Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




Februar 2007
 

Cinemania 43: Kurz und schmerzlos [Berlinale 2007, Teil V]
Der Kurzfilmwettbewerb auf der Berlinale wurde diesmal wieder geballt in zwei Veranstaltungen präsentiert, und zu neun der 16 Beiträgen (darunter allen Preisträgern, bei denen jeweils noch die Laudatio wiedergegeben ist) hat satt.org-Filmredakteur Thomas Vorwerk einige Sätze geschrieben.


Cinemania-Logo
Cinemania 43:
Kurz und schmerzlos
[Berlinale 2007, Teil V]

[Alle Rezensionen von Thomas Vorwerk]

Berlinale 2007

Raak (Hanro Smitsman)

Int. Titel: Contact, Niederlande 2006, Buch: Philip Delmaar, Anjet Daanja, Hanro Smitsman, Kamera: Joost Rietdijk, Schnitt: Marc Bechtold, Musik: Foons Markies, mit Nino van der Lee (Rik), Camilla Siegertz (Mirna), Juda Goslinga (Martin), Jelka van Houten (Ingrid), Leon Voorberg (Rene), 10 Min.

Gewinner des GOLDENEN BÄREN "für einen brillanten Film, der sich der großen Themen Liebe, Wut und Verzweiflung mit viel Humor annimmt. Wir ehren den Regisseur für sein Können, dieselbe Story aus drei Blickwinkeln ausgesprochen kompakt zu erzählen."
Wofür Alejandro González Iñárritu im Normalfall zwei Stunden braucht, nämlich die Zusammenführung einer facettenhaften und komplexen Erzählung aus mehreren Perspektiven (In diesem Zusammenhang erinnere ich mich gerne an einen Werbefilm für The Guardian, der Anfang der 1990er im Umlauf war), das schafft dieser niederländische Film in zehn Minuten. Und dabei ist die Geschichte auch mindestens so erzählenswert wie Iñárritus von mal zu mal ermüdender wirkende narrative Fingerübungen. Es beginnt mit einem radfahrenden Knaben, der im Vorbeifahren die Rückspiegel parkender Auto tritt. Ein Erwachsener regt sich darüber auf, eine Frau versucht ihn zu beruhigen, und später wird der Junge vom Autofahrer im Vorbeifahren beworfen, was dann wieder zur nächsten "Aufrüstung" führt, einem Stein von der Autobahnbrücke. Hört sich soweit nicht sehr komisch an, doch dadurch, daß man dieselbe Geschichte noch aus zwei weiteren Blickwinkeln miterlebt, kann man plötzlich die eskalierende Gewalt vielleicht nicht verstehen, aber zumindest nachvollziehen. Die Querverbindungen zwischen den einzelnen Figuren sind interessanter als die eigentlichen Handlungen, Buch, Regie und Schnitt sind kompakt (mir ist bewußt, daß dieses Wort auch in der Laudatio vorkam - es gibt aber kein passenderes) und vor allem präzise. Ein verdienter Gewinner.

La leçon de guitare (Martin Rit)

Int. Titel: The Guitar Lesson, Frankreich 2006, Buch: Martin Rit, Mariette Désert, Kamera. Huang Duc Ngo Tich, Schnitt: Damien Maestraggi, mit Serge Riaboukine, Sébastien Morin, Pauline Morand, Luc Moullet, 18 Min.

Schon 13 Uhr 21. Michel, ein etwas schlampiger Typ, der wie Jean-Pierre Leaud vor zwanzig Jahren wirkt, kommt auf die Idee, Gitarre zu lernen. Er hat keine Gitarre, keine Ahnung, kein Lieblingslied und offensichtlich nichts besseres zu tun. Sein Gitarrenlehrer David will ihm Laetitia von Serge Gainsbourgh beibringen ("d'accord!" - "C'est pas facile"), Michel trifft nebenbei auf Davids Mitbewohnerin, die es ulkig findet, daß er ausgerechnet dieses Lied lernt, ist Laetitia doch auch ihr Name. Besessen übt Michel zu Hause seine Griffe, nach und nach klären sich die Zusammenhänge. Eine nette kleine Miniatur, wie sie François Truffaut Mitte der 1960er hätte gedreht haben können.

Annem sinema ögreniyor (Nesimi Yetik)

Int. Titel: My Mother learns Cinema, Buch: Dudu Yetik, Nesimi Yetik, Kamera: Nesimi Yetik, Schnitt: Bans Sahin, mit Dudu Yetik (Mutter), Nesimi Yetik (Sohn), 4 Min.
Gewinner des DAAD Kurzfilmpreises "für seine brilliante, kinematografische Einfachheit".


