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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




14. Februar 2017
Elisabeth Nagy (Dayveon & Somniloquies)
& Thomas Vorwerk (restliche Kritiken)
für satt.org
Berlinale 2017



Alle Terminangaben sind sorgfältig abgetippt, aber ohne Gewähr. Die Filme werden immer unter dem Titel aufgeführt, unter dem man sie im offiziellen Berlinale-Katalog findet.


Cinemania-Logo 162:
ForumPlus (Berlinale, Teil 4)



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Casting
(Nicolas Wackerbarth, Forum)

Deutschland 2017, Buch: Nicolas Wackerbarth, Hannes Held, Kamera: Jürgen Carle, Schnitt: Saskia Metten, Casting: Birgit Geier, Ulrike Müller, mit Andreas Lust (Anspielpartner Gerwin), Judith Engel (Regisseurin Vera), Milena Dreissig (Casterin Ruth), Nicole Marischka (Maskenbildnerin Hanne), Stephan Grossman (Produzent Manfred), Ursina Lardi (Almut Dehlen), Marie-Lou Sellem (Mila Ury-Tesche), Corinna Kirchhoff (Luise Maderer), Andrea Sawatzki (Annika Grossmann), Victoria Trautmannsdorff (Tamara Lentzke), Tim Kalkhof (Kostja Stahnke), Anne Müller (Kamerafrau Siri), Abel vom Acker (Oberbeleuchter Abel), Toby Ashraf (Best Boy), Dragan Vasic (Requisiteur Dragan), 91 Min.

Nicolas Wackerbarth, einer aus der Revolver-Gang um Hochhäusler und Heisenberg, hat zuvor zwei Langfilme mit dem kleinen Fernsehspiel bzw. dem WDR und Arte gemacht (Halbschatten lief 2013 auch im Forum), diesmal produziert der Südwestrundfunk und man hat auch in deren Ateliers gedreht. Was super passt, denn es geht hier um die letzte Woche vor Drehbeginn einer Fernsehproduktion, eines Jubiläumsremakes von Fassbinders Die bitteren Tränen der Petra von Kant.

Die Regisseurin Vera (Judith Engel), wie Wackerbarth selbst eine Spätzünderin, die sich ihre künstlerische Integrität bewahren will, aber gleichzeitig auch keine Karrieremöglichkeiten verbauen möchte, hat noch Termine mit fünf hochkarätigen Schauspielerinnen, während der Produzent immer stärker Druck macht, sie soll sich entscheiden.

Schon bei der ersten Kandidatin merkt man, dass auf diesem Set (nebenbei soll Vera auch über Requisiten entscheiden, was ihr ebenfalls schwer fällt) zwar die arbeitstechnische Professionalität gegeben ist, aber viele Beteiligte das Projekt in unterschiedliche Richtungen ziehen wollen.

Als quasi »Unbeteiligter« ersetzt Gerwin (Andreas Lust) den verhinderten Hauptdarsteller als »Anspieler« und gerade im Machtgefüge zwischen ihm, den Schauspielerinnen, der Regisseurin, dem Produzent und der Casterin Ruth (Milena Dreissig) kommt es zu vielen Spannungen, die sich hervorragend mit den unterschiedlichen Ebenen vom Casting-Kennenlernen und der etwas absurden Situation des Fassbinder-Remakes hochschaukeln. Wobei der Film, der zu großen Teilen vom Improvisationsgeschick der Beteiligten zehrt, dabei unglaublich komisch wird.

Wackerbarth umschreibt die Grundsituation wie folgt:

Castings entscheiden sich oft schon in dem Moment, wenn jemand zur Tür reinkommt. Jede Geste, jede Regung, jeder Satz steht unter Beobachtung. Da man noch keine gemeinsame Vertragsbasis hat, tut man so, als begegne man sich aus Freundschaft.

Entsprechend beginnt auch der Film, als die erste vorsprechende Darstellerin die Senderkatakomben betritt, als erstes hört »Gut siehst Du aus!«, gefolgt von »Wir geh'n jetzt in die Maske.« Aus solchen zwischenmenschlichen Verunsicherungen (oft ungewollt oder arglos) bezieht Casting eine tolle Spannung, die aber nicht auf dem Boulevardkomödien-Niveau bleibt, sondern dann noch die zusätzliche filmpolitische Ebene bekommt.

