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3. August 2013 |
Jörg Auberg
für satt.org |
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Die Untergegangenen und die GerettetenDer Historiker Paul Avrich wollte, ohne den ökonomischen oder historischen Kontext zu vernachlässigen, stets über Individuen schreiben und verstehen, was in ihren Köpfen vorging. Wie kaum ein anderer durchdrang er die Komplexität des amerikanischen Anarchismus. Sein großes Projekt einer Doppelbiografie über Alexander Berkman und Emma Goldmann vollendete seine Tochter Karen Avrich. »Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.« Als der Historiker Paul Avrich (1931-2006) zu Beginn der 1960er Jahre mit seinen Studien der anarchistischen Geschichte begann, schalt ihn sein Tutor, er befasse sich mit jenen, die »verloren« hätten, was nicht nur in den USA ein deformierender Makel war. Dies konnte ihn jedoch nicht davon abhalten, zunächst die Geschichte des russischen Anarchismus und später die Komplexität und Diversität der anarchistischen Strömungen in den USA des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts grundlegend zu erforschen. Dass er schließlich zum »Doyen der Anarchismusforschung« wurde (wie ihn sein kürzlich verstorbener Kollege Nunzio Pernicone einmal nannte), lag zum einen daran, dass er allergrößten Wert auf Primärquellen legte und rigoros auf Akkuratesse insistierte und zum anderen seinem Forschungsgegenstand mit Empathie und Fairness begegnete, ohne die Unstimmigkeiten und Fehler der anarchistischen Protagonisten, der »Verlierer« der Geschichte (als die sie in der gängigen Interpretation gelten), außer Acht zu lassen. Zudem gelang es Avrich dank seines epischen Vermögens, aus seinen Forschungsergebnissen höchst lesbare Erzählungen zu gestalten, in denen der Rohstoff der individuellen Erfahrungen der einzelnen historischen Akteure zur bewahrenden kollektiven Erinnerung wird, die gegen die (mit Theodor W. Adorno gesprochen) »Anpassung ans je Gegenwärtige« Einspruch erhebt und ein Eingedenken darstellt. Im historischen Gedächtnis ist der Gedanke ans Andere, die Utopie eines Besseren gespeichert. Umso tragischer ist es, dass Avrich am Ende seines Lebens an den Folgen einer Alzheimer-Erkrankung litt, sodass er sein über Jahre verfolgtes Projekt, eine Biografie des russisch-amerikanischen Anarchisten Alexander Berkman (1870-1936), nicht vollenden konnte. Vor seinem Tod bat er seine Tochter Karen Avrich, die als Autorin und Redakteurin in New York lebt, dieses Buch zu vollenden, das schließlich unter dem Titel Sasha and Emma als Doppelbiografie Berkmans (der den Spitznamen »Sascha« trug) und seiner lebenslangen Gefährtin Emma Goldman (1869-1940) erschien. Im Laufe der Jahre hatte Paul Avrich Notizen aus Briefen, Presseartikeln, Archivmaterialien und Interviews mit Zeitzeugen (die teilweise in dem 1995 erschienenen Oral-History-Kompendium Anarchist Voices veröffentlicht wurden) zusammengetragen, die Karen Avrich in Buchform überführte. Wie in den übrigen Werken Paul Avrichs steht die »kollektivbiografische« Erfahrung im Vordergrund, ohne dass der historische und sozioökonomische Kontext außer Acht gelassen wird. In der Doppelgeschichte der beiden historischen Akteure beschreibt Avrich deren Emigration aus Russland in die USA, wo ihre hochfliegenden Erwartungen rasch von den grimmigen Realitäten des herrschenden Kapitalismus enttäuscht wurden. Sowohl Berkman als auch Goldman (die relativ wohlhabenden Familien in Russland entstammten) radikalisierten sich im europäisch geprägten anarchistischen Milieu New Yorks, das freilich durch interfraktionelle Streitigkeiten und Eifersüchteleien in sich zerrissen war. Ein zentrales Motiv des Buches ist das Verhältnis der Protagonisten zur Gewalt. Berkman wurde in seiner revolutionären Imagination stark von den russischen Terroristen der »Narodnaja Wolja« (»Wille des Volkes«) geprägt, die 1881 