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15. Februar 2017
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Elle (Paul Verhoeven)


Elle
(Paul Verhoeven)

Frankreich / Deutschland / Belgien 2015, Buch: David Birke, Lit. Vorlage: Philippe Djian, Kamera: Stéphane Fontaine, Schnitt: Job ter Burg, Musik: Anne Dudley, Kostüme: Nathalie Raoul, Ausstattung: Laurent Ott, mit Isabelle Huppert (Michèle), Charles Berling (Richard), Anne Consigny (Anna), Laurent Lafitte (Patrick), Virginie Efira (Rebecca), Christian Berkel (Robert), Judith Magre (Irène), Jonas Bloquet (Vincent), Alice Isaaz (Josie), Vimala Pons (Hélène), Raphaël Lenglet (Ralf), Arthur Mazet (Kevin), Lucas Prisor (Kurt), 130 Min., Kinostart: 16. Februar 2017

So provokant, wie Paul Verhoeven seinen bereits mit zwei Golden Globes ausgezeichneten Film gestaltet hat, kann man als Kritiker eigentlich nur darauf reagieren, indem man den Tonfall aufnimmt. Umgeben von Idioten unterschiedlicher couleur, überschreitet Isabelle Huppert als Hauptfigur Michèle viele gesellschaftliche Grenzen, wobei man insbesondere die Kombination von einer Geschichte, die man im Endeffekt im Genre rape revenge ansiedeln muss, mit einer (weiblichen!) rape fantasy gerade einem sagen wir mal »dubiosen« Regisseur wie Verhoeven (Showgirls mag man noch als verkanntes Meisterwerk durchgehen lassen, aber Hollow Man hat es schon schwerer) eigentlich nie und nimmer durchgehen lassen würde.

Aber nicht nur ist diese Elle (die zweite Hälfte vom Vornamen der Darstellerin wirkt ungleich poetischer als der korrekte Rollenname, in dem die Silbe quasi auch vorkommt) eine Frauenfigur, wie sie in der Filmgeschichte wohl ohne Gleichen ist - und wer auch immer in den USA diese Rolle nicht übernehmen wollte, kann sich eigentlich jetzt dauerhaft vor die Stirn hauen. Nein, Elle ist auch ein Platzhalter für ihren Regisseur, und das mache ich jetzt an einem schon in sich unbequemen Filmzitat fest: »Findest du, dass ich für mein Alter eng bin?«

Elle (Paul Verhoeven)

© 2016 SBS Productions, Twenty Twenty Vision Filmproduktion, France 2 Cinéma & Entre Chien et Loup

Die 63jährige Huppert, die in ihrer Filmrolle noch über die Gefahren einer Schwangerschaft sinniert, spielt hier eine Frau, die vermutlich eher Anfang als Ende Vierzig sein soll - und das nimmt man ihr auch durchaus ab. Auch Paul Verhoeven hat für sein Alter (79) noch eine Menge friction (aus irgendwelchen Gründen finde ich die englische Vokabel für die physikalische »Reibung« hier ungleich passender), und wenn man die Sex-Analogie mal mitdenkt, zeichnen einen guten Film doch Regelbrüche (wenn sie vernünftig eingesetzt werden) durchaus aus. Das continuity editing des klassischen Studio-Hollywoods zeugt von Routine und Harmonie (alles läuft wie am Schnürchen!), aber die Jump-Cuts in Godards A bout de souffle sind hier doch ungleich prickelnder, wirken wie etwas weitaus interessanteres als die immergleiche Missionarstellung, der cineastische Blümchensex.

Nicht jeder will zwischendurch mal einen Klaps auf den Arsch, aber Verhoeven scheut zumindest nicht vor progressiven und manchmal rabiaten Lösungen zurück. Akkurat verlegte Dolly-Gleise sind ja ein tolle Sache, aber hin und wieder wird man durch eine holprige Wackelkamera auch mal wachgerüttelt im Kinosessel. In der Geschichte des Kinos reicht das einträchtige, langsame Kino mit establishing shots irgendwann nicht mehr, das Publikum verlangt nach neuen Reizen, Überraschungen, Schocks, extremer Geschwindigkeit - und bekommt dann von den Regie-Jungspunden so etwas wie The Raid oder Hardcore Henry - wo ich mich dann doch eher verabschiede.

