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19. Dezember 2011
Dominik Irtenkauf
für satt.org

  Beyond the Shrouded Horizon
Steve Hackett:
Beyond the Shrouded Horizon

Insideout Music 2011
» amazon

Steve Hackett
Auf der Suche nach dem großartigen einfachen Song

Am 21. November 2011 machte Steve Hackett mit seiner sogenannten elektrischen Band in der Live Music Hall zu Köln Station. Man kann durchaus von einer Legende sprechen, hat Hackett doch auf den ersten Alben der Progressive-Rocker Genesis sein charakteristisches Gitarrenspiel entwickelt. Doch Superlative machen sich nur in Promo-Waschzetteln gut. Hinter der Musik steckt auch immer ein Mensch. Dieser Mensch namens Steve Hackett nahm sich für satt.org in einem Hinterzimmer mit 70er-Jahre-Tapete Zeit. Zeit, die angesichts seiner langen Musikerlaufbahn gering erscheint. Aber bei jedem Konzert herrscht Druck. Deshalb ging es ohne Umschweife an den Kern der Sache.

◊ ◊ ◊

Wie fühlt man sich, wenn man Musikgeschichte geschrieben hat?

Steve Hackett: Ich denke, jeder, der mit Musik zu tun hat, fühlt an einem bestimmten Punkt, dass er sich nur an der Peripherie der ganzen Sache befindet, dass er die ganze Geschichte von Außen betrachtet. Auch, als ich die meisten Platten meiner Karriere verkaufte, hatten wir anscheinend weniger Kontakt zu anderen Musikern, weil wir sehr viel touren mussten, in Amerika, Frankreich, Deutschland, England, manchmal auch in Italien, in Belgien. Inzwischen fühle ich mich, wie ich mich eigentlich schon immer gefühlt habe. Ich denke nicht, dass ich Teil der Geschichte ist. Magie ist immer etwas, das ein Anderer ausübt. Von deinem eigenen Material denkst du immer, dass du sehr gut die Mechanismen dahinter kennst. Wenn du dich aber im Prozess selbst befindest, kannst du darin schlecht verlorengehen.

Vielleicht ist es schwierig, richtige Worte zu finden, wie diese Idee in Ihren Gedanken zum ersten Mal aufgetaucht ist? Oder konnten Sie jeden Schritt Ihrer Kompositionen immer nachvollziehen?

Steve Hackett: Musik funktioniert nicht so sehr durch Verstehen. Wenn ich schon den ganzen Tag Gitarre gespielt habe, werde ich schließlich zu müde, um noch auf Ideen zu kommen. Ich fang an, mir mit einer kleinen Sache Ablenkung zu verschaffen, entweder am Tagesbeginn oder zum Ende. Dies sind die Zeiten, wenn mir die meisten guten Ideen einfallen. Es steckt keine Formel dahinter. Du musst dich einfach weiterhin mit deinem Instrument beschäftigen oder auch Reisen ist eine gute Inspirationsquelle. Ich nehme einen Laptop mit, oder nehme es auf andere Art und Weise auf. Ich kenne keine Formel, einen Song zu schreiben. Deshalb kann ich jetzt auch nichts dazu sagen. Es ähnelt beinah dem Versuch, einen Traum, den man hatte, zu erklären versuchen. Du bist Teil eines unbewussten Prozesses und hast es erfahren. Es geht mehr darum, das Instrument häufig zur Hand zu nehmen, als viel darüber nachzudenken. Ich wünschte, ich wüßte es, denn dann könnte ich am laufenden Band großartige Stücke schreiben. Es kommt in kleinen Stückchen, ein Riff hier, ein Satz da, und am Schluss passt alles zusammen, wenn es funktioniert.

Steve Hackett (Foto: Christoph Labaj)

Foto © Christoph Labaj

Wenn man am laufenden Band Hits schriebe, würde die Last der Veteranen noch größer. Sie haben durch Ihre früheren Bands ausreichend Klassiker geschrieben und müssen nun möglicherweise im Schatten dieser agieren?

