Annette
(Leos Carax)
Originaltitel: Annette, Frankreich / Belgien / Deutschland / USA / Japan / Mexiko / Schweiz 2021, Story: Ron Mael, Russell Mael, Kamera: Caroline Champetier, Schnitt: Nelly Quettier, Musik: Ron Mael, Russell Mael, Kostüme: Pascaline Chavanne, Ursula Parades Choto, Production Design: Florian Sanson, Set Decoration: Marion Michel, Puppet Supervision: Yu Inose, Naotaro Takahashi, mit Adam Driver (Henry McHenry), Marion Cotillard (Ann Defrasnoux), Simon Helberg (The Accompanist), Devyn McDowell (Annette in Prison), Colin Lainchbury Brown (Announcer Hyperbowl), Okon Ubanga-Jones (Judge), Ron Mael, Russell Mael (Jet Pilots), Alex Casnoff, Patrick Kelly, Stevie Nistor, Eli Pearl, Evan Weiss, Ryan Parrish, Joe Berry (Sparks Band), Leos Carax, Nastya Golubeva Carax, 141 Min., Kinostart: 16. Dezember 2021
Nur wenige Regisseure haben sich das Attribut Größenwahn so redlich verdient wie Leos Carax. Für seine Les amants du pont-neuf stellte er eine der bekanntesten Pariser Brücken nebst zwei Abschnitten des Seine-Ufers als riesige Kulissen her. Und beim selben Film, der voller tiefempfundener Liebe und dramatischer Melancholie diese Bauten einzusetzen weiß, schockierte er sein Publikum in den ersten etwa zwanzig Minuten mit fast dokumentarischen, aber definitiv sehr harten Bildern aus dem kalten nächtlichen Alltag von Obdachlosen - und baut damit einen Kontrast auf, wie man ihn selten kompromissloser erlebt hat.
Kompromisslosigkeit ist auch so ein Merkmal von Carax, das seinen letzten großen Erfolg Holy Motors geprägt haben soll, wo er dies zusammen mit seinem Lieblingsschauspieler Denis Lavant (den er zu Beginn seiner Karriere quasi entdeckte) auslebte. Ich muss zugeben, dass ich diesen vielgelobten Film verpasst (und auch noch nicht nachgeholt) habe, aber ähnlich wie bei seinen frühen Filmen Mauvais sang, Boy meets Girl und natürlich Les amants du pont-neuf schuf er auch in Holy Motors Bilder, die noch lange beim Publikum nachwirkten. Und dies allein lässt manche Regiekollegen vor Ehrfurcht erblassen.
© 2021 Alamode Film
Annette ist ein fast zweieinhalbstündiges Musical (die Musik stammt von den Sparks, die in diesem Jahr mehr Aufmerksamkeit im Kino erfuhren als zum Höhepunkt ihrer Musiker-Karriere in irgendeinem Medium), in dem die Gesangsausgebildete Marion Cotillard (la Môme) und der als Co-Produzent fungierende Adam Driver (While We're Young, Paterson, BlacKKKlansman ein außergewöhnliches Prominenten-Traumpaar spielen, die wir als Publikum zum Höhepunkt ihrer Karriere kennenlernen.
Als »Henry McHenry« spielt Driver hier einen Stand-Up Comedian, der von seinen Fans abgöttisch geliebt wird - doch für uns als Kinobesuchende bleibt sein humoristisches Talent reine Behauptung. Immer wieder erleben wir mit, wie sein Publikum sich schier ausschüttet vor Lachen, doch er agiert ohne Überzeugung. Im Drehbuch steht doch schon drin, dass er der beste und witzigste ist - wozu dann noch einen Beweis antreten?
Besonders interessant (aber gleichzeitig auch abtörnend und frustrierend) war für mich die Beziehung zwischen Henry und seinem Publikum - exemplarisch an einem x-beliebigen Abend mit seinem Erfolgprogramm »The Ape of God«. Das Publikum lauscht, lacht und applaudiert. Oft singt es nahezu sofort beim Anstimmen eines Songs sofort lauthals und mit gutem Timing mit - man befindet sich halt in einem Musical. Doch zwei Minuten später gehört zur Show wohl ein kleiner Schockeffekt - und das gesamte Publikum, das eben noch so inbrünstig mitsang, als begleite es die Show bereits seit einer Woche Abend für Abend - reagiert nun konsterniert, ja traumatisiert - und dies ebenfalls wie aus einem Guss.