Von den fünf Schauspielerinnen am überzogensten, aber dennoch noch glaubhaft und eine Freude zu beobachten, ist übrigens Andrea Sawatzki, die sich der Rolle fälschlicherweise sicher fühlt, ihren Hund mitbringt, überrascht ist, dass sie überhaupt noch vorsprechen soll. Meine schönste Szene mit ihr ist die, wenn der reichlich aufgetakelten Mimin von der Visagistin Hanne (Nicole Marischka) etwas Make-up »abgenommen« werden soll, diese aber meint »Ich hab' gar nicht viel drauf!«
-Riesenlacher.

Casting (Nicolas Wackerbarth, Forum)

Über solche unterschiedlichen Sichtweisen (ob filmpolitisch oder zwischenmenschlich) speisen sich viele der humorvollen Szenen. Das hat aber auch viel mit der Castingsituation an sich zu tun. Regisseurin Vera hat eine von Wackerbarth übernommene Angewohnheit, spontane Einfälle von den Schauspielern umzusetzen zu lassen. So einen Satz wie »Ich möchte sterben« oder »Ich bin nicht hysterisch« - aber das jetzt total unhysterisch.

Mindestens genauso spannend wird es aber, wenn persönliche Fragen (»Bist du in einer Beziehung?«) unterschwellig als Entscheidungshilfen genutzt werden, was manche Schauspieler dazu bringt, nicht immer aufrichtig zu antworten.

Bezogen auf Gerwin, der früher mal was mit Schauspiel machen wollte, jetzt aber auf der Baustelle unersetzlich ist und nur aushilft, wird dieses Prinzip des Films bis zu beiden Extremen ausgereizt. Auch schön ist es, wenn man zunächst das Gefühl hat, die Maskenbildnerin wolle was von ihm, er dann zwischenzeitig erwähnt, schwul zu sein (und in einer funktionierenden Beziehung), und gleich mehrer Frauen aus unterschiedlichen Motivationen gerne wüssten, ob er bi sei.

Der vielleicht spannendste Twist des Films kommt aber, wenn der schon als ausgestiegen befürchtete männliche Hauptdarsteller endlich auftaucht - zu einem Zeitpunkt, wo Vera alle fünf Kandidatinnen gesehen hat und sich immer noch nicht entschieden hat - und Gerwin nun, in Ermangelung einer anwesenden Kandidatin, die Rolle der Petra übernehmen soll. Der Darsteller wird gefragt, ob ihm das recht sei (»Solange er mir nicht an den Arsch greift!«), und hieraus die vielleicht intensivsten Szenen entstehen, so dass man sich fast vorstellen könnte, dass Gerwin jetzt den »Peter von Kant« spielen könnte.

Im Grunde bin ich bei der Beschreibung des Films fast schon zu weit noch vorne geprescht, aber das Tolle an Casting ist, dass der Film eigentlich durchgehen mitreißend ist, es in jeder Szene etwas mitreißendes, nachdenklich stimmendes oder ungemein unterhaltsames zu entdecken gibt, und der dramaturgische Spannungsbogen trotz aller (dem Film nicht anzumerkenden - jeder Satz hätte auch so im Drehbuch stehen können!) Improvisation passgenau und durchdacht zum Ende gebracht wird.

Zwischendurch ändert sich mal die Herangehensweise an den »Film-im-Film« immens, weil man plötzlich zur besten Sendezeit um 20 Uhr 15 laufen soll (Fassbinder ist inzwischen längst vom Bildungsbürger-Fernsehen vereinnahmt worden), was gerade in der Besetzung Veränderungen mit sich bringen könnte. Ich weiß, dass ein Fernsehfilm bei guten Einschaltquoten mehr Zuschauer hat als die allermeisten Kinofilme, aber Casting hat eigentlich einen richtigen Kinostart verdient und die damit verbundene Aufmerksamkeit - und nicht das Schicksal eines Fernsehfilms, den nur gut erzogene und informierte Personen von Anfang bis Ende schauen. Ich habe selten eine so einhellige positive Resonanz bei einem deutschen Film erlebt wie hier. Selbst Toni Erdmann ist verglichen hiermit polarisierend und für viele zu anstrengend und viel zu lang.

Und - last, but not least! - nach dem Film hatte ich irre Lust, den Fassbinder-Film zu sehen - und danach Casting noch mal. Denn die Wechselwirkungen zwischen den beiden Stoffen sind offensichtlich auch superspannend.


