Marvin
(Anne Fontaine)
Frankreich 2017, Originaltitel: Marvin ou la belle éducation, Buch: Anne Fontaine, Pierre Trvidic, Kamera: Yves Angelo, Schnitt: Annette Dutertre, mit Finnegan Oldfield (Marvin), Grégory Gadebois (Dany), Vincent Macaigne (Abel), Catherine Salée (Odile), Jules Porier (Junger Marvin), Catherine Mouchet (Madeleine Clément), Charles Berling (Roland), Isabelle Huppert (Isabelle Huppert), 115 Min., Kinostart: 5. Juli 2018
Marvin ou la belle éducation (im Folgenden als Marvin abgekürzt, obwohl ich ja eigentlich auf Originaltitel stehe und der längere Titel durchaus eine weitergehende Aussage beinhaltet) ist so einer der Filme, mit denen ich nicht ganz warm wurde, aber dennoch als »interessant« einschätze. Dazu gehören mitunter auch schlichtweg gescheiterte Filme, bei denen es aber hochinteressant ist, diesem Scheitern beizuwohnen. Marvin (der Film) scheitert jedoch nicht in vollem Umfang, sondern nur, wenn es darum geht, mich als Zuschauer dort abzuholen, wo ich meinen Weg antreten möchte.
Titelfigur Marvin (schon auf dem Plakat sowohl als junger Mann wie auch als pubertierender Knabe abgelichtet) stammt aus prekären und homophoben Verhältnissen, entflieht diesen aber und wird dann auch noch ein hoffnungsvoller Theaterautor, der eben seine Vergangenheit zum Thema einer Bühnenabrechnung macht.
Im Film springt man immer mal wieder zwischen den beiden Phasen seines Lebens hin und her, was vor allem deshalb sinnvoll ist, weil Marvin gegen Ende des Films wieder mit seinen Wurzeln konfrontiert wird. Als Junge (Jules Porier) wird er in der Schule ... »gegängelt« oder »gemobbt« reichen hier nicht als Umschreibungen, man muss es schon eine sexuelle Misshandlung nennen, wie hier ein so homophober wie offenbar an allen Formen von Sexualität interessierter Schulkamerad mithilfe seiner »Schergen« mit dem scheuen und zurückhaltenden Marvin umspringt. Man verschmiert ihm etwa den Mund mit einem roten Edding, als handle es sich um Lippenstift, gefolgt vom Befehl »Jetzt bläst du mir einen, du kleine Nutte!«
Foto: Salzgeber
Das ist schon heftig, aber führt nur dazu, dass Marvin tatsächlich davon fantasiert, von seinem Peiniger liebkost zu werden. Dass dieser ihm vom Aussehen sehr gleicht (bis hin zur roten Haarfarbe), ist zwar deutlich in der Aussage, aber für meinen Geschmack zu hübsch und symbolträchtig zusammengesponnen.
In Marvins Dorf gibt es schon mal Graffiti (Mehrzahl ohne s) mit Sprüchen wie »Tod allen Schwulen«, Marvins Vater und sein älterer Bruder passen bestens in diese Stimmumg, wobei der Vater (eine Art Mischung aus Stacy Keach und einem von Jean-Marc Reiser gezeichneten Wildschwein) dem Jungen zumindest eine gewisse Freiheit lässt, während der Bruder das »Andere« in Marvin wahrnimmt und ihn dafür quasi »verpetzt«, jede Abweichung gegenüber den typischen heterosexuellen Männlichkeitsbildern betont und hervorhebt und dafür eine Strafe oder Veränderung fordert. Doch auch die proklamierten (und nachgesprochenen) Statements des Vaters wirken aus heutiger Sicht engstirnig, rückständig und etwas überzogen (»Seit die Todesstrafe abgeschafft wurde, sieht man nur noch Kinderschänder und Schwuchteln«, die alte Mär von der »Krankheit«).
Foto: Salzgeber
Ich bin mir während des Films nicht ganz klargeworden, wann er spielen soll, habe aber auch keine Einblicke in die französische Provinzmentalität - ich glaube, dies soll auch gewollt etwas offen bleiben. Abgesehen von des Vaters kleinen Tattoos (mir gefällt vor allem die »Würfel-Fünf«, die in ihrem Minimalismus schon fast an Helge Schneiders Körperkunst in Texas gemahnt) versprühen die Jugendszenen einen Flair der 1970er, was aber dann wieder nicht mit den pinken Sprüchen der »Sprayerszene« zusammenpasst. Ich würde einfach mal behaupten, dass es hier eher um universelle soziologische Veränderungen geht, und man nicht versuchen sollte, den Altersunterschied der beiden Marvins zu ermitteln (in der Vergangenheit öfters durchaus meine persönliche Herangehensweise).