Zar Alexander II. mittels eines Bombenattentats töteten. Als 1892 in Homestead (Pennsylvania) ein Streik von Stahlarbeitern durch die Privatarmeen der Carnegie Steel Company brutal niedergeschlagen wurde, beanspruchte Berkman für sich die Rolle des revolutionären Racheengels und wollte den Verantwortlichen, den Kapitalisten Henry Clay Frick, erschießen, doch traf er ihn nicht tödlich. Er wurde überwältigt und zu vierzehn Jahren Haft verurteilt. Stolz nannte er diese Tat den »ersten terroristischen Akt in Amerika«, der jedoch nicht den erhofften »aufklärerischen« Effekt hatte: Sowohl die Arbeiter in Homestead als auch ein Großteil der Anarchisten (zu denen nicht Emma Goldman gehörte) distanzierten sich davon, und statt einer revolutionären Erhebung folgt staatliche Repression. »Terrorist« war für Berkman ein Ehrenzeichen. Als der anarchistische Einzeltäter Leon Czolgosz in Fortführung der anarchistischen Attentate auf europäische Potentaten in Spanien und Italien 1901 den US-Präsidenten McKinley tötete, insistierte Berkman zur Bestürzung Goldmans, dass dieses Attentat nicht »terroristisch« gewesen sei, da ihm der »Hintergrund der sozialen Notwendigkeit« fehle, denn McKinley sei kein direkter und unmittelbarer Feind des Volkes gewesen. Die Schlacht müsse eher im ökonomischen denn im politischen Feld geführt werden. In diesem Sinne betrachte er das Attentat auf Frick bedeutsamer und aufklärerischer als die Tat Czolgsoz', schrieb er in seinen Prison Memoirs of an Anarchist (1912; dt. Die Tat): »Es war gegen einen greifbaren, realen Unterdrücker gerichtet, den das Volk sich als solchen vorstellte.« Goldman dagegen verteidigte Czolgosz, denn für sie waren beide Taten durch die gleichen Ideale und den gleichen Geist der Selbstaufopferung für ein höheres Ziel inspiriert. Für die amerikanische Öffentlichkeit stellte die »rote Emma« das Schreckgespenst des blutdürstigen, umstürzlerischen Anarchismus dar. Zwar war sie ständig unter polizeilicher Beobachtung, doch zugleich brach sie als öffentliche Figur des amerikanischen Radikalismus aus der Enge der anarchistischen Zirkel aus und wurde Teil einer kulturrevolutionären Moderne, welche die rückständige amerikanische Gesellschaft zu transformieren begann. Als Berkman 1906 aus dem Gefängnis entlassen wurde, war er von den langen Jahren des Eingesperrtseins, die er teilweise in auszehrender Einzelhaft verbringen musste, gezeichnet. Die Liebesbeziehung, die Berkman und Goldman in der Zeit vor dem Attentat auf Frick geführt hatten, wich einer intensiven, nicht immer spannungsfreien Freundschaft. Sowohl Goldman als auch Berkman hatten wechselnde Partner und arbeiteten bis zum Kriegseintritt der USA an der Herausgabe der 1906 gegründeten radikalen Zeitschrift Mother Earth, die Politik und Kultur miteinander verband. Allerdings stand auch der ehemalige Attentäter permanent unter Generalverdacht, wenn infolge von Arbeiterunruhen eine Bombe in Amerika hochging. Nach dem Kriegseintritt der USA wurden radikale Periodika vom Postvertrieb ausgeschlossen und »subversive Elemente« wie Berkman und Goldman inhaftiert. Für die »rote Emma« war »Amerika« längst zur Heimat geworden. »Unser Patriotismus ist der eines Mannes, der eine Frau mit offenen Augen liebt«, sagte sie in ihrem Prozess 1917. »Er ist bezaubert von ihrer Schönheit und sieht dennoch ihre Fehler.