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September 2007
 

Höllenschlund, früher

Nick Cave wird 50.
Wer jetzt sagt, damit sei nicht zu
rechnen gewesen, muss draußen bleiben


Lieber Nick Cave,

Nick Cave
(Fotocredit: Drew Ryan)

Sie können es natürlich nicht wissen, aber damals, 1988, hatte ich ein wenig Angst vor Ihnen. Ich lag alleine in meiner Studentinnenbude vor dem Fernseher und sah im Nachtprogramm den Film Ghosts of the Civil Dead, der in einem Gefängnis spielt. Natürlich kannte ich Ihre Musik, ich liebte The Mercy Seat, und sogar von The Birthday Party hatte ich in meinem hessischen Provinznest schon gehört. Aber dieser Film mit all seiner Brutalität und Kompromisslosigkeit flößte mir Furcht ein, an Schlaf war in dieser und in den folgenden Nächten nicht zu denken. Auch die Split-EP Drunk on the Pope's Blood / Lydia Lunch, The Agony is the Ecstacy von 1982, die ich ebenfalls 1988 auf dem Flohmarkt erstand, schüchterte mich ein. Ich verstand den Schmerz, den Zorn, das Leiden, das auf dieser Platte zu hören war, aber insgesamt war das alles doch zu weit weg von mir.

Ein gutes Jahr später, 1990, erschien The Good Son, die Platte, die sogar meiner Oma gefiel, weil Ihr Duett mit Blixa Bargeld, The Weeping Song sie irgendwie an Kurt Weill erinnerte. Das hielt ich zwar für eine kühne Behauptung, aber sie hatte nicht ganz unrecht, wie ich später feststellen musste. Jedenfalls gingen The Good Son, Drunk on the Pop's Blood und Ghosts of the Civil Dead für mich nicht wirklich zusammen und verwirrten mich nachhaltig. Einige Jahre später verwirrten Sie mich erneut, und zwar mit Ihrem Duett mit Kylie Minogue, die ich bis zu Where the Wild Roses Grow schlicht als Unperson empfand. Sie wissen schon, dass Sie sie gerettet haben? Ich glaube, Kylie dankt Ihnen noch heute, dass Sie sie aus den Fängen von Stock, Aitken, Waterman befreiten und ich wage zu behaupten, dass sie ohne ihren Auftritt als Wasserleiche in Where the Wild Roses Grow niemals zum globalen, auch für Indie-Leute okayen Darling geworden wäre.

Aber was ich eigentlich sagen wollte: ob Sie nun den Blues singen oder die Bibel rezitieren, ob Sie Western schreiben, Popsängerinnen in einen Bach legen oder sich einen Bart wachsen lassen - Angst habe ich nicht mehr vor Ihnen! Im Gegenteil, ich stoße frohgemut auf 50 Jahre Nick Cave an, cheers!

Christina Mohr
Musikredaktion satt.org
Frankfurt am Main




Nick Cave, Berlin 1985
Berlin 1985, Credit: Bleddyn Butcher
Quelle

Irgendwer wird jetzt noch mal den ganz alten Löffel aufkochen. Versoffen, verdrogt und verkracht, so liebt das Publikum seinen Künstler. Während es die Fußbodenheizung programmiert. Ein letztes Mal sei hier gesagt: Nick Cave hing jahrelang an der Nadel. Ein disziplinloser Junkie war er nicht. Die Sümpfe Louisianas nach London und West-Berlin zu holen, forderte kontinuierliche Arbeit. Als sie drohte, von der Abhängigkeit durchkreuzt zu werden, begab sich Cave auf Entzug. Er hat auf und trotz der Drogen exzellente Platten veröffentlicht. Ohne sie ist er professioneller geworden. Aber alles andere als langweilig.

In den späten Achtzigern muss es gewesen sein. Das Ostfernsehen hatte La Boum eingekauft. Mir damals unbegreiflich. Stattdessen, und das ist jetzt kein Stricken am eigenen Mythos, hörte ich Your Funeral, My Trial. Mit Punk hatte diese bedrohlich langsame, am Höllenschlund entworfene Musik gerade noch die Haltung gemein. Auch ich hatte Angst vor ihr. Weil sie mir gefiel und ich instinktiv ahnte, dass da nicht gerade die beste aller Welten besungen wurde. Um so größer war meine Verstörung, als ich Jahre später in der Kreuzberger Gneisenaustraße ein Plakat sah, The Good Son ankündigend. Nick Cave am Flügel im hellen Anzug, um ihn Kinder, gekleidet wie in Engelskostümen. Die Musik in himmlische Streicherarrangements gehüllt. Ich gebe zu, jahrelang doch lieber From Her to Eternity oder The Firstborn Is Dead aufgelegt zu haben. The Good Son brauchte Zeit zum Wachsen. 1997 dann The Boatman’s Call, eine stille Platte. Ganz Melancholie und Trauer, begleitet von Klavier, Geige, sparsamer Gitarre und einem mit Besen gespieltem Schlagzeug. Gut möglich, dass ich in der Zwischenzeit milde geworden bin, das Album gefiel mir auf Anhieb. Für die Bildungsbürger unter uns: Das einzige Album, das nonchalant Immanuel Kant und Lou Reed in einem Song zitiert.

