Oskar Panizza war ein Einzelgänger und Querdenker der Münchner Moderne. 1853 als Sohn eines überzeugten Katholiken und einer dem Pietismus verpflichteten Mutter geboren, führte er ein von Skandalen begleitetes Literatenleben. Immer wieder eckte er, der sich an Monarchie, Obrigkeitsstaat und Kirche im Kaiserreich abarbeitete, an, wurde ins Gefängnis gesteckt und seine Werke verboten. Selbst ins Exil musste er aufgrund seiner Meinungen gehen. Die sechzehn letzten Jahre seines Lebens verbrachte er entmündigt in einem Sanatorium bei Bayreuth, gebrochen von den unentwegt tobenden Kämpfen, die er zu führen hatte, und verstarb 1921 nach wiederholten Schlaganfällen. Seiner Familie war das Schaffen des verstoßenen Sohnes derart unangenehm, dass nicht einmal ein Grabstein für ihn gesetzt und der Großteil seines unveröffentlichten Nachlasses vernichtet wurde.
Aus seiner Feder stammt die Kurzgeschichte „Die Menschenfabrik“, die Michael Meier jüngst für einen 56-seitigen Comic adaptiert hat. „Die Menschenfabrik“ erzählt die Geschichte eines Reisenden, der bei einem Tagesausflug die Orientierung verliert, und bei Einbruch der Dunkelheit ein Nachtquartier sucht. Erschöpft erreicht er ein riesengroßes, dunkles Haus, das an eine Industrieanlage erinnert. Was er in deren Inneren erlebt, kann er jedoch kaum glauben. Denn sein Gastgeber, der ihn herumführt und ihm das riesige Haus in allen Einzelheiten zeigt, erklärt ihm, dass hier Menschen gemacht werden, so wie andernorts Brot gebacken wird. Perfekt im Aussehen, jedoch ohne so lästige und überflüssige Eigenschaften, wie selbständiges Denken. Und jeder soll sich in Zukunft diese neuen Menschen leisten können.
Mit kafkaeskem Duktus zeichnet Michael Meier eine Welt in gedeckten Farben und mit grotesken Figuren, in die der Leser immer tiefer eindringt, in der er schließlich selbst die Orientierung verliert und sich die moralische Frage stellen muss: Was wäre, wenn es solche Menschen geben würde?!
Christopher Pramstaller hat Michael Meier für satt.org interviewt, der neben der Arbeit an Comics auch als freier Illustrator und Verleger bei rotopolpress in Kassel tätig ist.
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Christopher Pramstaller (CP): Oskar Panizza hat die dystopische Vorlage für deinen Comic geliefert. Wie bist du auf den Stoff gestoßen? Panizza ist ja nun wahrlich kein allzu bekannter Schriftsteller.
Michael Meier (MM): Durch puren Zufall. Ich war in einem Buchladen auf der Suche nach einem neuen Hörbuch. Dabei fiel mir die Produktion vom Audio Verlag in die Finger. Und da ich bis dato von Panizza noch nie etwas gehört hatte, ich die Zusammenfassung auf der Rückseite aber sehr interessant fand und mir das Cover gut gefiel, habe ich die CD einfach gekauft.
In einer Welt, in der gedeckte Farben vorherrschen, geht Michael Meiers
Protagonist nach einem Tagesausflug verloren.
CP: „Wir machen Menschen, wie man Brot macht“. Dieser Satz aus dem düsteren Original von Panizza ist mir am deutlichsten in Erinnerung geblieben. Was fasziniert dich persönlich an der Geschichte?
MM: Das ist auch mein Lieblingssatz, der mich von Anfang an für die Geschichte begeistert hat. Er ist wahrscheinlich deswegen so einprägsam, weil er die ganze Geschichte auf den Punkt bringt. Ich behaupte jetzt einfach mal, dass es sogar Panizzas "Was-Wäre-Wenn-Frage" war, die ihn zum Schreiben der "Menschenfabrik" motiviert hatte.
Mich fasziniert an der Geschichte ihr Alter (sie ist 1890 erschienen), zugleich ihre Aktualität, und, dass Panizza weit über die "Was-Wäre-Wenn-Frage" hinausgeht. Bei all den technischen Neuerungen zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Frage: "Was wäre, wenn man Menschen künstlich herstellte?" durchaus nachvollziehbar. Aber das Ganze dahingehend weiterzuspinnen, nach der moralischen Vertretbarkeit und den Folgen für die Gesellschaft zu fragen, finde ich auf jeden Fall sehr faszinierend. Ich finde, er schafft dass, auch ohne den moralischen Zeigefinger auszupacken, da die Argumente des Fabrikbesitzers durchaus nachvollziehbar sind. Es ist mehr wie der innere Disput: "Wie finde ich das denn jetzt?"