“Aki Kaurismäki, Abbas Kiarostami - Aki Kaurismäki, Abbas Kiarostami”. Es gehört schon Fingerspitzengefühl dazu, jemandem die Feinheiten des Kinos beizubringen, so wie es der Regisseur dieses minimalistischen Streifens bei seiner kopftuchtragenden Mutter versucht. Der Lehrer liest die Namen bekannter, grösstenteils europäischer Regisseure ab, die Schülerin muss wiederholen, bei falscher Aussprache wird das ganze wiederholt. Zwischendurch gibt es mal eine kleine Pause, bei der die beiden in Eintracht Popcorn essen, und für den Zuschauer wirkt das Ganze ebenso amüsant wie befremdlich, denn was nützt es mir, wenn ich den Namen “Rainer Werner Fassbinder” korrekt aussprechen kann, aber nichts über das Werk dieser Person weiß. Doch während des Abspanns geht das Gespräch weiter, und man erfährt, daß die Mutter beispielsweise durchaus eine Meinung dazu hat, ob etwa Lars von Trier oder Michael Haneke moralischer sei. Und spätestens, wenn der Sohn die (im Film nur vierminütige) Lehrstunde abbrechen will, die Mutter aber darauf besteht, daß man solange wartet, bis der Abspann vorbei ist, zeigt sich, daß der Wissensvorsprung doch nicht so groß ist.

Nihon no katachi: Shazai (Namikibashi)

Int. Titel: The Japanese Tradition: Shazai, Japan 2006, Buch: Namikibashi, Kamera, Schnitt: Junji Kojima, Musik: Saigen Tokuzawa, mit Kentaro Kobayashi, 3 Min.

Dies ist eindeutig der Film des Wettbewerbs, den ich gerne auf DVD hätte (vielleicht nächstes Jahr im Tip?), um ihn mehrfach ganz in Ruhe anzuschauen. In einer ganzen Reihe von Filmen (2001: Dogeza, 2002: Sushi, 2003: Relationships) präsentiert das Regiekombinat Namikibashi (Kentaro Kobayashi & Junji Kojima) japanische Traditionen, wie sie vielleicht ein amerikanischer Reiseveranstalter seinen Animateuren nahebringen würde. Beim Shazai, der feinen Kunst der Verbeugung, sieht man jeweils dreimal auf der Leinwand den als japanischen Geschäftsmann ausstaffierten Komiker Kentaro Kobayashi, der im Verlauf des Films immer tiefere Verbeugungen ausführt, und dabei schließlich wie bei einer rückwärts ablaufenden Evolution schier im Fußboden zu verschwinden scheint. Dazu werden Informationen eingeblendet, in welchem Fall man die jeweilige Verbeugung anwenden sollte (etwa als Geschäftsführer eines Restaurant, wenn die Kellnerin einem Kunden Wein über die Hose gegossen hat), oder was man dabei besonders beachten sollte (Wenn man als Ninja versagt hat, kniet man nieder, sollte aber immer noch nahende Angreifer rechtzeitig ausmachen). Dem Thema entsprechend ist der Witz mitunter eher subtil, aber das westliche Publikum kann sich dabei trotzdem vor Lachen ausschütten.

Mei (Arvin Chen)

Taiwan / China / USA 2006, Buch: Arvin Chen, Kamera: Nelson Cragg, Schnitt: Justin Guerrieri, Musik: Jacob Shea, mit Jack Yao (Jian), Dori Wu (Mei), Bi Zr Gang (Lu), 11 Min.

Gewinner des SILBERNEN BÄREN (gemeinsam mit Decroche) für "die wunderschöne und zärtliche Geschichte einer bedingungslosen Liebe vor dem Hintergrund einer pulsierenden Großstadt." Jian ist oft bei Lus nach seiner Tochter Mei benannten Nudelstand gewesen. So oft, daß Lu und Mei meinten, er könne ja auch gleich dort arbeiten. Schon bei diesen Eingangsworten ist es offensichtlich, daß Jian in Mei verliebt ist. Und über den Verlauf einiger Abende erlebt man immer wieder dasselbe Ritual: Er bietet ihr an, sie auf seinem Moped mitzunehmen, sie antwortet: "No thanks, I'll see you". Es verbleibt die Hoffnung, daß sie irgendwann doch mal auf sein Angebot eingeht. Doch Mei muss zumeist ihren inzwischen "zum Vergessen" (die Mutter ist nirgends zu sehen) betrunkenen Vater Lu aus irgendwelchen Kneipen nach Hause bringen. Mei will eigentlich nach New York, und irgendwann vertraut der alte Lu dem Tellerwäscher Jian an, daß sie es diesmal vielleicht sogar durchzieht. Doch beide wissen eigentlich, daß Mei ihren Vater nie alleine zurücklassen würde, schon wenn irgendwelche Touristen auf Englisch nach Empfehlungen fragen, wäre er allein ja völlig aufgeschmissen.
In elf Minuten erzählt der Film sehr subtil eine kleine Liebesgeschichte, lässt sich nebenbei Zeit dafür, auch die Stadt und ihre Menschen zu skizzieren, und das Ganze wirkt so, al hätte Wong Kar-Wei einen kleinen Werbefilm (wofür, verrate ich hier nicht) gedreht. Und das ist ein Lob.