Wer, wie es sich gehört, Kontraste liebt, höre sich The Boatman’s Call an. Und danach Grinderman, zehn Jahre später veröffentlicht. Darauf Blues von der räudigsten Sorte, tobend und tosend. Das Heilige ist nichts ohne das Unheilige, das Hochgeistige nichts ohne das Profane. Die Zukunft bleibt spannend. Happy Birthday, Nicholas Edward Cave! Und schreiben Sie mal wieder einen Brandbrief an MTV. Die brauchen das.

Robert Mießner
Autor satt.org, junge Welt
Berlin




Nick Cave & The Bad Seeds: The Ultimate Collection

Geh ein wenig spazieren am Rande der Stadt
Meist passiert nicht wirklich viel
Vor dem Fenster ist die Welt in den Krieg gezogen
Wir pressten unsere Gesichter gegen das Glas, sehen ihn
zertrampelt zwischen ihren Füßen,
während alle Männer und Frauen schlafen
durchsuchte ich die Bilder in einem ledergebundenen Buch.

Nick CaveAdelaide 1988, Credit: Rob B.
Quelle

Ich konnte deutlich das Damoklesschwert hängen sehn
über ihr, blutend wie ein Lamm
Hochwasser am lockenden Fluss
Und zwanzig tiefe Löcher, sie darin zu begraben, die
Beschwipsten, die Taumelnden und die Sternhagelvollen
wenn du mit Kannibalen dinierst wirst du
früher oder später verspeist
Ich hoffe, du sitzt bequem: Sie
bringen jetzt die Toten raus
Da geht sie hin, meine schöne Welt, die
Faust in deinem Kleid - Massenvernichtung, Darling!

Es kommt ein Krieg von oben, das ist bloß
Geschichte, die sich wiederholt
Bündel grünen Papiers, in seiner roten rechten
Hand
die Schlüssel zum Gulag, der Brunnen
reichte hinunter bis in die Hölle

Dreh dich um und trink aus mir, macht dir das Angst?
Du sagtest:

Hey, Naturbursche, siehst du mich etwa
an, mit unlauteren Absichten?
Sappho zitierend, im griechischen Original
Ich bin allein und sie hat mich verlassen, aber
ich werde nicht lange weinen

Treff ich dich dann an den Toren?

Text: Zitate aus Songs von Nick Cave

Übersetzung und Zusammenstellung:
Tina Manske
Autorin und Musikredaktion
titel-Magazin
Berlin




The Road Was Long. But Not Hard

Nick Cave, London 1989
London 1989, Credit: Unbekannt
Quelle

Ich bin Jahrgang 1967, also zehn Jahre jünger als Nick Cave. Meine musikalische Frühzeit begann nach einer gewissen Vorliebe für Boney M und einer Begeisterung für Abba, die eigentlich erst mit der letzten LP der schwedischen Band begann. (Super Trooper, etwa meine dritte selbstgekaufte LP nach den Greatest Hits von Queen und Ghost in the Machine von Police.)

