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20. September 2016
Sonja Grebe
für satt.org
  Emma Braslavsky, Leben ist keine Art mit einem Tier umzugehen

Emma Braslavsky, Leben ist keine Art mit einem Tier umzugehen. Roman. 462 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 24,00 Euro
» Verlag


Last Exit Eiland

Üblicherweise liest man einen Roman, indem man auf der ersten Seite startet und sich dann, schön der Reihenfolge nach, bis zur letzten durcharbeitet. Nimmt man jedoch Leben ist keine Art mit einem Tier umzugehen in die Hand, den neuen Roman von Emma Braslavsky, darf man getrost einen kleinen Umweg einlegen und ganz hinten beginnen, bei den Danksagungen der Autorin, S. 459ff. Dort finden sich die Kürzel Dr., Prof. Dr. oder gleich Univ.-Prof. Dr. Dr. med. in Verbindung mit Fachbereichen und Spezialthemen wie Klimadiagnostik, Meteorologische Extremereignisse, Analyse des Vertebratengenoms, Molecular Embryology, Stammzellenforschung, International Law, Kabbala, Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie; dazu ein Captain und Yacht-Gutachter, außerdem zwei Experten für DDR-Bunkerkomplexe. Eingestreute Ortsangaben: Berlin, Buenos Aires, Sarajevo, Comer See. Für sich genommen sagt all das natürlich rein nichts aus, höchstens, dass die Schreibarbeiten der Autorin, die rund acht Jahre in Anspruch genommen haben, eben von allerlei Gesprächen und Ortseindrücken begleitet worden sind. Wenn man aber im Anschluss an den Abschluss nun den Roman – wie es sich eigentlich gehört – von der ersten Seite an zu lesen beginnt, dürfte man bereits ausreichend präpariert sein, um nicht den Fehler der Rezensentin zu teilen, im vorangestellten Personenregister ungerührt über einige Punkte hinweg zu lesen: Mister Sands und Mister Kat?, Abgesandte eines milliardenschweren Konsortiums für den Kauf des Bunkers 17-5001 / Marie und Josef, geklonte Golden Retriever / Newman, der neue Mensch im Embryonalstadium. Je deutlicher man nämlich von Anfang an diesen Mischgeruch wittert, den Projekte zur Optimierung des Menschen und Katastrophenszenarien in Kombination miteinander ausströmen, umso leichter liest man sich ein.

Ansonsten wähnt man zunächst, es mit einer einfachen Satire auf die Schicht der Wohlstands-Alternativler zu tun zu haben. Die Eingangsszene liefert bissige Zeitgeist-Schelte; Emma Braslavsky reiht hier eifrig die zwingenden Bestandteile des aktuellen ökologisch, politisch und gender-korrekten Lifestyles aneinander, entblößt gleichzeitig den Egoismus, Chauvisnismus und Karrierismus ihrer Hauptfiguren Jivan und Jo und zeigt die grüne Gesellschaftswelt als kontrollsüchtiges und selbstverliebtes System, das nur diejenigen belohnt, die sich ihm heuchlerisch anbiedern:

Jivan, Anfang vierzig, Bunkerarchitekt und aus verflucht reichem Hause, ist auf dem Weg zu einem Abendessen mit Jo, Ende dreißig, selbstberufene Bessere-Welt-Aktivistin und als Jivans Ehefrau finanziell ziemlich sorgenbefreit. Es ist ein Business-Essen, mit dabei sind Verantwortliche der Organisation Animal Rights.

[Jivan] tauscht mit einem Seufzer seine uralten, bequemen Lieblingstreter aus geschmeidigem Boxcalf gegen tierleidfreies Schuhwerk aus wasserfester Mikrofaser. [...] Das Blackbird's Song ist momentan der letzte Schrei in der Stadt in Sachen veganer Küche, die Leute stehen so hartnäckig Schlange, als würde ihnen dort Absolution erteilt. Links und rechts versucht ein schnurgerades Spalier aus blühenden Hyazinthen zwischen blauen Neonlichtern eine streng überwachte Multikulti-Naturschutzpflanzenwelt daran zu hindern, sich auch den Rest des Areals einzuverleiben. Die Ledersneakers verstaut Jivan im Beutel. Bei der Gelegenheit überprüft er Hemd und Hose. [...] Sein dunkelblaues Leinenhemd geht noch als tierlieb durch. Seine Hose ist allerdings grenzwertig: Wollanteile und vor allem diese Acrylfaser, nach jedem Waschgang verrecken Meeresbewohner an den Mikroplastikteilchen, und für das Rostbraun haben Hunderttausende weibliche Cochenilleschildläuse ihre Leben gelassen.