Die Person Panizza spielte für mich auf jeden Fall auch eine Rolle und kommt als Nervenarzt im Comic selbst vor. Seine Familie hatte sämtliche seiner Aufzeichnungen nach seinem Tod vernichtet, das sagt ja schon alles! Ich glaube, ich habe einfach ein Faible für Verrückte.
CP: Es gibt nicht allzu viele Comics, die sich mit Literaturvorlagen auseinandersetzen, um sie für den Comic zu adaptieren. Einer der bekanntesten ist vielleicht „City of Glass“ von Paul Karasik und David Mazzucchelli. Inwieweit hast du versucht dicht am Original zu bleiben, aber dennoch den Comic als Medium wirklich zu nutzen?
MM: Ich muss gestehen, dass ich "City of Glass" nie gelesen habe, weder als Comic, noch die Vorlage von Paul Auster. Ich bin aber auch nicht jemand, der sich erstmal 1000 Comics nach Literaturvorlagen kauft, nur weil man ein ähnliches Projekt im Sinn hat. Ich glaube, das tut dem Endergebnis auch nicht gut. Man sollte einen eigenen Weg finden, um seine Geschichte zu erzählen. Natürlich soll man das Rad nicht neu erfinden, das wäre ja albern. Man soll ruhig kucken: „Wie haben es die anderen gemacht?". Aber wenn man die Grundlagen des Geschichten- und Bildererzählens kennt, hat man so eine Art Schweizer Taschenmesser parat, mit dem man ziemlich weit kommt.
Ich wollte „Die Menschenfabrik" so nah wie möglich am Original halten, da mir die Stimmung gut gefiel. Außerdem wollte ich, das, was mich an der Geschichte so fasziniert, an den Leser weitergeben. Deshalb habe ich lediglich eine Rahmenhandlung um die eigentliche Geschichte herum geschrieben. Vor allem wollte ich ein spannenderes Ende haben. Darüber hinaus habe ich nur hier und da für die Handlung nebensächliche Passagen rausgeworfen.
Nach und nach erfährt er, wohin er geraten ist: In eine Fabrik, in der Menschen gemacht werden.
CP: „Die Menschenfabrik“ ist dein erster großer Comic und war gleichzeitig deine Diplomarbeit an der Kunsthochschule in Kassel. Comic-Zeichner sind jedoch bekannt dafür, dass ihr Arbeitstempo extrem unterschiedlich ausfällt. Wie lange hast du dich mit deinem Werk beschäftigt, bis es endlich in den Druck gehen konnte?
MM: Es kommt darauf an. Manchmal funktioniert eine Zeichnung auf Anhieb und manchmal grüble ich lange rum, bevor auch nur ein Strich aufs Papier kommt.
Aber wenn man erstmal in der Materie drin ist, kann man ein gutes Durchschnittstempo halten. Ich fand mich am Anfang unglaublich langsam.
Ich habe im Frühjahr 2006 angefangen und druckreif war der ganze Comic im Oktober 2008. Aber wenn ich die reine Arbeitszeit zusammenrechne, komme ich auf ca. ein Jahr. Ich habe mitten drin, 2007, mit Lisa Röper und Rita Fürstenau den Verlag rotopolpress gegründet. Da musste die Arbeit am Comic kurzfristig etwas zurückgestellt werden.
CP: Von der fertigen Diplomarbeit bis zur größeren Auflage bei rotopolpress war es sicherlich auch noch ein kleiner Weg. Du bist dort selbst einer der drei Verleger. War eine größere Veröffentlichung auch schon zu Beginn der Arbeit abzusehen und geplant?
MM: Definitiv! Ich hasse es für die Schublade zu produzieren und wollte auf jeden Fall am Ende ein „richtiges" Comicheft in den Händen halten. Darum hatte ich „Die Menschenfabrik" in einem früheren Stadium auch einigen bekannteren Verlagen geschickt, allerdings ohne Erfolg.
CP: Wie erwähnt, ist „Die Menschenfabrik“ dein erster größerer Comic, und ein Comic, der wirklich überzeugen konnte. Neben der Verlagsarbeit bist du allerdings hauptsächlich als freier Illustrator tätig, weil durch Comics in Kleinauflage wohl kaum viel Geld zu verdienen ist. Ist „Die Menschenfabrik“ also dein erster und vielleicht auch gleichzeitig letzter Comic? Oder arbeitest du schon an etwas Neuem?
MM: Erstmal muss ich alle enttäuschen, die auf ein Comic hoffen sollten, dass genauso wird wie die Menschenfabrik. Es war mein aller erster Comic und erzählerisch wie stilistisch habe ich mich ein bisschen weiter entwickelt. Aktuell arbeite ich mit meinem Zeichnerkollegen Sebastian Stamm an einer Serie, über die ich an dieser Stelle aber noch nicht viel verraten kann. Dafür wäre es noch ein bisschen früh. Darüber hinaus liegen noch weitere Ideen in der Schublade. Im Grunde habe ich gerade erst angefangen.