Nachdem ich den Punk schlichtweg verpasst hatte (war meines Erachtens aber auch zu jung dafür), interessierte ich mich dann aber für elektronische Musik der frühen 1980er. Über New Romantics wie Duran Duran oder OMD kam ich nach The Human League, New Order oder Heaven 17 schließlich bei Yazoo und Depeche Mode an. Und als ich innerhalb weniger Wochen die zweite (meine erste) Depeche Mode-LP A Broken Spell und den ersten Longplayer von Yazoo (Upstairs at Eric's) erwarb (über die Zusammenhänge Vince Clarke betreffend wusste ich noch nichts), fiel mir auf, dass diese beiden Platten Bestellnummern hatten, die sehr direkt nebeneinander lagen, und zwar INT 146.803 bzw 804. Außerdem stand darunter noch STUMM 7 bzw. STUMM 9, und erst etwas später begriff ich, dass das deutsche Wort "stumm" gleichbedeutend mit der Plattenfirma Mute Records war, für die ich mich auch aufgrund diverser Singles von Yazoo und Depeche Mode immer mehr interessierte. Und nachdem ich mir das Depeche Mode-Debüt Speak and Spell STUMM 5 bzw. INT 146.801 nachgekauft hatte, überlegte ich, ob mir die Platten, die sich hinter den fehlenden Bestellnummern verbargen, wohl auch so gut gefallen würden. (In etwas harmloseren Ausmaßen entwickelte sich dieses Muster auch bei Trevor Horns Label Zang Tumb Toom, bei dem The Art of Noise, Frankie Goes to Hollywood und Propaganda unter Vertrag standen.)

In den nächsten Jahren achtete ich dann auf weitere Mute-Platten und entdeckte dadurch beispielsweise Duetemmo (STUMM 11), Fad Gadget (STUMM 15), Robert Görl (STUMM 16) jeweils rein zufällig beim Durchblättern in Plattenläden. Auch die allererste Erasure-Single (bzw. Maxi-Single) Who Needs Love Like That entdeckte ich aufgrund der Zugehörigkeit zum Label und nicht etwa, weil ich davon gehört hatte, dass Depeche Mode-Mitgründer Vince Clarke ein neues Projekt initiiert hatte. In dieser Zeit kaufte ich mir auch eine der frühen Nick Cave-Platten (STUMM 17 oder 21), aber irgendwie funkte diese so gar nicht elektronische Musik bei mir vorerst nicht, selbst Diamanda Galás habe ich zu dieser Zeit wahrscheinlich öfter gehört. (An dieser Stelle zeigt sich, dass die Erinnerung oft fehlerhaft ist, denn Saint of the Pit und Divine Punishment kamen erst nahezu gleichzeitig mit jener Nick Cave-Platte heraus, die für mich die Wende brachte.)

1986, Frühzeit des Kabelfernsehen. Lange, bevor man in der Region Verden (provinzielles Zentralniedersachsen) MTV empfangen konnte, noch bevor es Viva gab, oder der deutsche Musik-Fernsehsender "Musikbox" in "Tele 5" umbenannt wurde, gab es einen englischen Musiksender namens "Music Box", bei dem es mir besonders ein Moderator namens Gaz Top angetan hatte, der eine Art Frühform von "Wah Wah" oder irgendwelchen Charlotte Roche-Formaten bestritt, bevor er dann von der Bildfläche verschwand und ich ihn Jahre später zufällig bei der Berichterstattung über einen jugendlichen BMX-Wettbewerb wiedersah. Nur Vivas (oder Tele 5's?) "Goofy" fiel in seiner Moderatoren-Karriere noch tiefer und versucht jetzt Höhesonnen, Reisen und Tafelgeschirr zu verscheuern. Gaz Tops Sendung lief immer zu einer bestimmten Zeit, ich glaube, kurz, bevor ich zur Schule musste. Und dort stellte er einmal Kicking against the Pricks vor. (Auf dem Cover sieht Nick Cave übrigens sehr ähnlich aus wie Gaz Top zu jener Zeit. Oder Paul King, damals war so ein Wildwuchs wohl in.)

Da mir Nicks Coverversion von Gene Pitneys Something's Gotten Hold of My Heart gut gefiel (und ich natürlich immer noch versuchte, alle Mute-Platten zusammenzubekommen), gab ich ihm eine neue Chance, und auch, wenn ich damals noch zu ignorant war, Nicks Vorliebe für Bibelzitate als solche zu erkennen oder die musikhistorische Bedeutung von Songs wie Hey Joe, All Tomorrow's Parties, Johnny Cashs The Singer oder Leadbellys Black Betty (auf einer Single B-Seite) zu durchdringen, konnte ich mit diesen größtenteils sehr melodischen Songs sehr viel mehr anfangen als mit früheren Songs des Australiers, die ich heutzutage natürlich als Klassiker zu würdigen weiß (etwa From Her to Eternity oder Tupelo). Es folgte die Doppel-LP (eigentlich eher eine Doppel-Maxi, was die Laufzeit angeht) Your Funeral, My Trial, die wieder etwas schwerer verdaulich war, aber dennoch mehrfach gehört wurde. Gut in Erinnerung sind mir The Carny und die etwas anstößige Schutzhüllen-Illustration, die ich seinerzeit im Kunstunterricht erfolgreich recycelte.

