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21. Juni 2017
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Innen Leben (Philippe van Leeuw)


Innen Leben
(Philippe van Leeuw)

Dt. Titel: Innen Leben, Belgien / Frankreich / Libanon 2017, Buch: Philippe Van Leeuw, Kamera: Virginie Surdej, Schnitt: Gladys Joujou, Musik: Jean-Luc Fafchamps, Kostüme: Claire Dubien, Ausstattung: Kathy Lebrun, mit Hiam Abbass (Oum Yazan), Diamand Abou Abboud (Halima), Juliette Navis (Delhaini), Mohsen Abbas (Abou Monzer), Allisar Kaghadou (Yara), Elias Khatter (Karim), Ninar Halibi (Aliya), Moustapha Al Kar (Samir), Mohammad Jihad Sleik (Yazan), 85 Min., Kinostart: 22. Juni 2017

Der eigentümliche Titel InSyriated vereinigt die englischsprachigen Worte »incarcerated« (eingesperrt, eingekerkert) und »Syria« (Syrien), ich persönlich habe mit dem Gedanken gespielt, das Wortspiel als EingeSyrient zu übersetzen, aber auf Englisch klappt das schon deutlich besser. Dass man für den deutschen Titel auch ein Wortspiel ersann, jedoch mit deutlich anderer Aussage, hat mich nicht wirklich überzeugt.

Die Kraft des (Original-)Titels allein machte mich schon auf den Film neugierig, und durch die beiden Titel geht man mit einer gewissen Erwartung ins Kino, die auch keinesfalls enttäuscht wird. Man erlebt den Syrienkrieg hautnah, eingesperrt mit einer Gruppe von Personen, die sich wenig mit Politik befasst, aber notgedrungen mit der Realität des Krieges. Man kann nicht nur jederzeit draußen von einem Scharfschützen erschossen werden, sondern ist auch im eigenen Heim nicht sicher, weil gefährliche Fraktionen nach Besitztümern suchen und auch vor Mord und anderem nicht zurückschrecken.

Innen Leben (Philippe van Leeuw)

© Weltkino Filmverleih

Ich hatte einen langsamen Start in den Film, weil eine der ersten Szenen (auf der Straße, um die Gefahr greifbar zu machen und nicht ganz zum Kammerspiel zu geraten) für mich eher suboptimal umgesetzt war.

Doch umso gelungener fand ich es, wie man als Betrachter ganz langsam, nach und nach, mitbekommt, wie viele Personen in dieser Wohnung zusammengepfercht sind, und wie vielschichtig die Beziehungen zwischen ihnen sind. Zuerst sieht man einen alten Mann (Mohsen Abbas als Abou Monzer), der frühmorgens allein in einer Stube mit großem Regal sitzt und raucht. Später stellt sich heraus, dass er der Schwiegervater der »Hausherrin« Madame Oum Yazan (Hiam Abbass) ist, die in Abwesenheit ihres Mannes die Entscheidung trifft. Ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen: die Frauen sind in diesem Film die wichtigeren Figuren. Die philippinische Haushaltshilfe Delhani (Juliette Navis) beobachtet auf dem Hof, wie ein Mann von einer Scharfschützenkugel getroffen wird, er bleibt, von der Wohnung aus nicht sichtbar, hinter einem Autowrack liegen.

Innen Leben (Philippe van Leeuw)

© Weltkino Filmverleih

Der hauptsächliche Konflikt des Films besteht nun darin, dass die Chefin entscheidet, einer ebenfalls in der Wohnung einquartierten jungen Mutter nichts davon zu sagen, dass der Vater ihres Kindes womöglich gerade im Innenhof verblutet oder bereits gestorben ist.

Der Blick diverser Personen aus dem Fenster wird hier immer wieder zum Konfliktpotential, von Beginn des Films an. »Die Welt draußen ist vergessen, sie geht uns nichts an.« Wie unsinnig dieser Satz ist, wird im Film natürlich immer deutlicher, denn das »Innen Leben« funktioniert halt nicht ohne die Welt draußen, nicht nur Gefahren dringen in die Wohnung ein, zum Überleben benötigt man halt die Außenwelt.

Halima (Diamand Abou Abboud), die aufgenommene Mutter mit dem Baby, sagt mal, dass sie nicht weiß, wie sie der Madame für ihre Hilfe danken soll - und gleichzeitig schwebt im Raum der (womöglich logisch begründbare) Verrat der großzügigen Wohnungsbesitzerin am die Flucht planenden jungen Familienoberhaupt. Doch in Sachen Konfliktpotential reizt der Film noch so einiges aus.

Innen Leben (Philippe van Leeuw)

© Weltkino Filmverleih

Das Clevere am Film ist, dass er die kleinen Probleme kongenial mit den wirklich lebenserschütternden zusammenwirft. Da gibt es etwa so etwas lapidares wie eine Toilette, die wegen eines Vorfalls übel riecht, und eine Menge Leute auf engem Raum. Neben den bereits erwähnten Personen noch drei Kinder der Madame, darunter die pubertierenden Töchter Yara und Aliya sowie der kleinere Yazan. Yaras Schulfreund Karim (es scheint sich mehr zu entwickeln) ist mal bei einem Besuch von der Rückkehr abgehalten worden (ein Schusswechsel), und schläft jetzt kurzfristig auch in der Wohnung. Macht mit dem Baby und dem verschollenen Samir zehn, vermutlich schläft auch das männliche Familienoberhaupt (nur in Telefonaten und Dialogen präsent) normalerweise in der Wohnung.

Was die sich entwickelnde (und zuspitzende) Geschichte angeht, will ich nicht zu viel verraten. Nur, dass sich die Geschichte ganz klassisch im Verlauf eines Tages (streng genommen etwas über 24 Stunden) abspielt, und es noch zu wirklich dramatischen Szenen kommt, die ich so »hart« nicht erwartet hatte.

Dass dies einen aber nicht davon abhalten sollte, sich diesen Film anzuschauen, zeigt schon das nicht zu unterschätzende Detail, dass der Film bei der Berlinale den Panorama-Publikumspreis errang, den vielleicht aussagekräftigsten und fairsten Preis des ganzen Festivals.

Innen Leben (Philippe van Leeuw)

© Weltkino Filmverleih

Einige mir nahestehende Kritikerkolleg*innen waren aus für mich nur schwer nachvollziehenden Gründen nicht so beeindruckt vom Film, was ich darauf zurückführe, dass die mal wieder zu viel an Filmen in zu kurzer Zeit heruntergerattert hatten und deshalb gereizt und kurz vorm Einschlafen waren. Für mich ist InSyriated zusammen mit Moonlight und Elle klar einer DER Filme des Jahres 2017 - gerade auch, weil man hier mit geringem Budget eine wichtige Geschichte erzählt und wirklich alles herausholt aus den Möglichkeiten. Im Grunde überflügelt der Film sogar seine produktionstechnischen Grenzen, was auch im Kontext zum Filmthema betörend ist.

Für AfD-Wähler und andere Leute, die glauben, sie wüssten bereits alles, was man zum Thema Flüchtlingskrise wissen muss, sollte dieser Film Pflichtprogramm sein. Wer jemanden wie Diamand Abou Abboud, die für den Film mindestens eine Tapferkeitsmedaille verdient, nicht in seinem Land aufnehmen will, der sollte mal einen Tag unter den hier geschilderten Bedingungen verbringen...