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10. März 2013
Jörg Auberg
für satt.org
  Operation »Rewrite«: Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen
Stefan Malthaner und Peter Waldmann (Hg.): Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen. Frankfurt am Main: Campus, 2012. 390 Seiten, 34,90 Euro.
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Operation »Rewrite«

In dem Band »Radikale Milieus« reanimieren Staatsschutz-Akademiker das Feindbild des »Sympathisanten-Netzwerkes« und modellieren die politische Realität nach den Erfordernissen der blanken Herrschafts- und Geschäftsinteressen, die das technokratisch-akademische Milieu finanzieren.

Als sich im Jahre 1977 der deutsche Staat durch die Angriffe der RAF in seinen Grundfesten erschüttert sah und gegen ein diffuses Milieu angeblicher Sympathisanten des Terrors mobilisierte, veröffentlichte Klaus Staeck ein Plakat als Protest gegen die staatliche Drangsalierung: Über einem Bücherberg aus Werken von Heinrich Böll, Siegfried Lenz und Günter Grass (der an die Bücherverbrennung von 1933 erinnern sollte) prangte der ironische Schriftzug: »Der Sympathisantensumpf muß trockengelegt werden.« Zur gleichen Zeit veröffentlichte der Spiegel – vorgeblich das »Sturmgeschütz der Demokratie mit verengten Sehschlitzen« – eine fünfteilige Serie zur Typologie der Sympathisanten, die nicht allein im traditionell deutsch-dumpfen Ressentiment Rechtsanwälte und Hochschulprofessoren einschloss, sondern auch »Spontis«, »Anarchos« und ihre Buchläden. »Die Internationale der Sympathisanten war in der letzten Woche so augenfällig wie das Geflecht des grenzüberschreitenden Terrorismus selbst [...]«, hieß es im vierten Teil der Serie, womit der Spiegel im aufgeheizten Klima der Zeit den Kampfbegriff des »Sympathisanten« zur umfänglichen Diffamierung der politischen Gegner des deutschen Staats nutzte.

Im Zuge des neuen »Krieges gegen den Terror« wird diese Zombie-Internationale unter dem Etikett der »radikalen Milieus« exhumiert und als neues Bedrohungspotenzial im »Diskurs« über den Terrorismus aufgeblasen. In dem im Campus Verlag von Peter Waldmann und Stefan Malthaner herausgegebenen gleichnamigen Band untersuchen Politologen, Soziologen und Historiker verschiedene Formen des Terrorismus – von Zeloten und Sikariern im antiken Judentum über den anarchistischen Terrorismus im 19. Jahrhundert, den Aktionen der Roten Armee Fraktion (RAF) und der Bewegung 2. Juni sowie nationalen Befreiungsbewegungen wie der ETA im Baskenland und der IRA in Irland bis zu islamistischen und neonazistischen Terrorgruppen des 21. Jahrhunderts – und argumentieren dabei ausschließlich aus der Perspektive von Staatsschutz-Akademikern. Der Terrorismus ist zu einem Konstrukt der Totalität deviationistischer Milieus geronnen, in dem jeder Angreifer, der Repräsentanten, Institutionen oder Symbole eines Staates attackiert, ungeachtet diametraler politischer Unterschiede als »Staatsfeind«, als Inkarnation des Bösen klassifiziert und rubriziert wird, während der von militärischen Gruppen oder staatlichen Kräften organisierte Terror keine Erwähnung findet.

Das Bindeglied der Texte dieses Bandes ist das Konzept des »radikalen Milieus«, das Waldmann und Malthaner in ihrer programmatischen Einführung beschreiben. Der Begriff des Milieus geht auf soziologische Theorien Hippolyte Taines und Émile Durkheims zurück, die im 19. Jahrhundert begründet wurden, und beschreibt in diesem Kontext die »soziale Unterstützerbasis«, die in den Texten auch unter den Termini »Umfeld«, »Netzwerk« oder »Bezugsgruppen« durch die Diskussion schwirren. Als »radikal« definieren Waldmann und Malthaner »Einstellungs-, Orientierungs- und Handlungsmuster, die einen Konflikt gewissermaßen verabsolutieren und zum einen ein hohes Maß an Aufopferungs- und Kampfbereitschaft für die verfochtene Sache implizieren, zum anderen mit der Bereitschaft und unterstellten Notwendigkeit verbunden sind, für das angestrebte Ziel Gewalt anzuwenden«.

