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29. Dezember 2012 |
Thomas Vorwerk
für satt.org |
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Wie aus Wildnis Gesellschaft wirdKulturelle Selbstverständigung und populäre Kultur am Beispiel von John Fords Film »The Man Who Shot Liberty Valance« So wie Dutton Peabody sagen würde »I'm a newspaperman, not a politician« und Leonard McCoy »I'm a doctor, not a bricklayer«, so gilt für den Autor dieser Zeilen, dass er Filmwissenschaftler ist, und kein Kultursoziologe. Ich werde den Unterschied sogar noch verdeutlichen, denn obwohl ich einige Semester lang Publizistik- und Sozialwissenschaften studiert habe, führte dann insbesondere der darin überhand nehmende sozialwissenschaftliche (und statistische) Teil dazu, dass ich das Nebenfach »Publizistik«, das scheinbar so gut zu meinen journalistischen Zukunftsplänen passte, abserviert habe, und stattdessen die Filmwissenschaft zum zweiten Hauptfach erklärte. Was im Nachhinein eine der besten Entscheidungen meines Lebens war, denn das Kulturelle im Sinne von Filmen, Büchern und Comics liegt mir weitaus besser als alles, was »soziologisch« genannt werden kann. Jörn Ahrens ist nicht nur Dr., sondern Professor für Kultursoziologie. Und so schreibt er auch. Wer ihn als Prüfer auserpicht hat, dürfte durch sein Buch nicht wenige Hinweise erhalten, was dem Herrn Professor so zusagt, und dann entsprechend entweder eines dieser Themengebiete beackern oder aber sie weiträumig umfahren, so der Prüfer dies zulässt (bei meinen Prüfern war das seinerzeit größtenteils machbar). Wer aber ein kultursoziologisches Werk eines Professoren lesen möchte, weil man sich einbildet, es ginge auch um filmwissenschaftliche Belange wie Filmanalyse oder die Erforschung des Western-Genres, dem schlage ich vor, folgende Fragen zu beantworten: Interessiere ich mich für die kultursoziologischen Zusammenhänge zwischen Kultur, Gesellschaft, Freiheit, Souveränität und »Das Böse«? Habe ich bereits die Hauptwerke von Georg Simmel, Émile Durkheim und Jean-Jacques Rousseau gelesen oder plane diese demnächst zu lesen? Ist mir Marx' elfte These über Feuerbach gegenwärtig? Empfinde ich Freude dabei, lange, komplexe Sätze mit hohem Fremdwortanteil zu enträtseln, und dabei auch noch alle paar Seiten neue Fremdwörter kennenzulernen? Worte wie »rhizomatisch«, »agonal«, »alltagspraxeologisch« oder »Reagibilität«? Habe ich bereits die Hauptwerke von Arnold Gehlen, Heinrich Popitz und Zygmunt Bauman gelesen oder plane diese demnächst zu lesen? Habe ich mich schon immer gefragt, ob John Ford Hegelianer ist oder ob einige seiner Westernfiguren vielleicht Kant gelesen haben? Wer immerhin zwei dieser Fragen halbwegs enthusiastisch bejahen kann, für den könnte Wie aus Wildnis Gesellschaft wird durchaus eine lohnende Lektüre sein (vollends sicher bin ich mir da aber nicht), für mich persönlich war es nicht weniger als eine Tortur, weil Ahrens ausgiebig über komplexe Sachverhalte referiert, die mich allenfalls ansatzweise interessieren. Und er tut dies mit einem Rundumschlag an kultursoziologischen, philosophischen und ethischen Grundtexten, deren Relevanz für sein Forschungsgebiet er gerne in zwei bei drei Sätzen zusammenfasst, ehe ein prägnantes Zitat folgt, so dass ich mich gänzlich wie der sprichwörtliche »fish out of water« fühlte. Im Grunde genommen wirkte das Buch auf mich wie ein Werk über die Naturbilder van Goghs, das ja auf den ersten Blick für einen Kunsthistoriker hochinteressant wirken könnte. Doch dann stellt sich heraus, dass der Autor jeweils