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Juni 2004
Marc Degens
für satt.org

ndl
neue deutsche literatur


bei:
Schwartzkopff Buchwerke
Neue Schönhauser Str. 20
10178 Berlin
» www.neue-ndl.de

ndl - neue deutsche literatur


„Herbst 2003. Mit einem Aufschrei reagiert die deutsche Autorenszene auf die Ankündigung des Aufbau Verlags, die Literaturzeitschrift ‚ndl’ einzustellen. Schnell ist ein Retter gefunden, der verspricht, das Hochqualitäts-Magazin zu übernehmen. Jetzt ist sie da: die neue ‚ndl’ aus dem Schwartzkopff Verlag. Und nun? Hätten wir doch letztes Jahr bloß den Mund gehalten.“

Dieses Zitat von Martin Droschke aus der Berliner Stadtillustrierten zitty (12/2004) ist leider bezeichnend für den Umgang vieler Berufsleser mit zeitgenössischer Literatur. Nicht Neugier und Leidenschaft bewirken die Lektüre, sondern Disziplin und Pflichterfüllung. Lesen verwandelt sich in Arbeitsbelastung. Der gleiche Kritiker schrieb ein paar Wochen vorher: „Und schon wieder hat ein neues Web-Portal für Lyrik eröffnet, denn Gedichte sind derzeit hipp. Es ist von ähnlich hohem Niveau wie die vielen anderen und teilt mit ihnen ein Gros der ewiggleichen Autoren. Die Seite ist eine Köln-Berliner Initiative, über die es eigentlich nichts zu meckern gibt. Nur, dass der Kult um Lyrik jetzt langsam arg inflationär und verdammt DuMont-lastig wird“ (zitty, 10/2004). So schreibt kein Liebhaber von Gedichten, sondern ein zum Lyrik lesen (und meckern) Verurteilter.*

* Über Martin Droschkes Urteile habe ich mich übrigens schon häufiger gewundert, etwa wenn er den Merkur als „linksliberales Magazin“ (zitty, 7/2004) klassifiziert oder im März 2004 das zuletzt vor über einem Jahr (Januar 2003) aktualisierte Internetmagazin DiGITAB als das Literaturforum der Gegenwart preist: „Hier ist ein Redaktionsteam am Werk, das nur Autoren publiziert, die Gegenwartsrelevantes in eine gegenwartstaugliche Form bringen [ …] Wer Zugang zu den literarischen Tendenzen von morgen sucht, ist hier genau richtig aufgehoben.“ (zitty, 5/2004)

Wer allerdings aus Vergnügen und Neugier zu Büchern greift und sich für jüngere Autoren und Texte begeistern kann, wird an der neuen „ndl“ viel Freude haben. Die Zeitschrift präsentiert sich farbenfroh und abwechslungsreich – optisch wie auch inhaltlich. Zahlreiche Rubriken beleben das Magazin: Fotogalerien und Illustrationen, Glossen, Kommentare und Essays. Erfreulicherweise gewähren die Macher den Autoren ausreichend Platz für ihre Arbeiten. Das ist leider eine Seltenheit, und zahlreiche Zeitschriften kranken daran, daß sie sich bemühen, möglichst viele Autoren in einem Heft unterzubringen, so daß sie häufig nur kurze und kürzeste Werkproben abdrucken können. Doch dieses schlaglichtartige Stimmengeflackere schläfert den Lesern auf Dauer bloß ein. Um insbesondere die Qualitäten und Eigenarten von Lyrikern zu erkennen, braucht es meist mehr als nur ein Beispiel – übrigens kann man in dieser Abteilung der „ndl“ bislang die aufregendsten Entdeckungen machen (in der zweiten Ausgabe etwa das Langgedicht von Denise Duhamel).

Die „ndl“ ist, wie ihr Untertitel verrät, eine „zeitschrift für literatur und politik“. Ihren politischen Anspruch löst sie mit den Rubriken „fraktur“ oder „kulturstreit“ ein. Und es ist gut, daß die „ndl“ die beiden Sphären zusammenführt, ohne sie zwangsweise zu verbinden – denn politische Literatur oder literarische Politik verkennt fast immer die Eigengesetzlichkeiten des Mediums und führt zu sonderbaren Mischwesen und untauglichen Halbherzigkeiten. In den ersten beiden Ausgaben lähmen zwar stellenweise noch langmütige Rührseligkeiten und beengte Parteinahmen den Lesefluß (womöglich ein Zugeständnis an die DDR-Tradition des Magazins), doch aufgrund der Fülle und Vielseitigkeit der Zeitschrift kann man über diese Ausnahmen leicht hinwegblättern.

Viel wird im alternativen Kulturraum derzeit von Netzwerken und neuen Strukturen geredet: die jetzt wieder monatlich erscheinende „ndl“ hat das Potential, eine der wichtigsten Plattformen im literarischen Feld zu werden. Die Anfänge sind mehr als verheißungsvoll … jetzt gilt es, die Zeitschrift mit relevanten Themen zu besetzen, den Diskurs zu eröffnen, und nicht nur zu schreiben, sondern auch zu lesen.