Auf dem Weg zum älteren Marvin (oder gar zum künstlerischen »Happy End«) erfährt die Titelfigur Unterstützung. Von der theateraffinen Schuldirektorin, einem Schriftsteller / Theaterdozenten und schließlich sogar von der sich selbst spielenden Isabelle Huppert, die einem aufstrebenden Künstler natürlich durch ein Engagement große Medienwirksamkeit verschaffen kann.
Foto: Salzgeber
Beim sich parallel entwickelnden sexuellen Werdegang spielen vor allem eine Mitschülerin (die sind in solchen Biografien häufig sehr aktiv, siehe zuletzt Call me by your name, nur um dann als »Opfer der Liebe« am erzählerischen Straßenrand liegenzubleiben) und Charles Berling als begüterter »Mentor« Roland eine Rolle, wobei letzterer den rein kulturellen Kontrast zwischen schenkelklopfenden Dorfschranzen und elitären Akademiker- und Künstlerkreisen (siehe Originaltitel des Films) sehr deutlich in den Vordergrund setzt. Und gleichzeitig wie ein Starthilfe gebender »Konsument« auftritt, der sich von Jüngling zu Jüngling hangelt - weil er es sich leisten kann.
Hiermit komme ich jetzt auch zu meinem zentralen Kritikpunkt, den vielleicht nicht jeder Leser nachvollziehen kann: Regisseurin Anne Fontaine ist mir seit Jahren ein Begriff (Nathalie, Adore, Gemma Bovery), und dass sie in ihrem ambitionierten »Beziehungskino« nun einmal den heterosexuellen Raum fast gänzlich verlässt, ist ja durchaus eine interessante Richtung. Doch der von einem Roman von Édouard Louis (Das Ende von Eddy) inspirierte Film wirkt auf mich wie der ultimative Rundumschlag, der alle gängigen Bausteine, Themen und Klischees des schwulen Kinos in einem Aufwasch abarbeiten will. Als wenn man einen Western drehen will und vorher eine Liste aufstellt: wir brauchen eine Postkutsche, ein Fort, eine Saloonschlägerei, Indianer und noch 24 andere Punkte, die man am besten irgendwie miteinander verquickt, damit der Film keine fünf Stunden geht. Marvin schrappt knapp unterhalb der zwei-Stunden-Grenze entlang, wirkt auf mich wie ein Konzentrat, wo nicht zuletzt Regie und Darsteller das Zeug gehabt hätten, sich auf einige Themenbereiche zu fokussieren und diese etwas umfangreicher und tiefschürfender zu behandeln. Stattdessen hat man zwar das hübsche Spiel mit den zwei Zeitebenen, kann sich aber dennoch nicht des Eindrucks erwehren, dass hier ein voluminöser Katalog abgearbeitet werden muss (ich habe in meinem Text den »Schatz im Silbersee« oder Marvins Mutter noch gar nicht erwähnt!).
Foto: Salzgeber
Obwohl ich die Zweiteilung nicht misslungen finde, glaube ich, dass mir ein ganzer Film über den jungen oder den älteren Marvin besser gefallen hätte. Womöglich sogar ein Zweiteiler, der - ohne das Publikum zu überfordern - tiefer in die Materie hätte einsteigen können. Was genau ist der Hintergrund der ästhetischen Entscheidungen des Theaterprojekts? Was geschah später mit Marvins Peiniger? Wie kommt die Direktorin darauf, Marvins Talent zu entdecken? (Zu Beginn wirkt es so, als hätte sie mit der Theater-AG eher wenig zu tun.)
Das sind alles winzige Macken, kein Beinbruch oder Schädeltrauma, aber ich will und soll ja beschreiben, wie der Film auf mich wirkte, und da gibt es trotz aller Qualitäten einfach dieses nicht zu unterdrückende Gefühl, dass hier und da einfach noch etwas fehlt, und weil ich selbst nicht genau den Finger auf die vermutete Wunde legen kann, kann ich es auch nicht überzeugender schildern.
Vielleicht ist Marvin tatsächlich ein Film, der umso besser wirkt, wenn man noch nicht 20 Jahre Panorama-High- und Lowlights intus hat, sondern den ganzen Themenkomplex eher selten angerührt hat. Marvins Familie (bis auf den Bruder) hätte hier womöglich viele Aha-Erlebnisse, während Roland oder der Theaterdozent abwinken und sagen »Das habe ich schon zwölf Mal anders und auch besser gesehen«. Nur Isabelle Huppert, wie sie im Film auftritt, wäre hin und weg - weshalb sie mich als Filmfigur auch am wenigsten überzeugte (einige Kollegen waren voll des Lobes).