Die Unschuld
(Hirokazu Kore-eda)
Originaltitel: Kaibutsu, Japan 2023, Buch: Yûji Sakamoto, Kamera: Ryûto Kondô, Schnitt: Hirokazu Kore-eda, Musik: Ryuichi Sakamoto, Kostüme: Kazuko Kurosawa, Production Design: Keiko Mitsumatsu, mit Sakura Andô (Saori), Eita Nagayama (Herr Hori), Soya Kurokawa (Minato), Hinata Hiiragi (Yori), Mitsuki Takahata (Hirona), Akihiro Kakuta (Shoda), Shidô Nakamura (Kiyotaka), Yûko Tanaka (Schuldirektorin Fushimi), 127 Min., Kinostart: 21. März 2024
Der erste Eindruck zählt. Das ist eine der Binsenweisheiten, die uns allen im Alltag immer wieder begegnet. Was Kinofilme angeht, sorgen Titel und Poster sowie Trailer in vielen Fällen für diesen so prägenden ersten Eindruck. Es lässt sich hier auf der Seite direkt nachvollziehen: Da steht in großen Lettern Die Unschuld und man sieht zwei lächelnde Jungs in einem Feld mit Blumen. Wer nun nichts weiter über den Film weiß, der mag die Geschichte eines Kindheitsidylls erwarten oder erhoffen. Doch davon ist das neue Werk des japanischen Ausnahmeregisseurs Hirokazu Kore-eda, der unter anderem 2018 mit Shoplifters die Goldene Palme in Cannes gewonnen hat, weit entfernt.
Der Originaltitel des Dramas über einen Fünftklässler, seine alleinerziehende Mutter und seinen Lehrer kommt der vorherrschenden Stimmung des Films deutlich näher. Er lautet übersetzt Monster, und das ist auch der internationale Titel, unter dem der Film seit seiner Premiere im Wettbewerb von Cannes 2023 weithin bekannt geworden ist. Ob nun Unschuld oder Monster, für den ersten Eindruck macht das einen gewaltigen Unterschied. Aber was auch immer in Deutschland (oder auch in Frankreich) zu der zunächst etwas irreführenden Abweichung geführt hat, es handelt sich nicht um einen Etikettenschwindel. Denn am Ende geht es um das ganze Spektrum menschlichen Verhaltens. Es geht darum, wie nahe die Extreme beieinander liegen können und wie leicht sich das vermeintlich Offensichtliche als Täuschung erweisen kann.
© 2023 MONSTER Film Committee
Die verwitwete Saori (Sakura Andô) macht sich Sorgen um ihren etwa elfjährigen Sohn Minato (Soya Kurokawa), den sie alleine großzieht. Er ist abwesend und verstört, sein rätselhaftes Verhalten kulminiert bei einem dramatischen Zwischenfall während einer Autofahrt. Auch dass ein Lehrer ihm attestiert haben soll, ein »Schweinehirn± zu besitzen, lässt bei der zunehmend beunruhigten Mutter die Alarmglocken schrillen. Sie sucht das Gespräch mit der Schulleiterin und verlangt eine Entschuldigung von dem vermeintlich übergriffigen Lehrer Herr Hori.
Bis hierhin ist Die Unschuld ein einfühlsam erzähltes Familiendrama, der Regisseur zeigt sich wie in einigen seiner besten Filme wie Unsere kleine Schwester oder Vater und Sohn als empathischer Beobachter, der in ruhigem Erzählgestus ohne inszenatorische überspitzung zum emotionalen Kern seiner oft so herzzereißenden Szenarien vorstößt. Sakura Andô (Godzilla Minus One, Love Exposure als Saori ist dabei eine ideale Identifikationsfigur für das mitfühlende Publikum. Wie sie der zunehmenden Verzweiflung trotzt, und sich mit urtümlicher Kraft für ihr Kind einsetzt, das ist großes Gefühlskino.