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Motza el hayam / Low Tide
(Daniel Mann, Forum)

Intern. Titel: Low Tide, Israel / Frankreich 2017, Buch: Daniel Mann, Kamera: Ziv Berkovitch, Schnitt, Musik: Or Ben David, Ton, Sound Design: Michael Goorevitch, mit Gal Hoyberger (Yoel Kanovich), Susanne Gschwendtner (Suzan), Amnon Wolf (Dotor), Eran Ivanir (Amos), Oleg Levin (Slava), Amit Berlowitz (Sigal), 74 Min.

Actually, you're the perfect soldier. If you're gone, no one will miss you.

Ein Autoalarm, der sich später als Handyklingeln offenbart. Yoel (Gal Hoyberger) schläft in seinem Auto, starker Regen prasselt auf das Dach. Bevor man auch nur irgendwas über die Hauptfigur des Films erfahren hat, sieht man eine (klar vom restlichen Film zu unterscheidende) Aufnahme von irgendwelchen kriegerischen Kampfhandlungen, darüber eine Frauenstimme. Den Text hört man im Verlauf des Films mehrfach, wenn auch zu Beginn glaube ich nicht komplett. Er lautet in etwa wie folgt, vielleicht fehlt hier oder da etwas oder ich habe die Reihenfolge durcheinander gebracht:

This video is dedicated to you. When you see it, everything will be over. [...]
You were supposed to be here with me, but I am by myself. So this is my last item. [...]
This video is my resignation. My way to tell you I no longer want to do this, not with you. I'm leaving you. I found no other way to tell you, so this is my farewell. I miss you.

Nach und nach erfährt man, dass Yoels Freundin sich frisch von ihm getrennt hat (er besucht ihre Wohnung, lädt dort den gemeinsamen Hund ab), dass sein Vater an Herzinfarkt gestorben ist, dass er gesucht wird, weil er einer Reserveübung der Armee ferngeblieben ist und dass Yoel seinen Job als Geschichtslehrer vermutlich verloren hat.

Motza el hayam / Low Tide (Daniel Mann, Forum)

Die Handlung ist so fragmentarisch wie skurril, aber offenbar geht es um den Zustand des Landes Israel und Yoel (und nicht nur er) steht stellvertretend dafür.

Den Lehrerjob verlor er, weil er im Unterricht zusammenbrach, als er zur Balfour-Deklaration dozierte, dem (abgeschrieben aus der Inhaltsangabe) »Versprechen einer Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina«. Ob ihm dies den Tod des Vaters bewusst machte oder etwas anderes, wurde mir persönlich nicht klar, aber es ist offensichtlich, dass auch Yoel seine »Heimstätte« verloren hat, ob er nun im Auto, in leerstehenden Wohnungen oder in einem Hotel übernachtet.

Immer wieder beginnen Szenen damit, dass Yoel schläft, irgendwo in Reichweite sein Gewehr an der Wand steht und er erwacht, weil eine Tür oder ein Handy klingelt. Und mal reagiert er darauf und mal nicht. Quasi der dauerhafte Alarmzustand des Volkes.

Bei einem Geschichtslehrer ist es keine Überraschung, dass er in der Vergangenheit lebt. Buchstäblich, wenn er in der bald zu räumenden Wohnung des Vaters nächtigt oder ohne deren Wissen in der Wohnung der Ex (als sie kommt, schleicht er sich weg). Gerade die Sache mit der Exfreundin (die selbst nur sehr vereinzelt im Film auftaucht) wird etwas skurriler, wenn er sich von deren Freund, einem Arzt untersuchen lässt, während er ein T-Shirt trägt (»I [heart] NY«), das er aus der Wohnung mitnahm (der Arzt: »I have a shirt like that«).

Wenn man erst mal auf die Israel-Analogie gekommen ist, geht sie einem nicht mehr aus dem Kopf (auch durch die zahlreichen Aufwach-Szenen). In einem Hotel trifft Yoel auf Amos, einen Vertreter für Schlamm aus dem toten Meer, den man als Gesichtsmaske auflegen soll. Noch so eine Metapher für die Vergangenheit, die noch deutlicher dadurch wird, dass auch Amos seinen Job verloren hat, aber einfach weitermacht, seine Proben verteilt, es aber auch nicht für sich behalten kann, dass das Zeug nichts bringt.