Beinahe hätte Jivan seine Lieblingsledertasche zum Treffen mitgeschleppt, gerade noch rechtzeitig fällt ihm ein, sie zu verstecken. Nur, dass er für vegane Nasen empfindlich nach Döner riecht, weil er vor dem Restaurantbesuch noch einen Sattmacher gebraucht hat, das hat Jivan nicht bedacht. Macht nichts, durch eine schnelle Lüge renkt Jivan die ausgekugelte Stimmung wieder ein. Und mit einer rührseligen Anekdote um ein eingeschüchtertes Krokodil und schließlich mit der Idee, aufblasbare Einhornhörner zu verkaufen, die es ihren menschlichen Trägern ermöglichen, ihre mythologisch verankerte Verbindung zur Tierwelt sichtbar und selbst für Tiere verständlich zum Ausdruck zu bringen, können der hallodrige Jivan und die aparte Jo die Tierrechtler vollends für sich einnehmen. Natürlich möchte Jo Animal Rights im Kampf für die sexuelle Selbstbestimmung von Giraffen und dergleichen tatsächlich gern unterstützen – in erster Linie jedoch will sie unbedingt den Posten als PR-Managerin dieser enorm kapitalstarken Organisation besetzen. Was Jivan wiederum unbedingt will, ist eine zufriedene, besser noch: eine euphorisch gestimmte Frau. Vögel und so interessieren ihn nicht, Vögeln dagegen ungemein. Später beschließt das Kollektiv den geglückten Abend, indem es einverständig ein paar Karaffen Bio-Wein leert.

Da diese Szene glatt als gegenwärtig durchgeht und noch nicht ins Unvertraute vorgreift, funktioniert sie gut als eine Art barrierefreier Einstieg in die Story. Noch macht sich nicht deutlich bemerkbar, dass der Roman zeitlich angesiedelt ist in einer Zukunft, die unserer zeitgenössischen Welt um einen kleinen, aber entscheidenden Schritt voraus ist – man erinnere sich bitte der geklonten Golden Retriever.

Der Abstand zum Jetzt ist so gering, dass Yoko Ono noch einen Gastauftritt hinlegen kann, doch gelten in dieser nahen Zukunft bereits vollkommen neue technisch-wisschenschaftliche Standards. Womöglich ist diese Zukunft aber doch entfernter als gedacht, und inzwischen haben sich Revolutionen in der Medizin ereignet, die Yoko Ono ein nahezu unsterbliches Leben ermöglichen? Man weiß es nicht. Eine wichtige Rolle spielen die Experimente der Wissenschaftler Natalie und Jakob, die es sich zum Ziel gesetzt haben, das menschliche Genom von all seinen Makeln zu befreien, sprich: entscheidend in unsere Evolution einzugreifen und nichts geringeres als den neuen, verbesserten Menschen zu erschaffen. Es ist ein Projekt von solch großer Sprengkraft, dass der Nachname des Forscherehepaars, Oppenheim, wohl nicht von ungefähr an Robert Oppenheimer, den Erfinder der Atombombe, denken lässt. Mittlerweile ist es möglich, Stammzellen beliebig zu züchten. Alles, was das Pärchen dafür benötigt, ist ein bisschen menschliches Zellmaterial, und so sammeln die beiden Haare (man beachte die Umschlagillustration des Romans) und erstellen auf dieser Basis einen manipulierten Gen-Pool für die Zukunft der Menschheit. Offenbar hat sich die Handhabung molekulargenetischer Eingriffe alldieweil wesentlich vereinfacht; Adam und Eva 2.0 können praktischerweise im Heim-Labor des hübschen Stadthäuschens der Oppenheims in Buenos Aires gezeugt werden.