anhand van Goghs »Sonnenblumen« etc. Aussagen über die Spezies, die Herkunft oder den Monat, in dem das Bild entstanden sein muss (weil Sonnenblumen zumeist dann und dann blühen), tätigt, und dieses anfüttert mit jeder Menge Zitaten von Mendel, Goethe, Humboldt, was weiß ich. Das kann kunsthistorisch interessant sein, aber es ist die Gefahr gegeben, dass den Kunsthistoriker nur etwa ein Achtel der Seiten wirklich interessieren, und so war es auch bei mir und diesem vermeintlichen Filmbuch. Denn Wie aus Wildnis Gesellschaft wird ist eines ganz sicher nicht: Ein Filmbuch. Ahrens hat einen kultursoziologischen Ansatz, den man auch sein persönliches Anliegen nennen könnte: Er will die Beschäftigung mit populärkulturellen Artefakten (wie z. B. Filmen), insbesondere solchen, die - wie er schreibt - »für sich selbst argumentieren«, zum Bestandteil der Kultursoziologie machen. Er selbst beschäftigt sich offensichtlich schon länger mit solchen Artefakten, und dieses Werk, das anhand des »beispielhaften« Films The Man who shot Liberty Valance seinen Standpunkt verdeutlicht, soll andere Kultursoziologen von der Veritabilität (jetzt quatsch' ich schon wie er ...) dieses Ansatzes überzeugen. Dies umschreibt etwa 70 % des Buches und seines Nutzen, und wen das dringend interessiert, der soll zuschlagen und zur Diskussion um die mögliche Revolution der Kultursoziologie beitragen. Wer sich hingegen nicht so für Kultursoziologie und die mitunter persönlich anmutenden Belange von Dr. Ahrens interessiert, für den wird es schon schwerer, Nutzen aus diesem Buch zu ziehen. Ich persönlich war immerhin sehr davon angetan, wie Ahrens die erste Szene aus Kubricks 2001 - A Space Odyssey als Visualisierung eines Gründungsmythos auffasst, wobei hier nicht nur mit dem ersten »Werkzeug« der Weg zur Zivilisation beschritten wird, sondern dieses Werkzeug vor allem auch ein Mordwerkzeug ist (darüber hatte ich zuvor nie reflektiert), und die Tötung des zuvor »Herrschenden« für Ahrens als Gründungsmythos noch weitaus interessanter ist als für mich immer die ganze Sache mit dem Werkzeug (natürlich auch aufgrund des folgenden Match-Cut vom Knochen zum etwas komplexeren Werkzeug Raumstation). Diese Tötung »im Dienste der Zivilisation« (meine persönliche Kurzzusammenfassung) ist in The Man who shot Liberty Valence natürlich ein zentrales Dilemma, und der hierher stammende Denkansatz war bei der Lektüre des Buches für mich auch einer der interessantesten Punkte. Schade, dass der Anteil am Gesamttext eher in einer einstelligen Prozentzahl zu bemessen war. Es fällt mir schwer, meine immense Frustration bei der Lektüre in Worte zu fassen, und so muss ich mal wieder an Details meine Enttäuschung abarbeiten. In meinen (unwürdigen) Augen gibt es einige unwichtige Punkte, die mich über mein Desinteresse hinaus an dem Buch stören. Da gibt es eine Filmographie, bei der sich die wenigen Stabangaben u.a. in einem seltsamen Auslegung des Begriffs »Buch« erschöpfen. Das Buch für Michael Winterbottoms The Claim schrieben laut Ahrens Thomas Hardy und Frank Cottrell Boyce, zwischen einer literarischen Vorlage und einem (stark veränderten) Drehbuch wird nicht entschieden, stattdessen werden zu »Co-Autoren« Personen, die nicht einmal Zeitgenossen sind oder waren. Noch schlimmer finde ich aber die Gedankengänge Ahrens, die vom Veröffentlichungsjahr des Films (1962) zur Hinrichtung Adolf Eichmanns und Hannah Arendts Buch darüber (Untertitel: Ein Bericht zur Banalität des Bösen) führen, was irgendwie zu dem Kapitel über »das Böse« passt, wobei neben dem durchaus bösen