Dann lernt Yoel eine Reporterin kennen (quasi die »jüngere« Fassung eines Geschichtsverwalters) und für einige Momente sieht es so aus, als gäbe es Hoffnung. Aber jeder Ausbruchversuch ist nur ein weiterer Dämpfer. Yoel tanzt ausgelassen auf einer Party - Schnitt, er erbricht sich in eine Toilettenschüssel. Das junge Paar fährt freudig durch Tel Aviv - und landet in einem Stau.

Das zieht der Film unerbittlich durch, es gibt noch einige Sinnsprüche über Yoels Auto, dass so tot wie Israel ist - aber immerhin funktioniert das Autoradio noch, wie ein röchelnder Schwanengesang.

Dass die unterschiedlichen Personen sich gegenseitig helfen, ist noch die versöhnlichste Note des Films, aber wenn man in einem Moment mal kurz vor dem Selbstmord zu stehen scheint, dann aber mit dem letzten Bild genau dort anschließt, wie der Film angefangen hat, ist das viel deprimierender als ein Schlussstrich.

Wie die Kriegsvideos und ebenso mysteriösen Einstellungen von einem schwimmenden Yoel hier eingebunden werden, gehört zur trotz allem Kreislauf durchaus vorhandenen Spannung des Films, aber die lakonische Resignation hat mich irgendwie total angesprochen.

Ein Hinweis darauf, wie sehr Berlinale-Müdigkeit und der zum default mode verkommene Sarkasmus mancher Kritikerkollegen den täglichen Umgang prägen, ergab sich bei einem Gespräch über diesen Film. Ich konstatiere »Ich fand den super«, mein Gegenüber antwortet »Ich fand den auch fürchterlich!«.

Kein Film für alle, aber einer der politischen Filme dieses Jahres, der seine Botschaft wirklich in Form und Inhalt umsetzt, ohne Rücksicht auf Verluste und Zuschauer, die beim vom-Kino-zu-Kino-rennen keine Zeit finden, sich auf einen Film einzulassen.


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Set
(Peter Miller, Forum Expanded)

Echtes Old-School-Kino, 16mm und ohne Ton (zwischenzeitig sieht man sogar eine Unreinheit auf der Linse). Der Regisseur lud sich 10.000 Bilder von Sonnenuntergängen herunter und arrangierte dann jeweils den Horizont auf der selben Höhe und die Sonne mittig, so dass ihr Mittelpunkt (die Sonnengröße variiert stark) sich in diesem "kollektiven Sonnenuntergang" langsam dem Horizont nähert und schließlich dahinter verschwindet.

Ich habe keine Instrumentarik, um festzustellen, für wie viele Frames man jedes Einzelbild sieht, ein filmerfahrener älterer Herr raunte seiner Sitznachbarin seinen Eindruck zu (ca. 6), aber rein rechnerisch ist es so: 1000 zu verarbeitende Bilder pro Minute, 1440 Frames pro Minute, dann müsste man die Filmlänge genau stoppen und noch den Abspann einberechnen.

Fakt ist: das menschliche Hirn kann gar nicht alle diese Bilder verarbeiten, aber man sieht immer wieder Details aufblitzen, die faszinieren. Meistens geht die Sonne zwar im Meer unter (erleichtert die Sichtbarkeit des Horizonts), aber es gibt auch Schneelandschaften und Kornfelder. Dann natürlich jede Menge Bäume, Vögel und Schiffe, hier und da auch Menschen, glaube ich mich zu erinnern (in so einem Film Notizen anzufertigen, erschien mir absurd, den Text schrieb ich erst anderthalb Wochen später).

Set (Peter Miller, Forum Expanded)

© Peter Miller

Der reine Arbeitsaufwand, das Zuschneiden und Sortieren der gefundenen Bilder, steht natürlich in keinem Verhältnis zu der Filmlänge, aber der Eindruck dieses Films ist auch kolossal. Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals in meinem Leben für länger als vielleicht eine halbe Minute am Stück mit einem Sonnenuntergang befasst zu haben, aber bei Set starrte ich tatsächlich durchgehend ganz gebannt auf die Sonne (ist bei Realbetrachtung ja auch gesundheitsschädlich) und wollte irgendwie nichts verpassen (10 Minuten ist schon eine reichlich perfekte Zeitspanne für so ein Filmerlebnis).

