnten Filmrezensionen habe ich eine gewisse Routine dabei entwickelt. Aber manchmal ist alles anders, und in diesem Fall lasse ich das auch voll in den Text einfließen. Nicht zuletzt dadurch, dass ich schildere, wie ich den Film in mehreren Phasen erlebt habe. Wobei die Phase, in der ich den Film sah, fast den geringsten Eindruck hinterließ.

Dazu entscheiden, mir den Film anzuschauen, habe ich mich vor allem durch den Regisseur, dessen frühere Filme wie De battre mon cœur s'est arrêté , La rouille et d'os oder Un prophète mir allesamt gut gefallen hatten, während ich seinen ersten Gehversuch mit einem englischsprachigen Film, The Sisters Brothers, zwischenzeitig gar nicht mehr auf dem Schirm hatte.

Zur Pressevorführung kam ich mit einer winzigen Verspätung, was aber dazu führte, dass ich (für mich) wichtige Informationen zu den Drehbuchautor*innen sowie einer Vorlage nicht während des Films zur Verfügung hatte.

Ein Anknüpfungspunkt im Film war für mich, dass es unter anderem um den Alltag in einem Call-Center geht (mein Brotjob spielt sich im Backoffice einer Fundraising-Agentur ab), etwas fordernd fand ich zu Beginne des Films, dass die eine Person (die Asiatin Émilie) mit unterschiedlichen Namen arbeitet und bei der Suche nach einer Mitbewohnerin an eine Camille gerät, die keine Geschlechtsgenossin ist, sonder ein großer schwarzer Kerl. Aber das Zusammenwohnen klappt zunächst, sogar with benefits.

»Wird heute noch gevögelt?«

Wo in Paris die Sonne aufgeht (Jacques Audiard)

© 2021 Neue Visionen Filmverleih

Der Sexaspekt (Frischhaltefolie!) spielt im Film zunächst eine große Rolle, ohne Vorabinformationen könnte man denken, es geht um eine Beziehungskomödie unter jungen Studenten à la Cedric Klapisch, nur dass Émilie und Camille eben keine Studenten sind.

Dass der Film bisher in schwarzweiß war, erwähne ich erst jetzt, wo es einen (eher kleinen) Farbteil gibt. Damit beginnt auch eine Episode mit komplett neuen Figuren, über die ich noch nicht zu viel erzählen will. Nur so viel: Zwei Kolleginnen, die sich nach dem Film eher negativ über ihn äußerten, ließen sich im Gegensatz zu mir auch nicht im Ansatz durch einen Verwechslungsaspekt aus dem Konzept bringen. Ich war indes auch deshalb während des Films nie wirklich gelangweilt, weil es immer wieder mal Teile gab, die mir Rätsel aufgaben. Und auch die teilweise überraschenden Entwicklungen hielten mich bei der Stange.

Wo in Paris die Sonne aufgeht (Jacques Audiard)

© 2021 Neue Visionen Filmverleih

Wenn man sich das Plakat zum Film anschaut, könnte man annehmen, dass es um eine Dreiecksgeschichte geht. Die Art und Weise, wie sich dieser Aspekt (jaja, ich benutze das Wort »Aspekt« reichlich häufig in diesem Text, aber ich habe auch keine Lust, mein Synonymlexikon zu bemühen, um das irgendwie zu verschleiern) recht langsam im Film entwickelt, lässt ihn aber nicht so eindimensional erscheinen, dass ich das überbetonen würde.

Eine Sache über den Film wusste ich schon vor der Vorführung: sein Originaltitel lautet Les Olympiades, Paris 13e. Und auch, wenn ich nicht sofort wusste, dass es sich um ein Arrondissement von Paris handelt, so war doch klar, dass dies ein echter Paris-Film ist, in dem auch typische Berufsbilder und die Multikulti-Gesellschaft eine Rolle spielen.

Das eigentümliche Abenteuer der Studentin Nora (Noémie Merlant) erschien mir ganz interessant. Dass ich es hätte wiedererkennen können, fiel mir nicht auf. Neben einer Art »prank«, der unangenehm auf ihre Kosten geht, landet sie auch einen neuen Job in einem Immobilienbüro, wo jetzt Camille wieder auftaucht, während der Film auch Émilie nicht aus den Augen verliert (die ist jetzt Kellnerin, die Unterscheidung zwischen neideren Service-Jobs und solchen auf einem anderen Bezahllevel gehört zum Subtext des Films). Und der Aspekt Dreiecksgeschichte spinnt sich wenig überraschend zwischen Camille und Nora weiter, ehe die Richtung des Films sich noch mal ziemlich ändert.