Steve Hackett: Ich denke, dass es mir heute besser als in der Vergangenheit geht. Ich denke, dass ich jetzt bessere Stücke schreibe, ich denke, dass ich heute erfahrener im Komponieren bin. Ich denke nicht, dass meine besten Jahre bereits vergangen seien, sondern erst noch kommen. Ich befinde mich in einem Kontinuum – der Geschichte, wie Sie es ausgedrückt haben – bis in die Gegenwart und darüber hinaus. Ich habe mich selbst dazu entschieden, in verschiedenen Stilen zu arbeiten. Das aktuelle Album veranschaulicht diese Methode sehr gut, da es aus verschiedensten Stilen besteht. Von Rockmusik zu Countrymusik, asiatische Einflüsse, man findet verschiedene Elemente auf »Beyond The Shrouded Horizon« und auch verschiedene Ausprägungen der Nostalgie. Die Melodie nimmt eine wichtige Rolle auf dem Album ein, aber ich möchte etwas ausdrücken, weshalb ich mir den Subtext der Musik anschaue. Warum soll ich diesen Wechsel hier einfügen, weshalb dies an jener Stelle, erzählt es etwas? Ich versuche, nicht in mir emotionell aufzugehen, ich entwerfe ein Konzept nicht, bevor ich mich darin versenke. Wie zum Beispiel eine neue Platte für die Ewigkeit zu komponieren, oder dissonant oder mit einer rauen Kante. Das könnte ich durchaus. Aber das möchte ich nicht, denn ich würde all die verschiedenen Musikwelten ignorieren, die zusammenkommen und eine Art musikalisches Kontinuum bilden. Es macht die Reise aus, die ich mit jedem Album fortführe. Ich möchte nicht, dass alles progressiv oder melodisch klingt. Ich möchte es viel eher als das Ergebnis einer Gruppe von möglichst breiten musikalischen Geschmäckern ansehen. Als ich mit Genesis arbeitete, haben wir uns alle gegenseitig beeinflusst und brachten viele Platten zu den Proben, die wir selbst nie gehört hätten. Es ist sehr einfach, ablehnend gegenüber den Dingen zu sein, die ein anderer Mensch genießt. Als ich mit Phil Collins arbeitete, spielte er mir Musik von Mel Tormé und Buddy Rich vor. Ich habe nicht richtig verstanden, warum er sich für diese Musik interessierte, aber ich verstand dann, dass es ihm um den Rhythmus der Melodie ging, die richtig swingte. Heutzutage kann ich mir das aus dieser Perspektive anhören. Heute kann ich Jazz anhören. Als junger Mann war das noch anders. Heute kann ich den Wert in dieser Art Musik erkennen. Es war eine neue Art der Interpretation. Ich habe mich als Person verändert. Als junger Mensch war ich darum bemüht, dramatische Musik zu spielen. Seitdem habe ich mich verändert. Ich verbringe aber auf Reisen nicht sehr viel Zeit, die Musik anderer Menschen anzuhören. Viele meiner Musikerfreunde machen das. Die meiste Zeit genieße ich es, mit meinen Gedanken allein zu sein. Wenn du auf Tour bist, läuft es häufig darauf hinaus, deine Energie auf Sparmodus laufen zu lassen, nach dem Konzert schläfst du ein, du wachst wieder auf, wir kommen hier an, haben kaum Zeit, etwas am Tag zu essen. Es ähnelt einem Zoo auf Achse.

Es ist interessant, dass heutzutage viele Musiker sich auf Genre-Abgrenzungen verlassen. Zum Beispiel im Punkrock kommt es sehr stark auf die Einstellung und die Außendarstellung an. Während Sie sich offen gehalten haben. Vielleicht hängt das mit Ihrer Zugehörigkeit zum Classic Rock zusammen?