« Der US-amerikanische Staat ignorierte jedoch ihren eigenwilligen Patriotismus und verurteilte Goldman und Berkman zu zwei Jahren Haft. Danach wurden die beiden als »unerwünschte Ausländer« nach Russland deportiert, wo sie der bolschewistischen Revolution zunächst sympathisierend gegenüberstanden, doch die zunehmende Repression und vor allem die Niederschlagung des Matrosenaufstandes in Kronstadt 1921 bewirkten eine rigorose Desillusionierung, sodass sie Russland verließen und fortan als Flüchtlinge durch Europa irrten. Da sie auch mit ihrer Kritik gegenüber den Bolschewiki nicht sparten, gerieten sie in der internationalen Linken zunehmend in Isolation. Zunächst machten sie im Berliner Stadtteil Charlottenburg (der aufgrund seines hohen Anteils von Flüchtlingen aus Russland »Charlottengrad« genannt wurde) Station, doch schon bald brach Goldman nach Frankreich und England auf, wo sie eine formale Ehe mit einem jungen Anarchisten einging, um die britische Staatsangehörigkeit zu erlangen. Berkman dagegen lebte seit 1925 als Staatenloser in einem Vorort von Paris, wo er eine prekäre Existenz führte und sich mit Übersetzungen, Ghostwriting und journalistischen Routinearbeiten über Wasser hielt. Zu Beginn der 1930er Jahre wurde er mehrfach ausgewiesen, konnte jedoch immer wieder nach Frankreich zurückkehren. »Werde ich aus Frankreich ausgewiesen, habe ich keinen Ort, wo ich hingehen könnte«, schrieb er 1931 voller Verzweiflung an seinen Anwalt Morris Hillquit. »Kein Land ist willens, mir ein Visum zu geben.« Mit dem Heraufziehen des Nazismus verdüsterte sich der Horizont noch weiter, und Berkmans Glauben an die emanzipatorische Kraft der »Massen« schwand. Desperat fühlte er, in seinem Leben nichts erreicht zu haben und nichts gegen die reaktionäre Welle tun zu können. »Die Welt ist zu verdorben, um in ihr zu leben ...«, konstatierte er 1934. Als Krankheiten seine Existenz noch fragiler machten, versuchte er sich im Juni 1936 in St. Tropez (wo er mittlerweile lebte) zu erschießen, doch der Schuss war nicht tödlich. Erst später erlag er den Folgen seines Selbstmordversuchs. Die Operationen hätten ihn, sagte ein Freund Goldmans später, von einem starken Menschen in einen tatterigen alten Mann verwandelt, und er sei überzeugt gewesen, dass es keinen Sinn zum Weiterleben gebe. In den Augen Roger Baldwins, des Mitbegründers der Bürgerrechtsvereinigung American Civil Liberties Union (ACLU) lag die Selbstauslöschung in Berkmans Hang zur Verzweiflung begründet. »Er gab niemals seinen Glauben an die Gewalt auf, für die verzweifelte Menschen anfällig sind«, sagte Baldwin1974. Für ihn war Berkman offebar ein »destruktiver Charakter«, der an sich selbst scheiterte. Emma Goldman empfand den Tod des lebenslangen Freundes als unermesslichen Verlust. »Meine Freundschaft mit Berkman ist eine, die nichts außer der Tod beenden kann«, hatte sie 1934 einem Reporter erklärt. Goldman selbst unterstützte im Sommer 1936 von London aus noch die CNT-FAI im Spanischen Bürgerkrieg, ehe sie nach Toronto übersiedelte. Am 14. Mai 1940 starb sie an den Folgen eines Schlaganfalls und wurde im Chicagoer Waldheim-Friedhof an der Seite der Haymarket-Anarchisten begraben, mit denen die Geschichte des modernen Anarchismus in den USA 1886 begonnen hatte. Sie habe Amerika zutiefst geliebt, sagte der Anwalt Arthur Leonard Ross, der sie in den USA juristisch vertreten hatte, und doch hätte sie nur im Sarg zurückkehren können. Sasha and Emma ist eine vielschichtige, spannende Erzählung, die ihre Protagonisten durch die Geschichte der amerikanischen Klassenkämpfe von der Zeit des späten neunzehnten Jahrhunderts bis zu den »turbulenten Jahren« der Großen Depression begleitet, als der Anarchismus ins historische Seitenaus katapultiert zu sein schien. Auch wenn die Emma-Goldman-Biografien Alice Wexlers und Candace Falks psychologisch nuancierter sind oder Christine Stansell die Verbindung von revolutionärer Imagination und künstlerischer Sensibilität in der beginnenden amerikanischen Moderne klarer herausstellte, ist diese Beschreibung einer »anarchistischen Odyssee« ein außerordentliches und herausragendes Buch, das zu keinem Zeitpunkt seine faszinierende Kraft verliert. Über die politische Geschichte hinaus ist es auch eine bewegende Erzählung über eine wunderbare, einzigartige Freundschaft, die Gefängnis, Deportation und Unterdrückung überstand und tatsächlich erst durch den Tod ein Ende fand.
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