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23. Januar 2019
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Beautiful Boy (Felix van Groeningen)


Beautiful Boy
(Felix van Groeningen)

USA 2018, Buch: Luke Davies, Vorlagen: David Sheff, Nic Sheff, Kamera: Ruben Impens, Schnitt: Niko Leunen, Music Supervisor: Gabe Hilfer, Kostüme: Emma Potter, mit Steve Carell (David Sheff), Timothée Chalamet (Nic Sheff), Maura Tierney (Karen Barbour), Amy Ryan (Vicky Sheff), Kaitlyn Dever (Lauren), Timothy Hutton (Dr. Brown), Andre Royo (Spencer), Jack Dylan Grazer (Nic Sheff, 12), Zachary Rifkin (Nic Sheff, 8), Kue Lawrence (Nic Sheff, 5), 121 Min., Kinostart: 24. Januar 2019

Der flämische Regisseur Felix van Groeningen wurde bekannt durch seine Filme De helaasheid der dingen (dt.: Die Beschissenheit der Dinge) und The Broken Circle Breakdown (César-Gewinner und oscarnominiert). Bei beiden Filmen habe ich es trotz deutscher Kinostarts geschafft, sie zu verpassen, weiß aber zumindest, dass sie seinerzeit Kollegen positiv aufgefallen waren. Sein dritter Film Belgica ging dann komplett an mir vorbei, gewann aber in Sundance den Regiepreis. Und nun darf sich van Groeningen im US-Kino austoben, wenn auch mit einem von Gelegenheitsproduzent Brad Pitt gestützten Independent-Werk (oder ist Amazon inzwischen bereits ein Major?).

Beautiful Boy basiert auf zwei autobiographischen Sachbüchern der beiden Hauptfiguren. David Sheff (Steve Carell) war bereits ein renommierter Journalist, der vor allem für seine Interviews bekannt war, als er über die Drogensucht seines Sohns schrieb. Nic Sheff (Timothée Chalamet) wurde durch seine Erfahrungen (ein kleiner Spoiler) ebenfalls zum professionellen Autor und schrieb beispielsweise Drehbücher für die Fernsehserie The Killing. Die beiden Vorlagen zum Film hießen übrigens Beautiful Boy (vom Vater) und Tweak (vom Sohn).

Beautiful Boy (Felix van Groeningen)

Bild: François Duhamel © 2018 Amazon Content Sevices LLC.

Eine kleine digression, was den Vater angeht. Im Verlauf des Films erzählt man über das Szenenbild quasi nebenbei von David Sheff beruflicher Karriere. Das gestaltet sich nicht immer besonders subtil, aber vielleicht entspricht es auch akkurat seinem Naturell, dass er beispielsweise die erste Seite seines Playboy-Interviews mit Steve Jobs gerahmt an der Wand hängen hat. Eines seiner berühmtesten Interviews war wohl ein spätes mit den Beatles, und der Film- und Buchtitel Beautiful Boy ist natürlich auch ein Song von John Lennon, in dem er vermutlich von Julian Lennon singt. Es ist länger her, dass ich meine eine John-Lennon-CD hörte (Imagine-Soundtrack, großartiger Querschnitt durch sein Werk) und so googlete ich mal die Lyrics des Songs, die offenbar dem Sprößling die Angst vorm typischen »Monster unter dem Bett« nehmen sollten: »Close your eyes / have no fear / the monster's gone / He's on the run and your daddy's here« - Wenn man das »Monster« in diesem Zusammenhang geringfügig umdeutet, hat man schon einen guten Einblick in die Handlung des Films.

»It's about my son.« Der Film beginnt mit dem Gespräch des Vaters mit einem Psychologen, daraus entwickelt sich eine Handlung, die gern mal vor und zurück springt und das Problem der Drogenabhängigkeit sowie der Hilfsversuche des Vaters von beiden Standpunkten aus schildert, wobei auch die ähnlichkeiten der beiden Figuren immer wieder in den Fokus driften.

Beautiful Boy (Felix van Groeningen)

Bild: François Duhamel © 2018 Amazon Content Sevices LLC.