Decroche (Manuel Schapira)

Int. Titel: Pick-up, Frankreich 2006, Buch: Manuel Schapira, Kamera: Antoine Monod, Schnitt: Samuel Danesi, Nathalie Langlade, Musik: Grand Corps Malade, mit Laetitia Spigarelli, Luci Sanchez, Stéphane Medez, Thomas Chabrol, Fred Epeaud, Charles Templon, Fabien Marsaud, Jacky Ido, 16 Min.

Gewinner des SILBERNEN BÄREN (gemeinsam mit Mei) für "eine kurze, liebenswerte Komödie, die gelungen unser Unvermögen zu kommunizieren illustriert. Sie zeigt die Tücke des digitalen Zeitalters, dass die Menschen einer Telefonstimme leichtgläubig vertrauen."
Eine junge Frau verlässt ihr Appartement nicht, sondern ruft die aus dem Fenster gut sichtbare Telefonzelle an, sobald ein interessanter junger Mann daran vorbei geht. Nicht alle heben den Hörer ab (der internationale Titel Pick-up ist sehr schön doppeldeutig), doch wenn es passiert, entwickeln sich schon mal interessante Gespräche.
"Ich habe nichts besseres zu tun als in der Kälte zu stehen, und mit jemandem komplizierten zu reden, den ich nicht kenne." Der Regisseur scheint auch recht schüchtern und ein bißchen kompliziert, aber als Zuschauer neigt man ja dazu, so etwas hineinzuinterpretieren (und mancher Regisseur "spielt" ja auch gern solch eine Figur). Amüsant, mit prominenter Besetzung, aber das Ganze wirkt oft ein bißchen zu improvisiert …

The Night before Christmas (Sam Bassett)

USA 2007, Buch, Kamera, Schnitt: Sam Bassett, Lit. Vorlage: Clement Clarke Moore, mit Constance Colt Bassett (The Matriarch), 8 Min.

Das bekannte Gedicht The Night before Christmas wird von der Großmutter des Regisseurs in Zeilenhäppchen vorgetragen, dabei gibt es nebenbei immer wieder Kostüm- und Schauplatzwechsel, mitunter subtil, manchmal auch etwas platt wird über das Bild auf den Text verwiesen. In den besten Momenten erinnert das Ergebnis an John Smiths Regression, aber amüsant ist der Film auf jeden Fall. Was man nicht über alle Kurzfilmbeiträge sagen kann (auch eine Viertelstunde kann in "gefühlter Zeit" wie eine Stunde wirken).

Rotten Apple (Ralitza Petrova)

Großbritannien 2006, Buch, Schnitt: Ralitza Petrova, Kamera: Nemone Mercer, Musik: Birger Clausen, mit Nathaniel Gleed, Glenn Conroy, Tania Kereishi, 14 Min.

Gewinner des Prix UIP. "Mit visueller Frische wird die Suche eines Jungen nach einem normalen Familienleben gezeigt."
Auch in diesem Beitrag werden nebenbei viele Pointen geliefert, und auch visuell hat man sich viel Mühe gegeben. Die Geschichte hingegen ist einerseits schwer greifbar, wirkt aber gleichzeitig so, als hätte man sie schon ein Dutzend mal gesehen.

Bus (Jens Schillmöller)

Deutschland 2007, Buch: Lale Nalpantoglu, Jens Schillmüller, Kamera: Steph Ketelhut, Schnitt: Benjamin Ikes, mit Michael Schreiner (Chef), Elke Bludau (Anhalterin), Ulrike Prager (Golf-Fahrerin), 9 Min.

Ein Auto wird mit Kelle angehalten. "Ihr Bremslicht ist kaputt", wird aber auch gleich repariert, "zu einem guten Preis". Eine seltsame Gruppe ist in einem Bus unterwegs, verschönert Raststättentoiletten, steuert zu einem frugalen Mal die Tischdecke und Begleitmusik dazu, und hält danach unkompliziert immer die Hand auf. Bis das ganze durch eine Anhalterin, die der Chef umsonst mitnehmen will, etwas in Schieflage gerät. Die Autobahn als beliebter Schauplatz von Nachwuchsfilmern, eine Geschichte, die von Muxmäuschenstill und Weltverbesserungsmaßnahmen inspiriert scheint. Wirkt ein wenig wie der deutsche Alibi-Beitrag zum Wettbewerb, was ein schlechtes Licht auf die aktuellen Produktionen wirft.

Coming soon in Cinemania 44: Berlinale für alle [Berlinale 2007, Teil VI] / Kinostart Frühjahr 2007:
Rezensionen zu aktuellen Kinostarts, die teilweise gerade erst auf der Berlinale präsentiert wurden: Don, Fast Food Nation, The Good German, Lotte im Dorf der Erfinder, Ein perfektes Paar, La vie en rose …