Steve Hackett: Ich hatte vor einiger Zeit mit John Paul Jones, dem früheren Led Zeppelin-Bassisten, gearbeitet, der jetzt bei Them Crooked Vultures spielt. Er begann in der Musikindustrie ungefähr 1962 zu arbeiten, zusammen mit Jet Harris und Tony Meehan von The Shadows, er komponierte auch für Musiker wie Dusty Springfield, arbeitete Orchester-Arrangements aus, hatte ein Projekt mit Jeff Beck, und das alles vor Led Zeppelin. Die Leute denken heute, dass er als Bassist ein Heavy Rocker ist, aber eigentlich trifft das auf ihn nicht zu. Auch für mich gilt das nicht. Heavy Rock gehört zu meinem Repertoire, aber es ist nicht mein Magen-und-Leib-Gericht, denn ich höre mir auch sehr viel Klassik an. Ich arbeite häufig auch mit allen Instrumenten, auch mit Akustikgitarre, Streichern und Bläsern. Ich arbeite auch in letzter Zeit mit ungarischen Musikern zusammen, oder ein anderer Musiker spielt die Tar aus Aserbaidschan. Meistens handelt es sich um improvisierte Musik, aber sie sind sehr interessante Musiker. Sie entstammen den unterschiedlichsten Milieus und Kulturen. In Aserbaidschan sind zum Beispiel 50 Prozent der Menschen Nomaden, die umherziehen. [Ob Herr Hackett da nicht etwas durcheinander bringt? – Dominik Irtenkauf] Ganz wie die Reiter der Steppe.

Sie interessieren sich auch sehr stark für diese exotischen Länder.

Steve Hackett: Ich liebe das. Es bedeutet auch, dass Menschen aus verschiedenen Weltregionen miteinander reden können. Es gehört zu meiner Musik, auch die Flamencoparts zum Beispiel. Heute hatte ich von Roine Stolt [von der Band Flower Kings aus Schweden – Dominik Irtenkauf] eine Mail erhalten, wir haben einige Zeit miteinander gespielt, er ist ein sehr guter Musiker, ich habe bei Transatlantic auf der Bühne ausgeholfen. Er schrieb: Oh, ich habe dein neues Album wirklich gut gefunden und was er am meisten mochte, waren die einfachen Stücke. Er schrieb mir, dass er es sehr gut fand, dass ich in der Lage sei, einen romantischen Song zu schreiben. Es ist selbstverständlich für uns einfacher, ein Epos zu schreiben, aber ist es wirklich so einfach, einen Song zu schreiben, der sich so einfach anhört wie einer von den Beatles? Ich denke, es ist gefährlich, sich wieder allein auf Technik verlassen zu wollen. Wenn du dir die Beatles anschaust, dann denkst du dir, dass diese Jungs offensichtlich technisch ausreichend bewandert waren, um eine große Show abzuliefern. Ihr Spiel wurde nicht vom Willen zur Virtuosität getragen, sondern um dem Song zu dienen. Die technische Meisterschaft der Beatles lag in ihrem Songwriting, denke ich. Ein Lied wie »All My Loving« besitzt eine sehr starke Rhythmusgitarre [Hackett ahmt mit der Zunge den Akkord nach – Dominik Irtenkauf], die ganze Zeit geht es nur: eins-zwei-drei, eins-zwei-drei, eins-zwei-drei. Das ist außergewöhnlich!

Auf der Songoberfläche.

Steve Hackett: Ja genau, auf der Songoberfläche. Es ist ein arbeitender Bass, der die Basis von sehr viel Jazz ausmacht.

[Nun zeige ich Hackett eine Frage auf meinen Notizen, weil ich es lustig finde, dass er selbst das Wort romantisch ins Gespräch brachte:]

Denken Sie, dass Ihr zur Zugang zur Musik als romantisch bezeichnet werden kann? Vielleicht auch wegen der mythologischen Geschichten?

