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März 2007
Robert Mießner
für satt.org

Bärte, die Härte
Grinderman


Grinderman
Mute 2007

Grindermann
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26 Stichwörter, die natürlich in keiner Nick Cave-Review fehlen dürfen: Australien, Birthday Party, Ceterum censeo, Dostojewski, Ekel, Frauen (anfangs unerreichbar oder tot, später dann auch anwesend und lebendig), Groteske, Herrenschneider, Inferno, Journaillehass, Komödie (Hand in Hand mit ihrem Gegenstück), Liebeslieder, Maria (Mary), Nocturne, Orpheus, Punk (at heart), Qualität, Religion, Schuhe (handgenäht), Tragödie (Hand in Hand mit ihrem Gegenstück), Untergrund, Velvet Underground, West-Berlin, Xenien, Yard, Zorn. Alles verdammt wahr. Und doch nur die halbe Miete.

Nick Cave ist, das kann nicht oft genug gesagt werden, ein Bluessänger. Zwar wird der Tag, an dem er Revivalpartys und Bierzelte bespielt, nie anbrechen, und er ist auch noch nicht mit Fleischerhemd und Zopf gesichtet worden. Sein Blues ist ein anderer. Existentieller, eleganter und gegenwärtiger. Er könnte den Abgeklärten geben, der alles gesehen hat. Sich die intensiv gelebte Vergangenheit versilbern lassen, auf Routine setzen, Rückschau halten. Weit gefehlt, es gibt Menschen, die werden im Alter noch besser, weil unberechenbarer. Grinderman, seit Herbst vorigen Jahres erwartet, sind Cave, gemeinsam mit den Bad Seeds Warren Ellis, Martyn Casey und Jim Sclavunos. Gemeinsam ist hier wörtlich zu nehmen, die Texte, plötzlich verknappt und direkt, stammen wie gewohnt aus seiner Feder, alle vier zeichnen im Kollektiv für die Musik verantwortlich. Und was für eine es ist: Wer das Glück hatte, eines der in den letzten Jahren als Solo Shows annoncierten Konzerte dieser Besetzung zu erleben, hat einen Vorgeschmack bekommen. Als die vier Caves Klassiker buchstäblich auseinander nahmen und ein sprachloses Publikum zurückließen.

Grindermann
(Foto: Mute, v.l.n.r.: Jim Sclavunos,
Nick Cave, Warren Ellis, Martyn Casey)

Jetzt also das selbstbetitelte Debüt. Die Überraschung ist gelungen, so wenig es auch Sinn macht, von Stunde Null, Tabula Rasa gar zu reden, sind doch alle Beteiligten Männer mit Geschichten und Legenden. Die können woanders nachgelesen werden. Grinderman benutzen den Blues als das, was er immer gemeint war, als die Kunst des Berichtens. Von den Frauen der Männer und den Männern der Frauen, dem ganzen Zeug. Blues lebt von Improvisation. Electric Alice, einer der besten Songs dieses komplett erstaunlichen Albums, basiert auf einer improvisierten Session des Quartetts. Ellis legt Wert auf die Feststellung, dass sich der Titel als Referenz an Alice Coltrane, die im Januar verstorbene Gattin John Coltranes, verstehen ließe. Cave möchte dies noch um Larry Young ergänzt sehen, dem "Coltrane an der Orgel" (Jack McDuff) und auf Miles Davis' Bitches Brew zu hören. Überhaupt Miles Davis: Ausgerechnet der elektrische Miles, der Schrecken aller Traditionalisten, soll bei Love Bomb, dem furiosen Ende des Grinderman-Albums, Pate gestanden haben. Der Kniff des Albums liegt darin, dieses Erbe, das gerne auch zu zehnminütigen Instrumentalorgien verleitet, in kurze, zumeist atemlose und stetig funkelnde Songs zu überführen. Casey erinnert sich, dass Verknappung die Parole im Studio war, dreieinhalb Minuten die ideale Meßlatte waren, in deren Rahmen alles gesagt, alles gespielt werden musste.

Blues ist sozialer Kommentar. Cave zeichnet deutlich das große Ganze als großes Chaos, als Welt aus Krieg und Ausgrenzung. Und singt von den geglückten und missglückten privaten Fluchten. Die Ahnen, die es vor ihm taten, waren dabei in ihren Sujets nicht zimperlich. Er tut es ihnen gleich. Depth Charge Ethel kommentiert er wie folgt: "Der Song handelt von einem Mädchen, das ich in meiner Jugend kannte. Sie war drogenabhängig und verkaufte sich. Gleichzeitig war sie eine der glücklichsten Personen, die ich jemals getroffen habe." Denen, die aufgrund ihres persönlichen Status, ihrer verkorksten Biographie (Profil in der Sprache des Konsumismus) und was auch immer ihrer Verwertbarkeit entgegen steht, eigentlich nicht glücklich sein dürften, dieses Recht zuzusprechen, das ist eine Tat an sich. Mit der Glorifizierung des schlechten Lebens hat es nichts zu tun. Grinderman sind stolzer Rock. Und Vergleiche das Brot der Eiligen. Einer sei trotzdem erlaubt: Diese Platte ist für Leute, die sich nacheinander die Stooges und Jimmy Smith anhören können. Brüder und Schwestern wie wir.

P.S. Als ich Nick Cave das erste Mal hörte (im Parocktikum auf DT64, auch das kann nicht oft genug gesagt werden), stellte ich mir einen Endvierziger mit Bart vor, der garantiert zwei Leben hinter sich hatte. Zwanzig Jahre später ist dem ersten Eindruck Recht gegeben worden.



Erstveröffentlichung: readyselffitter