Es tut mir leid, aber diese varierende Künstlichkeit auf der Metaebene überfordert mich. Und sie nimmt mir die Möglichkeit, das Filmgeschehen irgendwie für bare Münze zu nehmen. Es gab eine Zeit, da sah ich gern die Videoclips von Björk (oft hatte Michel Gondry die Regie), die auch wie Teile von Musicals funktionierten. In Bachelorette wurde eine Schriftstellerinnen-Karriere zu enem gebastelten Kammerspiel, in Isobel landet man in einem Zauberwald wie von Charles Laughton, in It's oh so quiet gibt es gar eine veritable Tanznummer wie zum Showdown eines Musicals, während die tanzende Isländerin auf der Lastenfläche eines LKW in Big Time Sensuality die minimalistische Version einer solchen Nummer liefert. Ich könnte noch ein halbes Dutzend dieser Kleinode nacherzählen (und im günstigsten Fall erinnert sich der eine oder die andere an jene Zeit), aber im Gegensatz zu dem einen Musical, das Björk tatsächlich drehte (Lars von Triers Dancer in the Dark) würden diese einzelnen Clips, wenn man sie zweieinhalb Stunden lang hintereinander sehen müsste, mit einer eher vagen und wenig berauschenden Story, schnell einen Ermüdungseffekt erreichen. Und dieser prägt auch Annette, ein Film, der mit einer ca. achtminütigen Passage beginnt, in der einfach ein paar Musiker, Tänzerinnen, die Hauptdarsteller, die beiden Sparks-Masterminds und ein Kinderchor in einer Plansequenz von einem Musikstudio aus auf die dämmernde Großstadtstraße gehen und im Grunde singen »Jetzt geht's aber gleich los!« (laut meinen Notizen hieß der Song wohl »May we start«). Diese Filmstart ist Programm, da weiß man auch gleich, dass dies kein kurzer Film wird.
© 2021 Alamode Film
Bei Ann (Cotillard), die als Sopranistin in aufwendigen Säulenwäldern Opern schmettert, glaubt man deutlich eher, dass sie eine große Anhängerschaft hat, und meinetwegen haben sich hier auch zwei gefunden, die dann ihre Liebe durch ein Kind derselbigen ausdrücken können.
Wie bei einem griechischen Chor (oder den Nachrichtensendungen bei Baz Luhrmann) bekommt man als pointierte (und handlungsinternsive) Facetten immer mal wieder kleine Ausschnitte aus den »Showbizz News«, wo kurz erklärt wird, welche Schlagzeilen Henry und Ann verursachen. Dass ihr Kind aussieht wie Pinocchio mit Segelohren, wird hier nicht reflektiert (bloß nicht die Realitätsebenen durcheinander bringen ...).
Es liegt mir fern, die hochdramatischen Ereignisse der nächsten gefühlt anderthalb Stunden nachzuerzählen, bei denen neben dem Kind Annette noch Simon Helberg (manche kennen ihn als Astronaut Howard Wolowitz) als weiterer Künstler eine Rolle spielt. Nur so viel: die dargebotene Geschichte nebst ihren tragischen Verwicklungen konnte mich zu kaum einem Moment erreichen.
Für mich gehören zu den wenigen Höhepunkten des Films eine Szene, wo Henry mal in erregtem Zustand gegen eine Wand im Treppenhaus seines Hauses knallt, woraufhin einige der diversen Bilderrahmen mit Familienfotos abstürzen. Und in einer Szene, die gefühlt mindestens Wochen später spielt, wurden die noch immer nicht vernüftig aufgehängt. Außerdem eine Stelle, wo man sich von der (hervorragend gespielten) Marionette als Kleinkinddarsteller löst und stattdessen die inzwischen etwas größere Annette von einem echten Kind (Devyn McDowell) gespielt wird. Und zumindest hübsch waren die Hände, der im perkussiven Takt durch eine Milchglasscheibe zu sehen sind - wie in einem Zombiefilm. Und - last but not least - eine Veranstaltung, die mich als Freund des American Football ansprach: der sogenannte »Hyperbowl« - nebst half-time show.
Über ein paar Stunden verteilt, ist das aber leider zu wenig.
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Wenn mich die Musik mehr angesprochen hätte (ein weiterer Klassiker des Minimalismus vertont einfach nur den Star-Alltag mit sich abwechselnden Flughäfen unterschiedlicher Metropolen), wenn ich irgendwie mitgefühlt hätte mit den Figuren. Oder ich auch nur von den Geschehnissen, die die Lebensläufe der Hauptfiguren säumen, irgendwie mitgenommen worden wäre. Wenn's spannender, satirischer, künstlerischer, abgedrehter oder nachvollziehbarer gewesen wäre.
War's aber nicht. Und mein Plan, Holy Motors nachzuholen, wurde durch Annette auch nicht dringender.