David hatte sogar mal mit Nic zusammen gekifft, gibt bereitwillig zu »Yeah, I did my share. I experimented with drugs.« Er war aber nicht vorbereitet auf die Tragweite es Problems seines Sohnes. »I was worried that you're doing too much pot. And meanwhile you're doing every drug on the planet. And hiding it. And lying...«

Während der Journalist die »Problemstellung« recherchiert (Crystal Meth googlen, aber auch mal selbst Erfahrungen machen), droht die gesamte Familie (David hat eine zweite jüngere Frau und zwei kleine Kinder) unter der Situation zu leiden. Und das nicht nur, weil die Ersparnisse des kleinen Jasper (Acht Dollar) plötzlich verschwunden sind und es einen Hauptverdächtigen gibt.

Beautiful Boy (Felix van Groeningen)

Bild: François Duhamel © 2018 Amazon Content Sevices LLC.

Die eigentliche Geschichte des Films wird interessant vorangetrieben, aber van Groeningen kümmert sich auch um den Stil der Inszenierung. Ob es um die eingeschränkte Wahrnehmung eines zugedröhnten Autofahrers geht, den tripartigen Musikeinsatz (selbst ein Bildschirmschoner wirkt hier wie ein Trip) oder die zentrale Metapher der Meeresbrandung, die schon als Geräusch den Film einleitet. Man spürt jederzeit, dass der Film gut durchdacht ist, was sicher auch an den zwei Buchvorlagen und dem Drehbuch liegt (Drehbuchautor Luke Davies schrieb neben den Filmen Lion und Life u.a. mal vor langem den mit Heath Ledger verfilmten Roman Candy).

Die Strandanalogie will ich jetzt nicht tot erklären, aber David und Nic teilten mal die Begeisterung für Wassersport, doch als der Sohn sich abenteuerlustig in tiefere Gefilde traute und der Vater zurückblieb, entstand eine Kluft, die nur schwer zu überbrücken ist.

Beautiful Boy (Felix van Groeningen)

Bild: François Duhamel © 2018 Amazon Content Sevices LLC.

Steve Carell, der ja schon seit längerem versucht, ein darstellerisches Standbein neben seiner Komikerherkunft zu finden, überzeugt hier mit einer sehr zurückhaltenden, aber dennoch emotionalen Leistung. Wo er in Foxcatcher für viele Zuschauer durch die Übertreibung fast wieder ungewollt komisch erschien, glänzt er hier - aber die Darstellung wird halt nicht als »oscarverdächtige« Großleistung wahrgenommen (in diesem Auszeichnungswimmel sowieso die größte Ungerechtigkeit, »bloße« Menschen werden kaum als Herausforderung gesehen).

Entsprechend war auch shooting star Timothée Chalamet (Call me by your name) für seinen Nic immerhin für den Golden Globe nominiert, musste sich aber gegenüber Mahershala Ali aus Green Book geschlagen geben. Bei den Oscar-Nominierungen wurden weder Chalamet noch Carell bedacht. Und der gesamte Film wurde quasi ignoriert, obwohl er deutlich besser ist als einiges, was dort vielfach bedacht wurde (selbst Mary Poppins Returns war da ja für vier Nominierungen gut).

Meiner unmaßgeblichen Meinung nach ist Beautiful Boy aber bisher der drittbeste Film des neuen Jahres (aktuell über dreißig gesichtet), und würde nicht Green Book auch noch im Januar starten, wäre der »Film des Monats« leicht verdient und sicher gewesen. Wobei ich mir gut vorstellen kann, dass viele Leute vor der Wahl zwischen diesen beiden Filmen durchaus Beautiful Boy besser finden werden. Vielleicht diesen Monat doch zweimal ins Kino gehen? Kann man durchaus machen (ich selbst werde wohl auf einen täglichen Schnitt von mehr als einem Film im Januar kommen - was ich aber nur so eingeschränkt empfehlen würde, solange man nicht noch jede Menge Meisterwerke abzuarbeiten hat statt vom aktuellen Ausstoß abhängig zu sein).