Das nächste Album von Cave kaufte ich dann bereits auf CD, und es beinhaltete seinen ersten (aus meiner Sicht) "Hit", The Mercy Seat, bei dem ich auch erstmals als Teilnehmer am Englisch-Leistungskurs den Text zu schätzen lernte. (Da ich mich momentan bei meinen Eltern befinde, wo nur meine Vinyl-Sammlung steht, und ich zu faul bin, jetzt unzählige spätere Platten zu recherchieren, kommt an dieser Stelle ein "Schnitt".)

Das ist zwanzig Jahre her, und seitdem habe ich Cave dreimal* live gesehen (in Roskilde sogar mit Unterstützung von PJ Harvey beim Duett Henry Lee), ich habe seine Filme gesehen (ich meine damit Ghosts of the Civil Dead, The Proposition und Der Himmel über Berlin, bei dem die Besuche der Konzerte von Cave und Crime & the City Solution für mich selbst heute noch die Höhepunkte sind), seine Bücher (King Ink & And the Ass saw the Angel) gekauft (bisher aber noch nicht gelesen), und ca. 12-15 CDs angeschafft, die mir teilweise großartig gefielen. Irgendwie kann ich es mir sogar eher vorstellen, dass Cave schon 50 wird, als dass mich selbst in diesem Jahr bereits mein 40. Lebensjahr "ereilen" soll. Ich wünsche ihm alles Gute, und seinen Fans, dass er wie Johnny Cash (dessen erreichtes Lebensalter habe ich jetzt auch nicht recherchiert, so sue me …) auch noch mit 80 Jahren großartige Platten aufnimmt - zusammen mit Kylie Minogues Großneffen und Blixa Bargelds Tochter Gabi Kleingeld.

*es gibt nur fünf Interpreten, die ich öfter als dreimal (also viermal) live gesehen habe: Blur, Depeche Mode, Grant Lee Buffalo, Smashing Pumpkins, Superschiff und Roger Whittaker. (Wer mitgezählt hat, wird merken, dass das sechs waren, und es sich somit bei einem der Interpreten um einen Scherz handelt.)

Thomas Vorwerk
Filmredaktion satt.org
Berlin



Konzertankündigung, 1981
Konzertankündigung, 1981, Quelle


1981 habe ich The Birthday Party in Brighton gesehen. Eine furiose und stürmische Angelegenheit. 26 Jahre später, diesen Juni, um genau zu sein, betrat Nick Cave unseren Plattenladen. Zwei Kinder begleiteten ihn. Er sah ein wenig so aus, wie man sich einen Nick Cave-Darsteller vorstellt. Ansonsten vergnügt und munter, Scherzworte auf den Lippen. Nach einer Weile Stöbern in den Regalen kam er mit einem ordentlichen Stapel zur Kasse. Der Reihe nach:
  • The Velvet Undergound, 3. Album,
  • Iggy & The Stooges, Raw Power,
  • Gordon Jackson, Thinking Back (The Lost Traffic Album),
    Nuggets – Vinyl.

So weit, so gut. Dann kam eines seiner Kinder an mit: Hawkwind, Hall of the Mountain Grill. Er meinte, es möge die Platte zurückstellen. Ich sagte: "Im Grunde erste Wahl. Das ist die einzige gute britische Band aus den frühen Siebzigern." Er: "Wirklich? OK, gebongt. Ist das wirklich gut?" Meine Antwort: "Alle frühen Hawkwind-Alben sind hörenswert. Das Hundert hinterher ist Schrott. Aber Hall of the Mountain Grill, das ist klasse." Ich habe es getan, ich habe Nick Cave eine Hawkwind-Platte verkauft!
Es kommt noch besser. Er kaufte These Ghoulish Things – Horror Hits for Halloween, eine Kompilation obskurer Monster- und Vampirsongs aus den Fünfzigern und Sechzigern. Dann, dann griff er noch mal zu. Und sackte ein: The Fall, Perverted By Language.

Ich sehe ihn vor mir. Kopfhörer übergestülpt, eine dampfende Tasse Kräutertee auf dem Tisch. Wie er sich Hawkwind anhört, mit dem Kopf zum Space Rock nickt. Danach die Horror Hits, bevor er sich zum krönenden Abschluss The Fall widmet. Eventuell bei einem Gläschen Absinth. Well done, Sire!!! Happy Birthday!

Mike Bradshaw
Radiomoderator und Plattenhändler
Brighton


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