Gesellschaftlich scheint sich indes kaum etwas weiterentwickelt zu haben. Frauen treten innerhalb des Machtsektors hauptsächlich dekorativ in Erscheinung, Führungsrollen übernehmen sie, wenn's hochkommt, im spirituellen Bereich, und das Thema Mutterschaft gerät im Roman gleich für drei Frauen zur Bewährungsprobe. Nach wie vor lauten die entscheidenden Dominanzfaktoren Testosteron und Geld. Das bekommt auch Roana zu spüren, eine weitere Hauptfigur, die auf einem von Papa verordneten Survival-Trip unterwegs ist. Die gerade Neunzehnjährige soll am Fuße eines einsamen Vulkans zu Vernunft und Eigenständigkeit finden, um danach, so hofft Papa, geläutert zurückzukehren und endlich einzuwilligen, sein höchst erfolgreiches Bauunternehmen später einmal weiterzuführen. Roana schlägt sich jedoch lieber bis nach Buenos Aires durch, wo sie an diverse Weltverbesserercliquen gerät. Mal wird sie von einem verlogenen Ideologen missbraucht, mal darf sie bei einem ambitionierten Projekt nicht mitspielen, weil sie ein Mädchen ist. Ziemlich ramponiert, aber umso entschlossener sucht sie weiter nach der ganz großen Portion Lebenssinn, um ihren Hunger nach eigener Bedeutung zu stillen. Dann sind da noch Jule und No, ein Aussteigerpärchen, das in einer paradiesischen Bucht Adam und Eva spielt. Nackt, mittellos, frei – um ein völlig neues Leben zu beginnen, haben die beiden alles zurück gelassen, was man eben zivilisiert nennt. Nur einander nicht. Nicht lange, und es verfestigt sich eine Rollenverteilung: sie das Lustobjekt, er der Ernährer. Zwei, die auszogen, um die Zukunft zu suchen, und in der Steinzeit ankamen. Um die Gleichberechtigung der Geschlechter ist es in der Zukunft also trostlos bestellt. Die Gleichberechtigung der Tiere dagegen ist das dauertrendende Thema. Auch in der Zukunft können Tiere nun einmal keine eigene Stimme erheben, um sich zu verteidigen – aber eben auch keine Stimme, um denjenigen Menschen, die ihre ureigenen, eitelkeitsgesteuerten Lebensvorstellungen ungefiltert auf die Tierwelt projizieren, zu widersprechen. Eine gerechtere Welt für alle zu schaffen, davon reden die AktivistInnen und Organisationen im Roman unentwegt. Wer aber diese Alle sind, um die es vorgeblich geht, scheint man weder bei Better Planet, noch bei Life from Zero und Konsorten so genau zu wissen. Die wirklich Benachteiligten dieser Erde spielen nach wie vor einfach keine Rolle. Derweil sind die Privilegierten dieser Erde schwer damit beschäftigt, ihren persönlichen Oberflächenglanz zu optimieren, und es scheint, dass sie vor allem deswegen so gern über die Tiere und den besseren Menschen sprechen, um dem echten Menschen und dessen echten Problemen guten Gewissens aus dem Weg gehen zu können. Keineswegs mangelt es jenen ZukunftvisionärInnen am notwendigen Ehrgeiz; an Aufrichtigkeit und Selbsthinterfragung dagegen sehr. Unter den idealistischen Projekten, die Roana durchläuft, als seien es Hindernis-Parcours, findet sich beispielsweise ein Camp, in dem gut situierte Familien einen Sommer lang Kommunismus spielen dürfen. Die Verniedlichung und Kommerzialisierung des Kommunismus als Ferienvergnügen: noch anschaulicher hätte Emma Braslavsky das Absurde am Wohlfühl-Aktivistentum nun wirklich nicht verpacken können. Am Ende aber muss doch jene Welt, in der Individuen jeglicher Art das Recht auf freie Entfaltung so vehement zugesprochen wird, in der Achtsamkeit, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Fortschrittlichkeit so präsente, intensiv diskutierte Themen sind, unserer zeitgenössischen wenigstens irgendwas voraus haben?

Dann aber geht ein Ruck durch die Welt. Genauer: ein Internet-Hype. Mitten im Atlantik wird eine Insel von der Größe Balis entdeckt, die bislang kartographisch nicht erfasst war, eine staatliche Zugehörigkeit liegt nicht vor. Da die Insel von niemandem betreten, sondern nur aus der Ferne fotografiert wurde, steht ihre Eroberung noch aus. Unbekanntes Neuland, 5000 Quadratkilometer Projektionsfläche für utopische Ideen! Seit dem Goldrausch hat es keine derartige globale Euphorie mehr gegeben. Die Insel im Auge des medialen Sturms reißt wirklich alle in ihren Bann, Aussteiger, Forscher, Politiker, Philosophen, Luxusreisende, Umwelt-Aktivisten, und wird so auch zum Brennpunkt, in dem sich die Schicksale von Jo, Jivan, Jule, No, Natalie, Jakob, Roana und Newman schließlich überschneiden.

Völlig zu Recht hat der Verlag diesem Roman einen Bucheinband in pinkigem Beerenton verpasst und dazu noch einen Umschlag, der nur auf den ersten Blick harmlos grau aussieht – hält man ihn ins Licht, glitzert er wie Feenstaub. So viel Übertreibung muss sein, denn auch das Erzählen gibt sich nicht zufrieden, bevor es nicht auf allen Ebenen optimal too much ist. Sprachlich tobt die Autorin ihren merklichen Spaß an Aufgedrehtheit und Flapsigkeit besonders in den von Roana erzählten Abschnitten aus, ohne jedoch ins Unkontrollierte zu kippen. Strukturell lässt sie natürlich mehrere Ereignisebenen parallel laufen. Mit den Figuren springt ihre geistige Schöpferin raubeinig bis boshaft um: Da sie sich hier intensiv mit Genetik befasst, wendet Emma Braslavsky das Prinzip des Survival of the Fittest eben auch konsequent auf ihre Protagonisten an. Thematisch gibt es nichts, das als zu groß oder als unnötiger Ballast betrachtet würde, um nicht doch noch irgendwo zwischen die Zeilen hineingequetscht zu werden. So findet die Installationskunst des Autorinnen-Gatten Noam Braslavsky ihren Kurzauftritt im Roman, Jorge Luis Borges ebenfalls, und selbst die Titanic lässt die Autorin quasi ein zweites Mal untergehen.

Am Ende hat man überraschend viel gelacht während des Lesens. Und doch wird man das Gefühl nicht los, man müsse sich möglichst bald einmal etwas tiefgehender mit Bunkerkunde befassen.

 


Sonja Grebe schrieb für satt.org zuletzt über
Anja Kümmel, Dietmar Dath, Wilhelm Bartsch
und Michael Rutschky.