Jahrhundertfrauen
(Mike Mills)
Originaltitel: 20th Century Women, USA 2016, Buch: Mike Mills, Kamera: Sean Porter, Schnitt: Leslie Jones, Musik: Roger Neill, mit Annette Bening (Dorothea), Elle Fanning (Julie), Greta Gerwig (Abbie), Billy Crudup (William), Lucas Jade Zumann (Jamie), Alison Elliott (Julie's Mother), Thea Gill (Abbie's Mother), Vitaly A. LeBeau (Young Jamie), Olivia Hone (Julie's Sister), Waleed Zuaiter (Charlie), Curran Walters (Matt), Darrell Britt-Gibson (Julian), Alia Shawkat (Trish), Nathalie Love (Cindy), John Billingsley (Abbie's OBGYN), 119 Min., Kinostart: 18. Mai 2017
Das Filmemachen und die persönliche Biographie liegen bei Mike Mills oft nah beieinander. Ähnlich wie Alison Bechdel mit ihren Comics Fun Home und Are you my Mother? hat auch Mills sich in seinen beiden letzten Filmen mit seinem Vater respektive der Mutter befasst. Allerdings fiktionalisiert und selbst bei komplizierten Zusammenhängen weitaus unterhaltsamer.
In Beginners ging es um das späte Coming-Out des Vaters (auf gänzlich andere Weise als bei Bechdel), und Christopher Plummer erhielt für die Rolle auch sowohl den Oscar als auch den Golden Globe. Ganz so viel Glück hat Annette Bening in der Rolle der Mutter (in beiden Filmen geht es nahezu nur um einen der beiden Elternteile) nicht, aber die Golden-Globe-Nominierung ist ja immerhin etwas.
Der Film stützt sich auch eher auf sein gesamtes Ensemble, das inmitten einer seltsamen Patchwork-Familie im Jahr 1979 im kalifornischen Santa Barbara das Coming-of-Age des Mills-Stellvertreters Jamie (Lucas Jade Zumann) schildert.
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Jamies Mutter Dorothea (Bening) bekam ihn erst mit 40, und der große Altersunterschied wird spätestens dann zum Humorlieferant, wenn Dorothea, Jahrgang 1925, sich plötzlich für die Musikvorlieben ihres 15jährigen Sohnes interessiert und u.a. auch die entsprechende Clubszene besucht...
Ein vielleicht von mir überinterpretiertes, aber durchaus interessantes Detail ist, dass Mike Mills, über dessen Familienstand ich mich nicht informiert habe, seinen ersten Spielfilms Thumbsucker auch erst mit Ende Dreißig inszenierte - und in zweien seiner drei Filme (für die er jeweils auch das Drehbuch schrieb, nur gab es bei Thumbsucker eine Literaturvorlage) geht es um die Seelennöte von Teenagern. Und in allen dreien um Generationsklüfte innerhalb der Familie. Diese ... ich nenne es mal »späte Jugendlichkeit«ist also ein weiderkehrendes Thema bei Mills, und wo in Thumbsucker die Erwachsenen noch eine geringe Bedeutung hatten (aber dennoch deutlicher als in Vergleichbaren »Jugendfilmen«), kommt er in 20th Century Women der filmischen Verbindung zweier Generationen am nächsten.
Denn der Film ist geprägt von einer zweigeteilten Voice-Over-Stimme, mit der Dorothea und Jamie es dem Zuschauer nahe legen, die Probleme und Situationen von zwei Seiten zu sehen. Wobei aber die anderen zwei »Frauen des 20. Jahrhunderts« (um den idiotisch verkürzenden deutschen Titel zu umgehen) auch noch eine Rolle spielen. Und wofür Mike Mills die Oscarnominierung für sein Drehbuch verdient hat, ist die liebevolle Ausarbeitung der Biographien aller drei Frauen. Dass sie reale Vorbilder hatten, denen der Film in Initialen gewidmet ist, ändert daran nicht das geringste.