Ich habe mich nicht eingehend damit befasst, inwiefern man auch unabhängig von einem Kinoprogramm irgendwo sichten kann, aber ich glaube, schon aufgrund der Notwendigkeit, als Kinogänger während der Berlinale immer wieder Pausen füllen zu müssen, könnte man diesen Film durchgängig laufen lassen, immer wieder mit fünf Minuten zum Verlassen und Betreten des Kino (im Grunde wie bei einem Fahrgeschäft auf einem Rummel, toll wäre hier ein Kino mit mehreren großen Ein- und Ausgängen auf beiden Seiten), für einen Obolus von vielleicht 50 Cent oder so, und wenn man das vernünftig vermarktet, wäre das der Kassenschlager der Berlinale, zu dem viele Leute womöglich auch mehrfach gegangen wären. Vielleicht wäre das auch eine alternative Abspielmöglichkeit für wirklich kurze Kurzfilme, so kurz und so schnell hintereinander, dass die Zuschauer gar nicht erst Popcorn kaufen oder ihre Zeitung rausholen, wodurch man auch nicht so viel sauber machen müsste zwischendurch, was vermutlich das größte Problem bei der Umsetzung wäre.


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Dayveon
(Amman Abbasi, Forum)

USA 2017, Buch: Amman Abbasi, Steven Reneau, Kamera: Dustin Lane, Schnitt: Michael Carter, Dominic LaPerriere, Musik: Amman Abbasi, mit Devin Blackmon (Dayveon), Kordell »KD« Johnson (Brayden), Dontrell Bright (Bryan), Chasity Moore (Kim), Lachion Buckingham (Mook), Marquell Manning (Country), 75 Min.

Dayveon ist alles zuwider. Wir folgen ihm auf seinem viel zu kleinem Fahrrad, einem Kinderrad, dem er mit seinen 13 Jahren bereits entwachsen ist, eine Landstraße durch sattgrünem Wald, und hören aus dem Off, wie er alles und jeden doof findet. Sein Leben bietet nicht viel. Die Eltern spielen keine Rolle, er lebt bei seiner Schwester, die bereits ein Baby mit ihrem Freund hat. Der Freund war der beste Freund von Dayveons älterem Bruder, der erschossen wurde. Da hängt in Dayveons Zimmer ein großes Erinnerungsgemälde an der Wand, so groß wie die Leere groß ist in seinem Leben. Die 13 Jahre merkt man ihm gar nicht an, doch immer wieder ist er auch nur ein trotziges Kind, das seinen Willen will, das seine Grenzen austestet, und das zu den Älteren auf Konfrontation geht. Allerdings nicht zu seiner Schwester. Er hilft, er weiß sich selbst zu helfen, er ist keine Last. Der Familienverband ist jedoch noch lose. Nicht so wie die Bienen, die als Gebilde an dem Baum neben den Mülleimern einen Verband bilden.

Amman Abbasi, der für sein Regiedebüt unter anderem David Gordon Green (Snow Angels) und James Schamus (Indignation) als Produzenten gewinnen konnte, schickt den Jungen gleich zu Beginn in eine Schlägerei mit älteren Typen, bis sich auflöst, dass es sich um einen Aufnahmeritus bei den Bloods handelt. Nun ist er Teil einer Gang. Der Freund seiner Schwester, der Nachtschichten schiebt, um die Familie - also auch ihn - durchzubringen, ist nicht begeistert, auch wenn er das Versprechen hält und wieder einmal nichts seiner Schwester erzählt. Den Zwiespalt wird er sicherlich auch kennen. Letztendlich muss jeder seine eigenen Erfahrungen machen.

Die neuen Freunde bleiben jedoch keine eindimensionalen Antagonisten. Abbasi zeigt auf, dass sie keine Arbeit finden, aber trotzdem zu Geld kommen müssen. Er zeigt das Leben in der schwarzen Community auf, und doch scheint durch, dass es auch anders geht, dass der Weg in eine Gang nicht sein muss. Und auch Dayveon scheint das instinktiv zu begreifen. Statt nach einem Überfall, zu dem er mitgenommen wird, in Höhenrausch zu verfallen, wird ihm bewusst, dass seine Opfer seine eigenen Leute sind.

Dayveon (Amman Abbasi, Forum)

Was nun Abbasi in der doch recht kurzen Dramaturgie auf den Punkt bringen will, ist nicht ganz klar. Dafür entwickeln sich die Figuren zu wenig. Alles, was sie tun, und wie sie sich entscheiden, liegt von Anfang an in ihrer Art begründet. Auch fehlt es an einer Zielsetzung oder irgendwelchen Zielen überhaupt. Doch das Leben in Dayveons Community zeichnet sich gerade durch diese Ziellosigkeit aus.