Liberty Valance und seinem Gegenpart Tom Doniphon (wer sich nicht mehr genau dran erinnert, das war die von John Wayne gespielte Figur) auch der Publizist Peabody ins Spiel gebracht wird, der mal im Suff reichlich shakespearisch vor sich hin brabbelt, woraus Ahrens auch eine Passage aus Henry V ausmacht und von da aus quasi den Bogen schlägt zu den bekannten Bösewichten bei Shakespeare (die Arendt in ihrem 1962er Vorwort mit Eichmann vergleicht). Ahrens behauptet am Ende dieser ohnehin wackligen Konstruktion einfach mal, dass Peabody Liberty Valence »in eine Reihe mit den Schurken Shakespeares« stellt (um überhaupt einen Zusammenhang herzustellen). Daran musste ich schon ziemlich lange knabbern, und weil dies mal ein Moment des Buchs war, in dem meine persönlichen Fachgebiete (also Filmwissenschaft und Anglistik, die ich immerhin studiert habe) gefragt waren, stieß mir diese Passage besonders sauer auf. Und im Gegensatz zu vielen womöglich genialen kultursoziologischen Ansätzen kann ich hier halt ganz klar festmachen, dass Ahrens auch mal ziemlich schlampig etwas zusammenklempnert, was immerhin seine Fachgebiete (wie Hannah Arendt, eine der am häufigsten im Buch zitierten Wissenschaftlerinnen) berührt. Und auf lange Sicht seinen Standpunkt festigen soll, für mich aber wie eine Schwachstelle, ein Konstruktionsfehler wirkt, der ungeachtet meiner fehlenden Expertise bezüglich unzähliger anderer Gedankengänge des Buches das Gesamtwerk fragwürdig erscheinen lässt.
Doch das sind eigentlich immer noch Kleinigkeiten, endgültig verscherzt hat es sich Ahrens mit seiner Aussage auf Seite 334: »In Erikons [sic!] Saloon findet ein Mass Meeting statt, bei dem Wahlen abgehalten werden sollen.« Wer The Man Who Shot Liberty Valance halbwegs aufmerksam schaut (und ich gehe davon aus, dass Ahrens den Film viel öfter als ich gesehen hat), der sollte merken, dass die Eriksons keinen Saloon besitzen oder führen, sondern »Peter's Place« (benannt nach Peter Erikson), bei dem schon draußen auf das »home cooking« hingewiesen wird, und wo man offenbar keine alkoholischen Getränke bestellen kann, sondern höchstens Becher mit Kaffee oder Gläser mit Wasser (diese stehen jedenfalls hin und wieder auf den Tischen). Selbst wenn der »town drunk« Peabody »his usual« bestellt, handelt es sich ausschließlich um Speisen, Ahrens aber beißt sich fest an der einen Stelle, wo Peters Gattin Nora dem bös zugerichteten Stoddard aus medizinischen Gründen einen Schluck Aquavit aus der gut versteckten Flasche in den Kaffee gießt - zur Stärkung. Zack, schon ist Nora eine »Saloon-Wirtin«. Das »Mass Meeting« findet statt in »Hank's Saloon« (man kann das Schild sogar dahinter noch zur Hälfte sehen), wer »Hank« ist, ist im Film relativ eindeutig, auch wenn sein Name nicht genannt wird (Peabody hat auch hier »his usual«, und diesmal ist es etwas alkoholisches). Hank's Saloon befindet sich gegenüber von »Peter's Place« auf der anderen Straßenseite, und oft genug im Film wird auf die Bewegungen der Kunden zwischen Speiselokal und Saloon hingewiesen (»Wait til the drunks come over from across the street«). Wer sich ernsthaft mit einem Film beschäftigt, ob kultursoziologisch oder sonstwie, sollte wenigstens beim Sichten auch hinschauen und -hören. Auch ohne kultursoziologischen Hintergrund reicht mir dieses Fehlverhalten aus, um das Buch als Ganzes abzuqualifizieren. Dass es darüber hinaus eine Lektüre-Tortur war, bestätigt nur meine persönliche Auffassung, muss aber in mein Urteil nur indirekt einfließen.
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