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Im Film gibt es zum einen die 17jährige Julie (Elle Fanning) aus der Nachbarschaft, die schon seit längerem Jamies beste Freundin ist, aber definitiv nicht mehr will. »It was so much easier before you got all horny ...«). Als Julie von Dorothea gebeten wird, bei der »Erziehung« Jamies behilflich zu sein, weil die Vaterfigur fehlt und die Alterskluft bei zwei Jahren halt geringer ist als bei vierzig, ist die (vermeintliche) Mutterrolle eine zweite, die Julie eher nicht ausfüllen möchte - nicht zuletzt, weil sie ja noch voll in der Rebellionsphase steckt und sich von ihrer eigenen Mutter eher distanziert.
Auch noch zu jung, um Jamies Mutter zu sein, ist die im großen Haus eingemietete Fotografin Abbie (Greta Gerwig mal ein wenig entfernt von ihrer Standardrolle), die als zweite im »Erziehungsbund« (von Dorothea mit den Worten »I hope you guys can help me with Jamie« angeleiert) vor allem für die künstlerische Weiterbildung zuständig ist - und Jamie einiges über Feminismus beibringt. Hier spürt man am deutlichsten die persönliche Note des Regisseurs, der sich natürlich noch erinnern kann, welche Bücher und Zitate bei ihm seinerzeit Eindruck machten. Und so wie zeithistorische Details, Drogenerfahrungen und visuelle Erinnerungen scheut sich Mills auch nicht davor, Kernzitate in den Film einzubringen, die für den Zuschauer auf mehreren Ebenen (oft auch mit deutlicher Ironie) funktionieren.
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Die drei Frauen versuchen auf teilweise recht unterschiedliche Weise, aus Jamie einen »nice man«
zu machen, einen Mann, der implizit eben nicht so ist wie der Filmvater, der ihn verließ, als er zehn war. Sondern einen hippen Frauenversteher. Das Fehlen einer Vaterfigur (der quasi zum Haushalt gehörende Zimmermann William, gespielt von Billy Crudup, sorgt eher für Verwirrungen und hat zu den Frauen einen »besseren Draht« als zu Jamie) wird hier durchaus positiv dargestellt, und wenn man die Filme Mike Mills' als Indizienbeweis anführen kann, hat sich diese turbulente und sehr unterhaltsame Erziehung ja auch bezahlt gemacht.
Schon durch die unterschiedlichen Figuren bietet der Film eigentlich fast jedem Zuschauer einen Zugang, und egal, ob man sich für die Inszenierungsideen interessiert, für die Figuren, die Zeit oder die oft unglaublich tollen Dialoge, der Film delivert, um es mal in krudem Denglisch zu formulieren.
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Hier und da wird vielleicht ein bisschen viel Information in den Film gestopft, aber abgesehen davon, dass man ihn sich später noch ein zweites Mal anschauen will, hat das keine negativen Effekte. Mir persönlich hat besonders gefallen, dass die Balance zwischen autobiografischen Details und cleverer Fiktionalisierung super klappt. Zwar geht es alle Nase lang darum, dass die Themen des Films sich auch in den Dialogen spiegeln (etwa, wenn Dorothea über ihr Auto spricht: »It wasn't always old. It came all off a sudden!«), aber schon aufgrund des Filmtempos empfindet man dies fast nie als aufgesetzt. Authentizität kann halt kein Drehbuchkurs liefern, und um festgefahrene erzählerische Strukturen hat sich Mike Mills in seinen Filmen noch nie wirklich gekümmert. Zumindest hat er es sich nicht anmerken lassen, und damit ist er vielen Filmautoren einiges voraus. Und kann als Regisseur auch die spinnert wirkenden Ideen umsetzen.
Die Euphorie der Jugend verbunden mit der Weisheit und Abgeklärtheit des Alters - welcher Regisseur kann das schon liefern?