Wo in Paris die Sonne aufgeht (Jacques Audiard)

© 2021 Neue Visionen Filmverleih

Ein kleiner, aber interessanter Aspekt des Films ist noch Émilies Beziehung zu ihrer Großmutter, und Camille hat eine 16jährige Schwester namens Eponine (Figur aus Les miserables), die ich an dieser Stelle kurz erwähnen will.

Kommen wir nun zu den nach dem Film ermittelten Infos, die einiges veränderten. Zu den drei Drehbuchautor*innen gehört auch Céline Sciamma, die ich als Filmemacherin noch interessanter finde als Jacques Audiard. Tomboy und Bande de filles sind großartig, Ma vie de courgette muss ich noch nachholen, weil man den Animationsfilm dem Pressepublikum nur synchronisiert zeigen wollte, einzig ihr wohl bekanntester Film Portrait de la jeune fille en feu hat mich nicht so begeistert wie große Teile des Kinopublikums. Interessant in diesem Zusammenhang: Noémie Merlant, die Darstellerin der Nora, wurde durch Portrait de la jeune fille en feu einem großen Publikum bekannt. Da frage ich mich natürlich, ob Céline Sciamma noch über die Drehbucharbeit hinaus den Film beeinflusst hat.

Im Presseheft konnte ich dann nachlesen, dass der Film eine Vorlage hatte, und zwar »drei Novellen des amerikanischen Comic-Autors Adrian Tomine«. Nun lese ich die Comics von Adrian Tomine seit Erscheinen der ersten Ausgabe von Optic Nerve bei »Drawn and Quarterly« (ein paar seine Minicomics zuvor landeten auch bei mir), und natürlich handelt es sich bei Amber Sweet, Killing and Dying und Hawaiian Getaway keineswegs um Novellen, sondern um Comics, die durch blödsinnigen Gebrauch des Begriffs Graphic Novel, wobei (vermutlich) durch eine fehlerhafte Übersetzung einer Verkleinerung davon vieles verwirrt wurde.

Wo in Paris die Sonne aufgeht (Jacques Audiard)

© 2021 Neue Visionen Filmverleih

Die Story von Amber Sweet findet man ziemlich ähnlich im Film wieder, nur dass Nora im Comic keinen Namen hat und sie auch jemanden wie Camille nie trifft (schon gar nicht in Paris). In Killing and Dying geht es um eine 14jährige mit Stotterproblem, die Stand-Up-Comedienne werden will, wobei es vor allem um ihren Vater geht. Eponines und Camilles Vater tauchen zwar im Film auch auf, aber der Vater spielt keine große Rolle und auch Camilles Schwester tingelt nur am Rande durchs Bild. Den dritten Comic habe ich nicht hinreichend gesucht, aber für mich ist klar, dass ein Großteil der Filmgeschichte hinzuerfunden wurde, wo die drei Comics nur ein Grundgerüst bieten.

Das muss nichts Schlechtes sein, aber gerade, wenn man nicht in Kenntnis der Vorlage war (siehe auch meine beiden Kolleginnen), merkt man irgendwie, dass im Film etwas fehlt, die Kerngeschichte und die kleinen Episoden am Rande passen nicht wirklich bündig zueinander. Anschauen kann man sich das Ganze trotzdem, der scheinbare Widerspruch zwischen klassisch wirkender Schwarzweiß-Photographie (Audiard benennt mehrfach Eric Rohmer als eine Inspiration - Rohmer und Tomine sind auch nicht völlig unterschiedlich) mit modernen Dating-Apps und der Welt der Chaträume ist durchaus etwas, was man noch nicht zwanzig mal so gesehen hat. Einzig vielleicht der Migrationshintergrund von Adrian Tomine wirkt hier ein wenig umgewandelt in die aktuell als total en vogue proklamierte Diversität, die mich, wenn sie so obligatorisch eingebunden wirkt wie in Amazon-Werbungen, meist eher nervt.

◊ ◊ ◊

Nachtrag: Die zwei detailliert beschriebenen der drei Tomine-Comics findet man übrigens auch in der Sammlung Killing and Dying. Die Story um die 14jährige ist zum einen deshalb interessant, weil Tomine hier mit auffällig kleinen Panels eine typische talking heads-Geschichte erzählt, in der er vor allem vorführt, wie er sich in die Dramaturgie eines Stand-Up-Auftritts hineinversetzen kann, mit aufschwellendem Applaus und Gelächter, aber auch mal geschocktem Schweigen und Streitgesprächen. Auch, wenn man davon im Film fast nichts wiederfindet, hat dieser künstlerisch überzeugende Teil des Comics auch das Problem (für mich), dass ich das Handwerkliche und Kreative zu schätzen weiß, es aber zu keinem überzeugenden emotionalen Eindruck kommt.

Hier noch ein Link zum aktuellsten Werk von Adrian Tomine, The Loneliness of the Long-Distance Cartoonist.