In einer grotesken, verzerrten Welt, geht auch der Leser selbst verloren
und wird gezwungen, sich moralischen Fragen zu stellen.
CP: Du arbeitest im Moment als Comic-Zeichner, Illustrator und Verleger. Wahrlich viele Aufgaben. Worauf konzentrierst du dich derzeit am meisten?
MM: Seit Anfang dieses Jahres sind wir dabei, den Verlag neu zu strukturieren, um in Zukunft alles noch besser zu machen. Darüber hinaus mache ich natürlich weiterhin Illus. Also bin ich momentan quasi ein „Verlegerillustrator“.
CP: Euer Verlag rotopolpress existiert nun schon seit zwei Jahren. Wie hat sich die Situation dort entwickelt?
MM: Wenn mir vor zwei Jahren jemand erzählt hätte, dass Menschen aus fast allen Teilen der Welt unsere Sachen kaufen und wir im Ausland Ausstellungen haben werden, hätte ich mich über seine blühende Fantasie wohl sehr amüsiert. Wir bekommen von allen Seiten jede Menge Zuspruch und den Leuten scheint zu gefallen, was wir machen.
Ich bin immer noch ganz begeistert, wenn ich sehe, dass vier Illustratoren aus einem gemeinsamen, sehr kleinen Atelier heraus, mit ihrer Leidenschaft für Gedrucktes, so etwas erreichen können.
CP: Werdet ihr auch in Zukunft auf avancierte Projekte setzten wie zuletzt, die die Gratwanderung zwischen Comic, Illustration und Design suchen?
MM: Auf jeden Fall! Wir haben rotopolpress vor zwei Jahren gegründet, weil uns die illustrative Vielfalt und deren Verbreitung am Herzen liegt. Leider hört bei vielen Menschen Illustration immer noch beim Kinderbuch auf. Bei den Comics hat man dank solcher Filme wie „From Hell“, „300“ und zuletzt „Watchmen“ nun auch endlich festgestellt, dass es zwischen Werner und Superman noch eine Menge mehr gibt.
Im Gegensatz zur Fotografie scheint man sich im Bereich der Illustration jedoch mit einem „normalen“ Umgang immer noch schwer zu tun. Aber zum Glück erlebt die Illustration ja seit einigen Jahren eine Renaissance, die dabei hilft, die Grenzen zwischen Kunst, Design und Comic verschmelzen zu lassen. Wir hoffen, mit unserem Verlag und unserem Laden das ganze Potential, dass in der Illustration steckt, einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Ich hoffe, dass wir in Zukunft weiter an der Frage forschen können, wo Illustration anfängt und wo sie aufhört. Deswegen haben wir u. a. ein Papierspielzeug (Pepastar CP) verlegt und sind eine Kooperation mit dem schwedischen Singer/Songwriter Björn Kleinhenz eingegangen, der im September ein Konzert in unserem Laden geben wird.
CP: Graphic Novel ist mittlerweile ja zu einem geflügelten Wort geworden und hat dem Erzählen in Bildern einen gewissen Stellenwert in den Feuilletons erkämpft. Wie siehst du die Comic-Landschaft in Deutschland im Moment?
MM: Ich bin gerade durch mein Bücherregal gekrochen, um mal nachzukucken, welche deutschen Comics ich eigentlich besitze. Die ganze Prozedur habe ich dann gleich nochmal wiederholt, weil ich es nicht ganz glauben konnte. Ich besitze ein einziges „deutsches“ Comic: „Hector Umbra“ von Uli Oesterle. Wenn wir „deutschsprachige“ Comics nehmen, kommen noch ein paar von (Nicolas) Mahler dazu. Das war mir selber gar nicht so bewusst und soll jetzt nicht bedeuten, dass ich deutsche Comics nicht mag oder schlecht fände. Ich persönlich kann mit „Coming-of-Age“-Geschichten, die in den letzten Jahren ja ziemlich beliebt waren, nicht viel anfangen. Vielleicht ist das ein Grund für mein unvollständiges Bücherregal. Eine Ausnahme bildet allerdings „Der kleine Christian“ von Blutch. Den mag ich sehr, wobei das auch wieder kein deutscher Comic ist. Ich scheine wohl eher Vorlieben für amerikanische und französische Comics zu haben.
In puncto deutsche Zeichner kenne ich ein paar, die ihre Karriere gleich in den USA gestartet haben, weil es für sie hierzulande nichts zu holen gab. Wenn ich mir aber allein den „Nachwuchs“ hier in Kassel anschaue, zu dem ich ja auch irgendwie gehöre, glaube ich, dass in Zukunft die deutsche Comiclandschaft erheblich bunter wird. Das Potential und die Ideen sind auf jeden Fall da. Man muss nur zugreifen.