Steve Hackett: Ich denke, Genesis hatten eher die Idee der Mythologie in ihrem Konzept, sich von griechischer Mythologie beeinflussen zu lassen. Ich habe mich häufig mit Peter Gabriel darüber unterhalten und er meinte zu mir: Es ist sehr schwer, eine gute Erzählung mit Musik zu kreieren. Es ist sehr schwer, wenn du versuchst, mit einem Song eine Geschichte zu erzählen, diese Geschichte auch entsprechend umzusetzen. Besonders, wenn es viele vage Hinweise auf Charaktere aus der Historie oder aus der Mythologie gibt. Wenn ich heute eine mythologische Geschichte mit meiner Musik erzählen möchte, dann ist es eine andere Art der Erzählung, wie zum Beispiel bei »The Golden Age Of Steam« (von »Darktown«, 1999). Es dreht sich um ein zeitgenössischeres Thema. »The Golden Age Of Steam« behandelt eigentlich das Goldene Zeitalter der Entdeckungsreisen, aber ich benutze es als Metapher für den Holocaust. Ich schreibe nicht über etwas, das man in einer Bibliothek nachlesen könnte, sondern über Dinge, die man in unserer modernen Welt erleben kann. Ich schätze die Mythologie des antiken Griechenlands. Und ich verstehe Jungs Ansatz der Archetypenlehre. Das kann alles sehr schön sein, wie in »The Fountain Of Salmacis«, »Cinema Show«, in der Father Tyresias auftaucht [alles Genesis-Songs – Dominik Irtenkauf]. Alles auch sehr philosophisch. Es wirkt viel mehr als Orchester plus Bandsound als anders. Ich würde wirklich alles drum geben, beschreiben zu können, wie ich einen Song komponiere. Neulich war ich auf einem Roy Harper-Konzert. Seit ich mit Joan verheiratet bin, gehen wir viel aus. Als Roy Harper spielte, kam Jimmy Page auf die Bühne. Er arbeitete schon häufig mit traditionellem Material, und an diesem Abend war dies der Fall. Schon beim Konzert ging es mir durch den Kopf, dass ich diese neue Idee unbedingt aufgreifen musste. Er begann zu singen, dann wird das Echo mit der Stimme erzeugt, und mit den Gitarreneffekten bearbeitet. Es wirkte wie eine Gedankenblase der Seele. Als ich ihn auf der Bühne dieser Methode nachgehen sah, bekam ich selbst die Idee. Er nutzte die Fußpedale, um die Stimme zu verstärken. Eine sehr interessante Art, die Stimme zu nutzen. Er improvisierte einfach. [Steve Hackett imitiert den Gesang, der durch seinen Vortrag etwas Orientalisch-Muslimisches erhält – Dominik Irtenkauf] Es klang wie gefrorenes Echo.
Aber ich denke, jeder Musiker ist auf der Jagd nach einfachen Songs. Die Art von Lied, die eine Wirkung beim Hörer hinterlässt und das den Hörer zum immer wieder Hören drängt, weil er darin eine Wahrheit erkennt. Es ist wirklich hart, solch einen Song zu schreiben, in dem man völlig aufgehen kann. Sehr schwierig.

Steve Hackett (Foto: Christoph Labaj)

Foto © Christoph Labaj

War dies ein Grund, Ihre Solokarriere zu starten, da Sie sich vollständig auf die Suche nach dieser Art Song machen wollten?

Steve Hackett: Ich begann meine Solokarriere aus dem alleinigen Grund, völlige Autonomie zu erlangen. Autonomie bedeutet Unabhängigkeit, die Freiheit, einen Song aufzunehmen. Das Problem mit Genesis war, obwohl sie sehr talentiert waren, sie auch ein starkes Kontrollbedürfnis mit sich brachten. Meine Loyalität gilt allein der Musik, musikalischen Ideen. Ich hatte keine Lust darauf, Ideen zu haben und bis zum Sanktnimmerleinstag warten zu müssen, bis sie Verwendung fanden. Ich habe das eine Soloalbum (»Voyage Of The Acolyte« von 1975) aufgenommen und mich dann sehr unbeliebt damit gemacht, vor allem bei Tony Banks, weil es ein Hit wurde. Er meinte zu mir: Entweder du vergisst deine Solokarriere und bleibst bei der Band, oder ... Dann erwiderte ich ihm: Nun, wenn du möchtest, dass ich bei der Band bleibe, dann räum mir einen größeren Anteil am Songwriting ein, um mir den entsprechenden kreativen Output zu ermöglichen. Er ging nicht darauf ein, so dass ich jetzt hier sitze und sage: Meine Treue gilt allein der Musik. Das war der Grund, warum ich ging.

Und wie lief es mit GTR?

Steve Hackett: Für eine gewisse Zeit hat es Spaß gemacht. Im Proberaum waren wir wirklich sehr gut, aber das letzte Album von uns hätte wirklich besser sein können, um ehrlich zu sein. Ich denke, es war sehr stark von den Achtzigern geprägt. Ich denke, irgendwann wurde es berechenbar und der Spaß verlor sich dann.