© 2023 MONSTER Film Committee
Statt Aufklärung und Lösung bringt der Beschwerdegang der Mutter in die Schule weitere Irritationen. Auf menschliche Not wird hier mit maximal unpersönlichen Ausweichmanövern reagiert. Hinter hektischen Verbeugungen, die nichts mehr als zum bedeutungslosen Ritual verkommene leere Gesten sind, tun sich die Abgründe einer Gesellschaft auf, in der zynische bürokratische Manöver jedes Mitgefühl zu verschütten drohen. Diese Fassade der falschen Harmonie und der nur scheinbaren Wohlanständigkeit bringt Kore-eda nun zum Einsturz. Aber das tut er nicht etwa, indem er Saoris Kampf weiterverfolgt. Vielmehr wechselt er die Perspektive auf den Konflikt und beginnt den Film nach einer Schwarzblende gleichsam noch einmal von vorne.
© 2023 MONSTER Film Committee
In der Folge werden die Geschehnisse aus der Sicht des Lehrers neu aufgerollt, ehe im letzten Filmdrittel schließlich die auf dem Poster angeteaserte Jungenfreundschaft im Mittelpunkt steht. Ähnlich wie im Klassiker Rashomon (ein naheliegender Vergleich, der in kaum einer Kritik ausgespart wird), erschüttern die Perspektivwechsel vermeintliche Gewissheiten, aber anders als bei Akira Kurosawa geht es hier weniger um die philosophische Frage, ob es die eine Wahrheit letztlich überhaupt geben kann. Vielmehr setzen Kore-eda und sein Drehbuchautor Yûji Sakomoto, der hierzulande am ehesten durch die Netflix-Produktion In Love and Deep Water bekannt sein dürfte, nach und nach ein Puzzle zusammen. Jedes neue Einzelteil fügt dem bis dahin entstandenen Bild eine neue Facette hinzu - bis zu einem vielschichtigen, aber doch ziemlich eindeutigen Gesamtbild.
Die Gerüchteküche im Film, in der es vor angedeuteten Verfehlungen des Schulpersonals nur so brodelt, steht für ein generell vergiftetes Miteinander. Klatsch und Tratsch bilden den Nährboden für Tragik und Verderben. Viel zu schnell sind hier alle bereit, an das Sensationelle und Reißerische zu glauben und sich ein Urteil darüber zu bilden. Mit seiner Erzählweise, bei der er immer wieder die bisherigen Annahmen des Publikums unterläuft und ebendiese Hypothesen als Vorurteile entlarvt, nutzt Sakamoto die gleiche Mechanik. Dabei geht er nicht gerade subtil vor und macht das anfangs ruhige Drama immer mehr zu einem didaktischen Krimi mit einigem Getöse vom Großfeuer bis zum bedeutungsschwangeren Orkan drumherum.
© 2023 MONSTER Film Committee
Das Puzzlespiel und Rätselraten etwa um einen Hausbrand und einen fehlenden Schuh ist jederzeit spannend, auch kreiert Kore-eda dabei aufwühlende Momente wie den fast schon beiläufigen Monster-Fluch eines Vaters über sein Kind. Insgesamt schiebt sich die so absichtsvoll gewählte Struktur allerdings zu stark in den Vordergrund und das geht zuweilen auf Kosten des emotionalen Gehalts der Erzählung. »Die Wahrheit ist egal«, heißt es einmal fast wörtlich im Dialog. Diesem schnöden Befund setzt Kore-eda wiederum Momente echter Kinopoesie wie ein unwahrscheinliches Posaunenduo oder das tatsächlich unschuldige Monsterratespiel der beiden Jungs in einem ausrangierten Waggon entgegen. Nicht zuletzt auch mit Hilfe der elegischen Klavierklänge des kürzlich verstorbenen Oscar-Preisträgers Ryuichi Sakamoto (für Der letzte Kaiser) schafft der Filmemacher kleine Stimmungsoasen, in denen die Zeit und das erzählerische Uhrwerk stillzustehen scheinen. Diese zärtlich-mitfühlenden Szenen wirken in ihrer eigenen Wahrhaftigkeit lange nach: Der letzte Eindruck bleibt.