Zwischen den Zeilen
(Olivier Assayas)
Frankreich 2018, Originaltitel: Doubles vies, Intern. Titel: Non-Fiction, Buch: Olivier Assayas, Kamera: Yorick Le Saux, Schnitt: Simon Jacquet, Kostüme: Jürgen Doering, Production Design: François-Renaud Labarthe, mit Guillaume Canet (Alain Danielson), Vincent Macaigne (Léonard Spiegel), Juliette Binoche (Selena), Christa Théret (Laure d'Angerville), Nora Hamzawi (Valérie), Pascal Greggory (Marc-Antoine Rouvel), Laurent Poitrenaux (Maxime Caron), Sigrid Bouaziz (L'amie éditrice), Lionel Dray (L'ami éditeur), Nicolas Bouchaud (David), Antoine Reinartz (Blaise - le libraire d'Arles), Aurélia Petit (L'invitée de Marc-Antoine), Thierry de Peretti (L'invité de Marc-Antoine), Violaine Gillibert (Paloma - l'amie de Marc-Antoine), Jean-Luc Vincent (Carsten - un écrivain), 108 Min., Kinostart: 6. Juni 2019
Eine meines Erachtens ganz gute Grundherangehensweise an den neuen Film von Olivier Assayas sind die drei sehr unterschiedlichen Titel. Im Original heißt der Film Doubles vies, also »Doppelleben« in der Mehrzahl. Der englische Titel lautet Non-Fiction - obwohl die Bücher, um die es im Film geht, größtenteils als Romane ausgewiesen werden. Der deutsche Titel schließlich, Zwischen den Zeilen, zeugt von der notwendigen Interpretation beim »Lesen« des Films.
Der Film beginnt mit einem Gespräch zwischen dem Schriftsteller Léonard Spiegel (Vincent Macaigne, Marvin ou la belle éducation) und seinem Herausgeber Alain Danielson (Guillaume Canet, Jeux d'enfants, »Dr. Ferrari« in The Program). Es wird viel gesprochen in diesem Film. Vor allem über Bücher, die größtenteils fiktiv sind. L√©onards Bücher werden zwar als Romane angepriesen, sind aber geringfügig kaschierte autobiographische Abrisse. Im Verlauf des Film entsteht der Eindruck, dass er rein fiktive Bücher gar nicht schreiben könnte.
Alain mag zwar seine Bücher, möchte aber sein neuestes Buch nicht veröffentlichen. Dieses Thema diskutieren die beiden fast gar nicht aus, aber Daniels Freundin, Selena (Juliette Binoche), ist ein Verfechter von Léonards aktuellem Werk. Somit haben die beiden auch viel zu besprechen.
© 2019 Alamodefilm. Alle Rechte vorbehalten.
Auch die anderen Figuren im Film kommen allesamt aus der Verlegerbranche oder dem Literaturbetrieb. Und so wird teilweise so viel gequatscht, dass man denken mag, dass Eric Rohmer oder Woody Allen im direkten Vergleich wortkarg wirken könnten.
Mein ganz persönlicher Eindruck von Frankreich ist, dass hier mehr als irgendwo anders über Literatur diskutiert wird. Und die zahlreichen Dialoge des Films liefern quasi eine Momentaufnahme des feuilletonistischen Diskurs dort. Es geht um nicht weniger als einen Paradigmenwechsel, wobei es Alain zugute kommt, dass er kaufmännisches Talent mit einem Gespür für den Zeitgeist verbindet.
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Wer sich für die Herausforderungen der Digitalisierung interessiert, wer es nicht als absurd abtun würde, Tweets und SMS mit Haikus oder den Alltagsversen von Stéphane Mallarmé zu vergleichen, wer letztlich schon mal darüber nachsann, dass man fürs Internet anders schreibt als für eine Buchpublikation, weil man im Netz den Gebrauch von Schlüsselbegriffe optimieren muss, für die Suchmaschinen-Optimierung und die sonstigen Algorithmen - dieser Menschenschlag wird sich in Doubles vies augenblicklich zuhause fühlen.