In diesem hölzernen, sprachlich unbeholfen wirkenden Jargon wird ein allgemeines Konzept »für die Analyse terroristischer Gewalt« deklariert, das vorgeblich – wie diverse Autoren des Bandes unterstreichen – ein »missing link« in der Forschung darstelle. In der bisherigen Historiografie sei der Terrorist – so lautet die Sprachregelung in diesem Band – als Einzeltäter beschrieben worden, ohne das ihn umgebende soziale Umfeld in Betracht zu ziehen. Tatsächlich aber haben beispielsweise Historiker wie Paul Avrich oder Nunzio Pernicone, welche die politischen, sozialen und kulturellen Komponenten der anarchistischen Bewegungen in den USA und in Europa in ihre Erzählungen der Geschichte einbezogen, stets auf die Affinität einiger anarchistischer Protagonisten zur Gewalt hingewiesen, die zum großen Teil auf die erfahrene Gewalt in den bestehenden Strukturen als auch auf den moralischen Rigorismus der Akteure zurückzuführen ist. Das Leben des russisch-amerikanischen Anarchisten Alexander Berkman, das Avrich in mehreren Büchern über die Jahrzehnte beschrieb, war von Gewalt gezeichnet – zum einen vom ohnmächtigen Aufschrei gegen die kapitalistische Herrschaft, zum anderen von der institutionellen Macht des staatlichen Systems. Als Berkman nach dem Ersten Weltkrieg und dem Scheitern einer sozialistischen Revolution in Russland als Staatenloser durch Europa irrte, betrachtete er – angesichts des nazistischen Triumphs in Deutschland – Attentate und Geiselnahmen als die »effektivsten und ethischsten Methoden« im Kampf gegen das Hitler-Regime, da es in der heutigen Welt keine Unschuldigen gäbe, denn jeder sei für die Hölle verantwortlich, »in der wir leben«.

Im Gegensatz zu Historikern wie Avrich oder Pernicone verfügen die Autoren dieses Bandes nicht über die geringsten Fähigkeiten »für eine wechselseitige Durchdringung von Makro- und Mikro-Geschichte«, die Siegfried Kracauer als Grundvoraussetzung für die Erfassung historischer Prozesse definierte. Realiter agieren die Repräsentanten des technokratisch-akademischen Milieus vor allem als Virtuosen der digitalen Textverarbeitung, die diverse Materialien zu einer pseudowissenschaftlichen Maische der Unlesbarkeit vermengen, ohne dass sie auch nur eine Spur von Originalität in ihrem Textwust hinterlassen. In einer Operation »Rewrite« wird Geschichte im Interesse akademischer Rackets umgeschrieben, ohne dass neue Erkenntnisse gewonnen werden.

»Als wichtigstes Resultat des Bandes ist festzuhalten«, schreibt Waldmann, dass radikale Milieus tatsächlich existieren.« Diese Milieus, die kein kritisches Wort zur Verantwortung des Staatsschutzes für die Umtriebe der neonazistischen Terrorzellen in Deutschland verlieren, haben sich in den Universitäten eingenistet und sind auf die Destruktion des Lesbaren ausgerichtet. »Schreiben bedeutet, den Anspruch auf die Aufmerksamkeit der Leser zu erheben«, schrieb C. Wright Mills. »Dies ist Teil eines jeden Stils. Schreiben beansprucht für sich selbst den Status, gelesen zu werden.« Die Texte dieses Bandes sind nicht nur stillos, sondern demonstrieren mit ihrer Unlesbarkeit eine Verachtung für den Leser. Der auf die blanken Herrschafts- und Geschäftsinteressen zugerichtete Geist entpuppt sich als Anhängsel des herrschaftlichen Betriebes. »Der Geist ist eine Illusion«, stellten Markus Metz und Georg Seeßlen im Rahmen ihrer Analyse der »Blödmaschinen« fest. Realiter ist Wissenschaft selbst zur Blödmaschine verkommen, wie dieser Band offenkundig demonstriert.