Abbasi arbeitete hauptsächlich mit Laien, nachdem er sich zuvor mit Gang-Mitgliedern ausgetauscht hatte, um zu ergründen, warum Jugendliche in eine Gang gehen. Als Regisseur sollte er sich beim Skript noch Hilfe holen, doch atmosphärisch weiß er seinen Film sowohl mit Ernst als auch mit einer getrageneren Verschlagenheit auszustatten. Immer wieder finden poetische Momente in den Film, auch über den Kameramann Dustin Lane, der die Luft fast zum Greifen mit Licht und Staub füllt und einer Musik, die Abbasi selbst komponiert hat und die der Handlung einem positiven Gegenpunkt gibt.


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Animals – Stadt, Land, Tier
(Greg Zglinski, Forum)

Originaltitel: Tiere, Schweiz / Österreich / Polen 2017, Buch: Jörg Kalt, Greg Zglinski, Kamera: Piotr Jaxa, Schnitt: Karina Ressler, Musik: Bartosz Chajdecki, Sound Design: Laurent Jespersen, Production Design: Gerald Damovsky, mit Birgit Minichmayr (Anna), Philipp Hochmair (Nick), Mona Petri (Mischa / Andrea / Eisverkäuferin), Mehdi Nebbou (Tarek), Michael Ostrowski (Harald), 95 Min.

Die Kombination der Produktionsländer »Schweiz / Österreich / Polen« kann man in diesem Fall sehr einfach entschlüsseln: ein sehr österreichischer, größtenteils in der Schweiz spielender Film eines aus Polen stammenden Regisseurs.

Nick (Philipp Hochmair) und Anna (Birgit Minichmair) verlassen ihre Wiener Wohnung und wollen für ein halbes Jahr in die Schweizer Alpen ziehen, wo er regionale Rezepte zusammentragen will und sie, die bisher Kinderbücher über die Katze Mischa schrieb, ein neues »Erwachsenenbuch« beginnen will über eine Frau, die ihren Mann tötet.

Die Wohnung nebst Aquarium hütet solange Michaela, genannt Mischa (Mona Petri), die dabei von Harald (Michael Ostrowski) bedrängt wird, der sie für seine Freundin Andrea hält, die aber a) eine Wohnung weiter oben wohnt, b) Harald nicht mehr sehen will und stattdessen c) häufig bei Nick anruft, mit dem mal was lief, bis sie sich d) aus dem Fenster stürzt. Also jetzt Andrea, nicht Mischa. Mischa schlägt sich nur wegen eines Skateboards auf dem Hausflur den Kopf auf und lernt dabei den Arzt Tarek (Mehdi Nebbou aus der Trivago-Werbung) kennen.

Währenddessen (zumindest halbwegs, manches wirkt hier geringfügig zeitversetzt) zicken Nick und Anna im Auto miteinander rum, durchfahren einen rotbeleuchteten Tunnel, was auch durch auffällige Musik markiert wird, und landen schließlich (die Anreise zur Berghütte ist lang) vor einem Hotel (die Leuchtreklame ist ebenfalls knallrot), das aber belegt ist.

Typisches Dialogbeispiel: Nick: »Tja, ich hab' mir das auch anders vorgestellt...« - Anna: »Woher weißt du, was ich mir vorstell'?«

Tiere (Greg Zglinski, Forum)

© tellfilm, Andreas Seibert

Nachts, im strömenden Regen sitzen die beiden im Auto, bis plötzlich die Beifahrertür von außen geöffnet wird und jemand Anna an den Haaren wegzerrt. Doch das war nur ein Traum von Nick, der etwas verwirrt darüber ist, dass er jetzt auf dem Beifahrersitz sitzt. Anna hatte auch einen Traum. In dem war es Nick, der sie aus dem Auto zerrte und dann tötete.