Olivier Assayas war schon immer ein Innovator des Kinos, oft aber, so widersprüchlich das klingen mag, gleichzeitig auch ein Traditionalist. Vieles bei ihm ist so zeitgenössisch, wie es überhaupt nur möglich ist, doch oft verquickt er dies mit einem Blick zurück. Nicht nur, was seine Sujets angeht (Après mai, Les destinées sentimentales), sondern auch bei seinem immer wieder prägnant eingebrachten Blick auf die Filmgeschichte, die er gerne zelebriert (Irma Vep, das alte Filmmaterial in Clouds of Sils Maria).
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Der Film, der rein thematisch Doubles vies am nächsten steht, ist die Drehbuchzusammenarbiet mit Roman Polanski für D'après une histoire vraie: Doppelleben, Fiktivisierung, art imitates life imitates art, die Gefahren der Literatur, wenn sie sich zu nah am Leben orientiert. Glücklicherweise ist Doubles vies aber nicht so ein verstaubter Rohrkrepierer, sondern wirkt - ungeachtet seines ungebremsten Dauer-Wortschwalls - so brandaktuell wie Personal Shopper. Jener Film, der vor allem dafür bekannt ist, dass die Filmkamera für gefühlt 20 Minuten auf ein Handy-Display fixiert bleibt, während das »wahre Leben« unscharf im Hintergrund abläuft.
Doubles vies funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip, nur narrativ gänzlich anders aufgezogen. Man erlebt diverse Diskussionen über Literaturtrends, wie eine gediegene Fernseh-Gesprächsshow mit wechselnden Settings. Ohne den akademischen Diskurs über die Zukunft des Buches in irgendeiner Form bagatellisieren zu wollen, spielt sich aber in der Peripherie zwischen den Filmfiguren, die man wie nebenbei langsam besser kennenlernt, auch so einiges ab, was aber lange Zeit fast im Schatten des Dauertalks zu verschwinden droht. Die Gespräche ersetzen teilweise die herkömmlichen narrativen Bausteine, was manchen Betrachter verwirren wird.
Und wie Assayas dies mit seinem ganz persönlichen Tempo langsam in den Film einbringt, das ist nicht jedermanns Sache, aber auf seine Art ganz große Filmkunst, die auf eine subtile unterschwellige Weise an die besten Werke von Rohmer oder Allen heranreicht, sie in Momenten sogar überflügelt. Nur mit einer zeitgenössischen, ja fast augenblicklichen Dringlichkeit, die nie das Faible seiner beiden Kollegen war.
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Die größte Schwäche dieses Films ist seine Subtilität. Nur, wenn man sich auf das Tempo und die Figuren einlässt, wird Doubles vies zu famoser Unterhaltung, die auch in Sachen Humor nach viel Vorlauf plötzlich knapp unter der Grasnabe einsetzt und sich unversehens aufschwingt - wenn man ihr den Raum dafür überlässt.
Eine der schönsten Ideen des Films erinnerte mich an eine alte Diskussion in der Deutschstunde, wo in Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns (ich hoffe, ich verdrehe es nicht komplett...) ein Hund an ein Wahlplakat der CDU pinkelt und unser Deutschlehrer damals aus uns herauskitzeln wollte, inwiefern dies ein politischer Kommentar sei. In Doubles vies gibt es eine Szene in Léonards Buch, die er sehr ähnlich so in einem Kino erlebte. Für den Roman verändert er nur den Film, statt des seinerzeit aktuellen Star-Wars-Streifen verwendet er Hanekes Das weiße Band - und daraus entstand nicht nur eine Diskussion darüber, inwiefern der Film und die Aktion im Kinosaal sich gegenseitig kommentieren... weil Léonard den Film als Seitenhieb gegen gewisse Intellektuelle wählte, ihn aber nie gesehen hat, droht er nun auch noch in die Bredouille zu geraten.
Und wie fein Assayas hier einige narrative Schichten miteinander verwoben hat, werde ich hier nicht mit einer umfassenden Spoiler-Aktion ausführen - das muss man sich schon selbst im Kino anschauen!