Elle (Paul Verhoeven)

© 2016 SBS Productions, Twenty Twenty Vision Filmproduktion, France 2 Cinéma & Entre Chien et Loup

Wie diese Filme wirkt Elle keinesfalls. Nicht durchgehend, nicht einmal überwiegend. Aber zwischen der gediegenen Bürgerlichkeit der oft an Chabrol erinnernden Geschichte blitzt dann immer mal wieder etwas auf, was dem Film eben diese (durchaus auch thematische) friction gibt, an der man sich vermutlich sogar aufreiben könnte ... wenn man nicht einfach neidlos zugeben muss, dass Verhoeven hier ziemlich exakt weiß, was er macht - und er macht das so toll, dass all die Zweifel, die zwischendurch aufkommen, doch irgendwie verfliegen. Oder, um kurz zum Sex-Gleichnis zurückzukommen: Man denkt kurz »Moment, darf man so was eigentlich machen? ist das nicht amoralisch, verwerflich oder gar gesundheitsschädigend?«, muss dann aber zugeben, dass es verdammt geil ist (und ich möchte hier betonen, dass ich das gänzlich aufs Filmische und Inszenatorische beziehe, sexuelle Gewalt wird hier keineswegs verherrlicht oder ästhetisiert - wie viele Fettnäpfchen Verhoeven hier gezielt aufbaut, um dann immer wieder knapp vorbeizustreifen, ist schon bemerkenswert). Ein US-Kollege formuliert es unnachahmlich treffend:

A restless filmmaker with a devilish funny streak, Verhoeven [...] exerts a tonal control over Elle so complete that when you're putting the mov[i]e together again in your head you'll wonder how it could have gone so right.

Elle (Paul Verhoeven)

© 2016 SBS Productions, Twenty Twenty Vision Filmproduktion, France 2 Cinéma & Entre Chien et Loup

Von den haarscharf umkurvten Fettnäpfchen-Momenten gibt es einige. Wenn etwa die jungen, nur bedingt lebenstüchtigen Programmierer in Elles Videospiel-Betrieb das Gesicht der Chefin, die sie fürchten, aber irgendwie auch begehren, krude in einer CGI-Passage der von einem Tentakelmonster geschändeten weiblichen Spielfigur »aufsetzen«. Oder wenn Verhoeven in diesem »erwachsenen« Film, den man eher »Arthouse« als »Thriller« bezeichnen würde, irgendwann mit dem Selbstbewusstsein und der Chuzpe seiner Hauptfigur eine Splatter-Einstellung einbaut, die uns daran erinnert, dass er auch der Regisseur von Robocop und Starship Troopers war.

Die im Nachhinein noch am fragwürdigsten einzustufende Entscheidung ist wohl die gesamte Geschichte um den Vater der Hauptfigur, einen vielfachen Mörder, der einen zunächst kaum einzustufenden Einfluss auf Elle hat. Doch um die Story auf diversen Ebenen gleich zu Beginn des Films ins Rollen zu bringen, nimmt man auch diese etwas trashige Wendung hin. Und wie Verhoeven selbst betont: »It's a story, not real life, nor a philosophical vision of women!«

Elle (Paul Verhoeven)

© 2016 SBS Productions, Twenty Twenty Vision Filmproduktion, France 2 Cinéma & Entre Chien et Loup

Und was für eine Story, was für eine Frau! Die Huppert erzählt im Interview, dass sie sich mal mit Philippe Dijan, dem Autor der Romanvorlage, getroffen hatte, und der ihr sagte, dass er sie beim Abfassen einiger Passagen durchaus vor Augen hatte. Und wenn man sich die Filmographie von Isabelle Huppert anschaut, ihr halbes Dutzend Filme mit Claude Chabrol, darunter den seinerzeit aufrüttelnden Une affaire de femmes, La pianiste mit Haneke, aber auch ihre sporadisch auftretenden Versuche, eine US-Karriere zu starten (Heaven's Gate, The Bedroom Window), dann wirkt Elle, jene Rolle, vor der andere zurückschreckten, wie die Kulmination einer Karriere, die eigentlich mit einem Oscar gekrönt werden müsste - wäre da nicht die amerikanische Sehnsucht nach Erfolgsstorys und dem mit La La Land zu stürzenden Rekord der meisten Goldmännchen. Ich mag ja Emma Stone und auch ihren Film, aber im Grunde kann man diese Darstellungen und die beiden Rollen nicht einmal ernsthaft miteinander vergleichen, dann landet man wieder beim Blümchensex à la PG13, während Elle »the real thing« ist: schwitzend-stinkend, hinter verschlossenen Türen und nicht geeignet für ein Tischgespräch mit der Schwiegermutter. Aber eben auch einem (filmischen) Großereignis, das man auch noch Jahre später nicht einfach vergessen hat.