»Glaubst du, ich find's gut, dass du träumst, das ich dich umbring'?« - »Was kann ich denn dafür, was ich träume?«

Traumlogik, Doppelgängerinnen, Gedächtnislücken und alternative Entwicklungen, Eifersüchteleien und sterbende Tiere bzw. eine sprechende Katze namens Mischa. In dieser schwarzen Komödie, die sich immer stärker zu einem Mindfuck entwickelt, ist es eigentlich einerlei, ob die Figuren nur Annas ersten »Erwachsenenroman« durchleiden oder sie alles in einem Krankenhausbett liegend zusammenfantasiert (muss sich das eigentlich gegenseitig ausschließen?). Es macht einfach Spaß, dabei zuzuschauen, wie alles immer abstruser wird und man jedesmal, wenn man glaubt, hinter den Dreh einer Entwicklung gekommen zu sein, die neuesten Erkenntnisse wenige Momente später schon wieder abtut, weil das Ganze mit dem nächsten Puzzleteil nicht mehr zusammenpasst. Das ist aber so gewollt, denn auch Mischa entdeckt, dass es jedes mal, wenn sie die Tür zu einem geheimnisvollen Zimmer in der Wiener Wohnung öffnen will (das eine Entsprechung im Alpendomizil hat), an der Wohnungstür klingelt.

Diese kafkaeske Paranoia-Geschichte überzeugt durch ihre Dialoge, die Darsteller und immer mal wieder durch eine tolle Kadrierung (die Szenen am See). Dass die Geschichte an sich manchmal nicht ganz rund wirkt, kann man nicht wirklich kritisieren, denn auch das ist offenbar gewollt. Wie eine Mischung aus Roman Polanskis Repulsion und David Lynch, nur etwas witziger und mit einer höheren Kopfschmerzgefahr.


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Somniloquies
(Verena Paravel & Lucien Castaing-Taylor, Forum)

Frankreich / Großbritannien / USA 2017, Kamera, Schnitt, Ton: Verena Paravel & Lucien Castaing-Taylor, mit der Stimme von Dion McGregor, 73 Min.

Ein Film ist ein visuelles Werk. Die Kamera zeigt im Idealfall etwas, das den Zuschauer eine Wirklichkeit nahebringt, eine Erfahrung erleben lässt, die Sinne von ihrem eigentlichen Bewusstsein abkoppelt und den Strom zu dem fremden Inhalt umleitet. Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor vom Sensory Ethnography Lab in Harvard haben mit Leviathan den Zuschauer mitten auf einen Fischkutter versetzt, wo er den Elementen gnadenlos ausgesetzt war.

Im Prinzip ist Somniloquies ganz ähnlich, nur ist der Gegenstand hier ein visuell kaum greifbarer. Der/die Zuschauer/in schaut einem Menschen beim Schlafen zu. Punkt. Die Kamera ertastet sich diesen Körper, lässt diesen mit einem anderen verschmelzen, wechselt zwischen dem realen zu einem erträumten.

Somniloquies (Verena Paravel & Lucien Castaing-Taylor, Forum)

Dieser Körper und seine Teile sind Teil des Schlafenden und Teil des Träumenden. Quasi eine Manifestation des Schlafs und damit doch greifbar.

Die Kamera bleibt suchend, die Beleuchtung minimal. Extreme Unschärfe ist gewollt. Man kann die Haut nur Stückchenweise erkennen oder erfassen. Die Dunkelheit umhüllt auch das Publikum. Dann setzt eine Stimme ein. Es ist die von Dion McGregor, einem Musiker, der als der eloquenteste Schlafredner gilt.

Sein Mitbewohner hatte diese Schlafreden aufgezeichnet, Mediziner und Wissenschaftler haben an dem Mann geforscht. Was es damit auf sich hat, steht hier nicht im Mittelpunkt. Die Filmemacher etablieren einen Rhythmus, nähern sich dem Subjekt und dem Klang in Spiralen. Auf eine Phase des Traums folgt eine Phase des Nichtträumens, in der nur das Geräusch des Schlafes dampft und in ein Schnarchen übergeht. Um dann erneut einzusetzen. Man wird von der Stimme geführt, wohin auch immer man sich führen lässt.


Bald in Cinemania 163 (Wettbewerbsfilme mit Kinostart):
Berlinale-Kritiken zu Beuys (Andres Veiel, Wettbewerb, ab 1. Juni), T2 Trainspotting (Danny Boyle, Wettbewerb außer Konkurrenz, ab 16. Februar), Toivon Tuolla Puolen / Die andere Seite der Hoffung (Aki Kaurismäki, Wettbewerb, ab 30. März) und Wilde Maus (Josef Hader, Wettbewerb, ab 9. März).