Dachten Sie manchmal, es wäre von Nachteil, in Progressive Rock-Bands zu spielen, weil alle Musiker so talentiert sind, aber auch häufig sehr große Egos mit sich bringen?

Steve Hackett: Viele talentierte Musiker, mit denen ich zusammenarbeite, besitzen sehr große Egos, aber ich denke, dass man dieses Selbstbewusstsein haben muss, um in dieser Branche zu wissen, was man zu tun hat. Als ich zum Beispiel auf Steven Wilsons neuer Platte gearbeitet habe, habe ich ihm viele Sachen vorgespielt, und er meinte zu mir: Ich sammle erstmal nur Material. Ist es denn nicht möglich, dass du etwas Ungewöhnlicheres spielst? Dann überlegte ich, was kann ich ihm nun bieten? Ich spielte die Gitarre zwei Oktaven höher, dass es sich wie ein Piccolo anhört. Es handelte sich hierbei um einen Klang, den ich zuvor nirgendwo sonst gehört hatte. Erst da wurde es interessant: es klang dissonant, war atonal, unmelodisch, sehr rauh. Das machte mir nichts aus. Das Wesentliche an meinem Beitrag war, dass es sich hierbei um sein Album handelte, er muss damit glücklich sein. Und wenn die Kollegen dann mit mir arbeiten, müssen sie mich glücklich machen. Bei Bands kann man das kaum durchziehen. Ich denke, bei Bands geht es um das Problem der vereinigten Egos. Wenn du Glück hast, triffst du auf einen Bandkollegen, der Mitgefühl zeigt und mit dem man die Ziele teilen kann. In den Bands triffst du meist auf einen Typ, der ein absoluter Kontrollfreak ist und die anderen stehen allesamt in seinem Schatten. Zum Beispiel besteht meine Idealvorstellung von King Crimson aus der Band, die ich im Jahr 1969 sah, als der Einfluß jeden Mitglieds gleich wichtig für diesen speziellen Sound war. Ich denke, es existieren viele Bands, die dem Willen des Führers [Hackett benutzt das deutsche Wort – Dominik Irtenkauf] folgen. Das ist nichts Falsches, wenn ein Kopf wie Tschaikowski seine eigene Welt musikalisch ausdrückt. Offensichtlich benötigen diese Genies ihre Autonomie. Natürlich muss Tschaikowski auf der Bühne sein Genius nicht mit einem anderen begnadeten Keyboardspieler teilen. In Bands herrscht die Idee vor, dass es möglich sein sollte. Es gab viele großartige Gruppen, die großartige Musik schrieben, aber ob jedes Bandmitglied auch wirklich glücklich mit seiner Rolle war, das wage ich zu bezweifeln. Wenn ich bei einem anderen Albumprojekt mitarbeite, ordne ich mich dem höheren Zweck unter. Ich fühle mich dabei sehr glücklich, einem anderen Musiker bei der Vollendung seiner Vision behilflich zu sein.

Man stößt bei Musikerkarrieren noch auf eine andere Unterscheidung: jene, die sich gerne im Scheinwerferlicht zeigen und dann die anderen, die lieber im Hintergrund bleiben. Bei Ihnen hatte ich immer den Eindruck, dass Sie zur letzteren Gruppe gehören.

