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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




Dezember 2007
Thomas Vorwerk
für satt.org


Madonnen (R: Maria Speth)
Madonnen (R: Maria Speth)
Madonnen (R: Maria Speth)
Madonnen (R: Maria Speth)
Madonnen (R: Maria Speth)
Madonnen (R: Maria Speth)

Madonnen
(R: Maria Speth)

Deutschland 2007, Buch: Maria Speth, Kamera: Reinhold Vorschneider, Schnitt: Dietmar Kraus, Ludo Troch, Dörte Völz-Mammarella, Maria Speth, mit Sandra Hüller (Rita), Luisa Sappelt (Fanny), Coleman Orlando Swinton (Marc), Susanne Lothar (Isabella), Gerti Drassl (Hanna), Olivier Gourmet (Jerome Vassé), Ariana Lewis (Isa), Kenneth Uhle (Paul), Elli Götze (Maggie), Jermaine Tyrell Sanders (J. T., 2 Jahre), DeVante Latrell Jackson (J. T., 1,5 Jahre), Martin Goossens (Philippe Vassé), Isabella Soupart (Valérie Vassé), Jérémie Segard (Louis Vassé), 125 Min., Kinostart: 6. Dezember 2007

Maria Speth, die sich schon in ihrem Regiebedüt in den tag hinein mit einer eigenwilligen Frauenfigur beschäftigte, kann man mit ihrer elliptischen Erzählweise und den Laien- (weil Kinder-) Darstellern recht klar zur “Berliner Schule” zählen, und da, wo Petzold und Schanelec mit dem französischen Kino kokettieren, lässt Speth ihren Film von den Dardenne-Brüdern koproduzieren und inszeniert einen Teil des Films in Belgien, sogar mit dem Lieblingsdarsteller der Dardennes, Olivier Gourmet.

Die “jüngfräuliche Empfängnis” dieses Films, wie sie mir noch auf dem Forum des internationalen Films möglich war, wo ich eigentlich außer den drei bekanntesten Darstellern, der Regisseurin und dem Titel nichts über den Film wusste, dürfte jetzt nicht mehr möglich sein, Madonnen scheint mittlerweile u. a. als “der Film mit den vielen Kindern” bekannt zu sein, denn der Titel ist vor allem provokativ gemeint, und Sandra Hüller (zu Recht ausgezeichnet für Requiem) als junge Mutter Rita stellt hier den klaren Gegenentwurf einer ikonenhaften, unbefleckten Mutterfigur wie der Maria dar. Rita lebt unbekümmert in den Tag hinein, wird in Deutschland wegen Diebstahl und anderen Delikten gesucht, und sucht wohl auch deshalb erstmals Kontakt zu ihrem leiblichen Vater (Olivier Gourmet) in Belgien. Der Beginn des Films in Belgien wirkt teilweise noch komödiantisch, doch mit der zwangsweisen Zurückversetzung nach Deutschland kommt die Realität zurück, und der Zuschauer wird mit Ritas Strafvollzug und Lebensstil konfrontiert. Und mit den vielen Kindern, die offenbar von unterschiedlichen Vätern stammen, von denen allenfalls einer noch mal am Rande auftaucht. Ritas Mutter Isabella (Susanne Lothar) kümmert sich während der Haftstrafe um ihre Enkelkinder, was ihr als selbstständiger Restaurantbetreiberin nicht unbedingt leicht fällt. Die älteste Tochter Fanny (nicht nur aufgrund ihrer physiognomischen Ähnlichkeit mit Sandra Hüller großartig: Luisa Sappelt) übernimmt hier bereits früh eine Art Mutterrolle, und um die Mutterrollen und die von den früheren Generationen übernommenen Verhaltensmuster geht es in dem Film, der einem nicht eben das Gefühl gibt, daß Fannys Jugend und Zukunft ganz anders verlaufen wird. Und das trotz folgendem Dialog:

Fanny: “Kannst Du bitte damit aufhören?”
Rita: “Womit soll ich aufhören?”
Fanny: “Du sollst aufhören, Kinder zu machen.”

Für weibliche Zuschauer mag dieser Film verstörend sein, doch ungeachtet der Fehler, die Rita als Mensch und Mutter begeht, zeichnet den Film auch eine Liebe und Zärtlichkeit aus, die manches Kind bei einer “vorbildlichen” Mutter nicht erfahren haben wird. Rita ist keine Heldin (bestimmt nicht), aber der Film gibt Anlass, Mutterrollen generell mal zu überdenken. Wie Rita mit geringsten Mitteln und ohne ein Beharren auf einen (Ersatz-)Vater für ihre Kinder eine halbwegs funktionierende Großfamilie aufbaut, erinnert teilweise zwar an die (mutterlosen) Familien in Nobody Knows oder Demi-Tarif, trotz all ihrer Fehler und oft unverständlich wirkenden Entscheidungen bleibt sie aber bis zuletzt für vorbehaltlose Betrachter dennoch eine Identifikationsfigur, deren ganz persönliche Wünsche zwar der Mutterrolle untergeordnet werden sollten (so verlangt es zumindest die Gesellschaft), die man aber - und hier ähnelt der Film nicht nur Lucy oder (in Maßen) Die Kinder sind tot, sondern auch Requiem - in ihrer Suche nach Zärtlichkeit und dem Versuch, vor dieser Mutterrolle wie vor einer Gefängnisstrafe zu entfliehen, auch verstehen kann. Doch erstaunlicherweise scheinen sich mehr Zuschauer mit einem flüchtigen Verbrecher zu identifizieren zu können als mit einer Mutter, die nicht dem gängigen Bild entspricht...