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7. Juli 2012
Jörg Auberg
für satt.org
  Transgression 2.0 – Media, Culture, and the Politics of a Digital Age.
Transgression 2.0: Media, Culture, and the Politics of a Digital Age. Herausgegeben von David J. Gunkel und Ted Gournelos. New York und London: Continuum, 2012. 300 Seiten, £ 17,99.
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IM DUNKEL DES GRABES

In dem Essayband »Transgression 2.0« werfen angloamerikanische Kulturwissenschaftler einen kritischen Blick auf die Welt des Web 2.0 und verweigern sich der simplen Dichotomie von kapitalistischem Determinismus und technologischer Utopie.

Nicht erst im digitalen Zeitalter hat sich eine Diskussion um Originalität, Kreativität und Wiederverwendbarkeit entsponnen. Die ineinander verwobene Abhängigkeit von Original und Bearbeitung hatte bereits 1876 Ralph Waldo Emerson, der Begründer des amerikanischen Transzendentalismus, in seinem Essay »Quotation and Originality« thematisiert. »Unsere Schuld gegenüber der Tradition durch Lesen und Unterhalten ist so massiv; unsere Widerrede oder private Beigabe so selten und unbedeutend – und dies gemeinhin auf der Basis vom Hören und Lesen von anderen – sodass man im weiteren Sinne sagen kann, es gebe keine reine Originalität. Jeder Verstand zitiert. Das Alte und das Neue machen die Kette und das Gewebe eines jeden Moments aus.«

Bis zu einem gewissen Grad antizipierte der amerikanische Philosoph des 19. Jahrhunderts die kulturelle Praxis des »Mashups« und des »Remixes« des digitalen Zeitalters, wie David J. Gunkel, einer der beiden Herausgeber des Bandes Transgression 2.0, einer Sammlung von kulturwissenschaftlichen Essays zur Rolle von Medien, Kultur und Politik im 21. Jahrhundert, konstatiert. »Der Bevollmächtigte des Patentamtes weiß, dass alle gebrauchten Maschinen immer wieder erfunden und neu erfunden werden«, beschrieb Emerson das ameisenhafte Unterfangen im Kapitalismus, und sein Essay zeigt auf, wie wenig sich in anderthalb Jahrhunderten an der kulturellen Praxis verändert hat: Immer noch transportiert das Insekt in mühseliger Geducktheit einen Halm nach dem anderen, ohne realiter einen Fortschritt bewerkstelligen zu können.

Die Praxis der Transgression, wie sie sich im Umfeld des Projekts »Web 2.0« ausdrückt, stellt eine Grenzüberschreitung dar, die zwischen Revolte und Unterwerfung schwankt. Die Essays des Bandes beleuchten die unterschiedlichen Facetten des Doppelcharakters von Web 2.0: Zum einen bieten die »new social media« neue Möglichkeiten der Kreativität, Distribution und Zirkulation; zugleich aber sind ihnen auch neue Formen der Überwachung, Zensur, monopolistischer Konsolidierung und der Abriegelung des Diskurses unter der Herrschaft globaler Unternehmen wie Apple, Amazon oder Google implantiert. Die Technologien des Web 2.0 ermöglichten eine neue Form des politischen und kulturellen Aktivismus in Form von Blogs, die zwar die Basis für eine »alternative Medienlogik« legten (wie es Richard L. Edwards in einer Theorie der »transgressiven Texte« formuliert), doch zugleich bewirkt die Präsenz neuer Medien nicht die Eliminierung der Macht der alten Medien. »Mashups« und »Remixes« heben nicht die Spannung zwischen »Demokratie« und »Elite« auf, da sie als praktizierte Formen der kulturellen Praxis immer noch dem System kapitalistischer Herrschaft unterliegen. Die Utopie Trotzkis, die den Künsten eine besondere revolutionäre Kraft der Umgestaltung zuschrieb (»Der durchschnittliche Mensch wird sich bis zum Niveau eines Aristoteles, Goethe oder Marx erheben.«), ist in der Ideologie des Web 2.0 stets schon präsent, während Web 2.0 zugleich eine extreme Form des Neoliberalismus praktiziert.

Die technologische Entwicklung in den letzten zwanzig Jahren ermöglichte durch die Etablierung komprimierter Dateiformate zum einen die rasche Verbreitung von Bild- und Videodateien und zum anderen die Etablierung des Internets als Verkaufs- und Distributionsplattform, wodurch vor allem auf dem pornografischen Sektor die Kommerzialisierung und die Erschließung neuer Märkte vorangetrieben wurde. Web 2.0 wurde so zum Marktplatz für pornografische Angebote, auf dem sich eine »neoliberale Sexualität« in Form einer gierigen Kapitalakkumulation und hypermaskulinen Leistungsbereitschaft darstellte. Prototyp dieser Aktivität ist der Porno-Unternehmer Rocco Siffredi, den Stephen Maddison in seinem Essay »Is the Rectum Still a Grave« als Prototypen des »Porno-Pharma-Komplexes« im Umfeld einer destruktiven, gefräßigen Analität beschreibt: »Roccos hungriger Arsch ist hungrig nach Geld«.

Der Vorzug des Buches besteht darin, dass die Autorinnen und Autoren die emanzipatorischen Möglichkeiten des Web 2.0 mit seinen transgressiven Potenzialen hervorheben, ohne die negativen Aspekte der Entwicklung auszublenden. In seinem Essay über die politische Praxis von Globalisierungsgegnern auf den Gipfeln der Welthandelsorganisation bemängelt Michael Truscello die Praxis der »Linksradikalen«, die mit ihrem »Riot Porn« letztlich nur den ideologischen Konflikt in gewalttätiger und spektakulärer Konfrontation imitieren, ohne tatsächlich neue Formen des Widerstands oder eine neue Ästhetik der Repräsentation radikalen Widerspruchs zu entwickeln. Gerade im Aufzeigen der Unzulänglichkeiten der Web 2.0-Kultur liegt die Stärke dieses Buches, das sich einer simplen gegenhegemonischen Perspektive verweigert und stattdessen Bausteine für eine komplexe Kritik des Bestehenden liefert, ohne Fertigprodukte für eine stromlinienförmige Kulturkritik bereitzustellen.