Steve Hackett: Ich habe gestern Abend eine Doku zu George Harrison angeschaut und er wurde gefragt, wie er sich fühlte, immer im Hintergrund bei den Beatles gestanden zu haben. Er wirkte auf mich sehr intellektuell, er schaute auf eine Zeit, in der er vor allem instinktiv handelte, mit viel Hirn zurück. Als es dann mit der bekanntesten Band der Welt, zu jener Zeit zumindest, zu Ende war, veröffentlichte er sehr beeindruckendes Material. Er war der beste Solokünstler, der aus den Beatles hervorging, aber nicht das beste Mitglied in der Band. Das ist meine Meinung. Ich kann auch falsch liegen. Vielleicht kam er auch zu diesen tollen Ideen, weil er über die Jahre hin immer frustrierter wurde und allmählich merkte, was sich um ihn herum abspielte. Er war zwar ein Teil davon, aber er saß sicher nicht hinterm Steuer. Ich kann sehr gut nachvollziehen, wie es sich anfühlt, nur Begleitmusiker zu sein. Bei Genesis musste ich mir immer sehr viel Gedanken dazu machen, was ich mit der Gitarre in diesem Stück noch anfangen sollte. Der Sänger singt während des ganzen Songs, der Schlagzeuger spielt die ganze Zeit, wie bei »The Lamb Lies Down On Broadway«. Dann stellt sich die Frage, ist die Gitarre überhaupt noch notwendig? Und die Antwort ist: Nein! Deshalb habe ich einen soften Sound entwickelt, als ob die Gitarre über den Song fliege. Ich versuchte dann, die Gitarre ein wenig schattiger zu machen, ein wenig wie in »The Musical Box«. Die Gitarre sollte sich dann ein wenig wie eine Trompete oder ein Keyboard anhören.

Sie hatten ja immer diesen sanften Sound auf Ihrer Gitarre.

Steve Hackett: Ich versuchte, mit der Gitarre Atmosphäre zu schaffen. Ich versuchte, das zu spielen, was als angemessen galt. Ich habe meinen Teil in der Musik ernst genommen, aber es war keine herausragende Rolle. Wir hatten noch andere Gitarristen in der Band, wie Mike Rutherford und Tony Banks, wir benutzten darüber hinaus noch 12-Saiter. Drei 12-Saiten-Spieler können einen schönen Sound erzeugen, aber es ließ nicht viel Platz für Gitarrenhelden in Genesis. Zeitweilig gab es Ausbrüche.

Das läßt sich sehr gut mit einer anderen Frage verknüpfen: und zwar haben Sie zwei spezielle Gitarrentechniken entwickelt: das Tapping wie auch das Sweep Picking. Beide erfahren im Heavy Metal eine sehr bedeutende Rolle. Wie stehen Sie zu Ihrem Erbe? Ich denke, Eddie Van Halen und Yngwie Malmsteen werden immer als Innovatoren des Tappings genannt, weil sie dem Heavy Metal näher stehen.

Steve Hackett: Nun, ich habe die Technik 1971 auf »Nursery Crime« angewandt, so dass man deutlich hören kann, welcher Gitarrist sie als erstes einsetzte. Eddie war so freundlich, mich als einen seiner Einflüsse zu nennen. Brian May hat auch auf mich verwiesen, dass ich vor ihm die dreiteilige Gitarrenharmonie verwendet habe. Auf dem allerersten Stück der ersten Scheibe von Genesis finden Sie Tapping und ein harmonisches Gitarrensolo am Ende. Man findet dort aber noch kein Sweep-Picking. Man findet das Picking erst auf »Selling England By The Pound«, wieder im ersten Stück. Sweep Picking ist eine Violintechnik.

Wird auch stark im Heavy Metal rezipiert.

Steve Hackett: Es ist aber eine Technik für Violine. Tapping entwickelte sich aus meinem Versuch, etwas von Bach auf der E-Gitarre zu spielen. Eddie kam mit der Bezeichnung für die Technik an, aber ich wandte die Technik bereits auf allen Genesis-Alben an. Ich habe daraus kein Brandmark gemacht. Nachdem ich es benutzt habe, habe ich mich nicht auf Tapping versteift. Genesis versuchten immer, Songs zu schreiben. Es ging nicht darum, mit Techniken anzugeben. Ganz im Gegensatz zu Jazzbands, wo das Thema eine sekundäre Rolle spielt und eher als ein loser Bezug zum Anfang und Ende verstanden wird. Als Jazzmusiker bewegt man sich vom Thema weg und dehnt den Bezug zum Thema so weit als möglich aus. Man möchte den Hörer ein wenig verwirren. Da Sie Heavy Metal nannten und das Tapping zu einem Hauptmerkmal eines gewissen Stils von Heavy Metal wurde, muss ich sagen, dass ich diese Art empfinde, als würde Musik beinahe wie Sport betrieben. Ein Rennen der Zeit gegen die verfügbare Energie. Ich denke, dass die große Herausforderung immer noch darin besteht, ob ein Musiker einen großartigen Song schreiben kann oder nicht. Technik kann man sich beibringen, aber einen überzeugenden Song auszuarbeiten, benötigt Gefühl. Du musst durch den Prozess der Höhen und Tiefen gehen ...
Okay Jungs, ich glaub, ich muss mir ein wenig Geld durch Lärm verdienen.

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Sprich: Der Soundcheck steht an.

Das anschließende Konzert in der Kölner Live Music Hall am 21. November 2011 wird frenetisch von einem gesetzteren Publikum applaudiert. Progressive Rock im weitesten Sinn scheint heutzutage nicht mehr unbedingt die Jungen im Volk anzusprechen. Steve Hackett bringt Musiker auf die Bühne, mit denen er zuvor bereits gearbeitet hat. Amanda Lehmann ist die Schwester seiner Ehefrau und hält sich bei den Stücken dezent im Hintergrund, will heißen: sie begleitet Hackett und drängelt sich nicht zur Gitarrenheroik in den Vordergrund. Die Rhythmussektion überzeugt auf voller Linie, Drummer Gary O‘Toole übernimmt bei den Genesis-Songs den Hauptgesang. Er schlägt sich tapfer, aber Peter Gabriel und Phil Collins sind letztlich doch andere Kaliber. Es kursieren immer mal wieder Gerüchte über eine Genesis-Reunion im klassischen Line-Up, doch nachdem sich Phil Collins 2011 aus gesundheitlichen Gründen von der Bühne zurückzog, ist eine Wiedervereinigung recht unwahrscheinlich. O’Toole nutzt 2011 die Bass-Drum und hat sich vom Jazz- zum Rockdrummer gewandelt.

Zu keinem Moment wirkt Hackett prätentiös, ganz im Gegenteil stellt er sich in den »Dienst« seiner Songs. Neben Stücken vom aktuellen Album »Beyond The Shrouded Horizon« (Inside Out Music/EMI) erklingen Genesis-Klassiker wie »Carpet Crawlers«, »Watcher Of The Skies« und das obligatorische »Firth Of Fifth« von der Bühne und hinterlassen ein gutes Gefühl, denn Hackett war einst ein integraler Teil der Band, auch wenn er das anders sieht. King am Synthesizer erzeugt virtuell die Vintage-Sounds und macht so die Interpretation der Genesis-Stücke zu einer gelungenen Performance.

An diesem Abend wird ein zweistündiges Set geboten, das immer wieder von frenetischem Applaus angefeuert wird. In der Live Music Hall hat sich ein eingeschworener Kreis aus Musikern und Fans eingefunden. Die Klasse der einzelnen Musiker wird gewürdigt. Nach mehr als der Hälfte der Songs bittet sich Hackett eine Akustiksession aus, die er alleine auf seiner Gitarre bestreitet. Es geht dann in »Blood On The Rooftops« über, bei dem alle Musiker wieder gefordert werden. Dies ist der letzte Song, den Hackett auf der Genesis-Platte »Wind And Wuthering« beisteuerte, der jedoch während seiner Zeit in der Band nie live gespielt wurde.

Das alte »Problem« bei Prog Rock-Nerds, dass sie auf jedes kleine Detail Argusaugen werfen und vor allem auch beurteilen, wie alte Songs von verschiedenen Bühnen-Konstellationen interpretiert werden, trübt auch an diesem Montagabend ein wenig die Atmosphäre des Konzerts. Doch Steve Hackett ist ein alter Hase und lässt sich nicht irritieren. Sicher sind Genesis-Stücke der Gabriel-Ära alles Andere als ein Kinderspiel. Dennoch spielt er das alte Repertoire, weil sie zu seiner Persönlichkeit genauso wie »A Place Called Freedom«, »Waking To Life« und »Two Faces Of Cairo« gehören. Alles Stücke des Albums vom September 2011. Diesem Mann hört man einfach zu, es geht keineswegs um technisches Gehabe, es geht darum, Atmosphäre durch den jeweils richtigen Klang zu erzeugen. Mit diesen unglaublich soften Gitarrenmelodien.

Steve Hackett Live (Foto: Christoph Labaj)

Foto © Christoph Labaj