Carol
(Todd Haynes)
UK / USA / Frankreich 2015, Buch: Phyllis Nagy, Lit. Vorlage: Patricia Highsmith, Kamera: Edward Lachman, Schnitt: Affonso Gonçalves, Musik: Carter Burwell, Kostüme: Sandy Powell, Production Design: Judy Becker, Art Direction: Jesse Rosenthal, mit Cate Blanchett (Carol Aird), Rooney Mara (Therese Belivet), Kyle Chandler (Harge Aird), Jake Lacy (Richard Semco), Sarah Paulson (Abby Gerhard), John Magaro (Dannie McElroy), Cory Michael Smith (Tommy Tucker), Kevin Crowley (Fred Haymes), Nik Pajic (Phil McElroy), Carrie Brownstein (Genevieve Cantrell), Trent Rowland (Jack Taft), Sadie & Kk Heim (Rindy Aird), Amy Warner (Jennifer Aird), Michael Haney (John Aird), 118 Min., Kinostart: 17. Dezember 2015
Regisseur Todd Haynes hat eine Affinität für vergangene Jahrzehnte, entsprechende Ausstattung, Musik, Remakes und verbotene Liebe. Seine bekanntesten Arbeiten sind Velvet Goldmine, Far from Heaven, I'm not there und die Fernsehserie Mildred Pierce. Für seinen neuen Film Carol (nach einer komplett krimifreien Vorlage von Patricia Highsmith) lässt er die Remakes und die Musik mal außer acht (obwohl mir der Soundtrack von Carter Burwell durchaus gefallen hat), scheint aber sonst zu einer Kulmination seiner Themen gefunden zu haben.
Schon beim ersten Aufeinandertreffen zwischen der wohlhabenden Carol (Cate Blanchett) und dem »Shopgirl« Therese (Rooney Mara) fallen zwar die Unterschiede zwischen den Frauen auf, aber man merkt als Zuschauer, dass etwas in der Luft »knistert«. Allerdings wird dies auch schon durch einen kleinen Prolog vorbereitet.
Bildmaterial © Wilson Webb / DCM
Man könnte Carol als das weibliche Gegenstück zu Brokeback Mountain beschreiben (in beiden Filmen geht um den Druck der Gesellschaft - individuell wie auch als Gruppe, an dem eine gleichgeschlechtliche Liebe sich aufreibt), aber statt der Cowboy-Mentalität und der »Roughness« der Natur geht es hier atmosphärisch eher um den schönen Schein eines Frauenbildes in den 1950ern. Das hat auch was von Mad Men, Catch me if you can oder Revolutionary Road, weil es um kommerziell ausgebeutete Bilderbuch-Familien und ähnliches geht. Und so beginnt die Geschichte auch im Weihnachtstrubel eines großen Kaufhauses, wo die Bestandteile eines perfekten Familienfestes erstanden werden können. Gleichzeitig sieht man aber auch den Mechanismus dahinter, die auf eine andere, servile Perfektion zugeschnittene Welt der kleinen Arbeiter (»Employee 645A«), die lieblos abgefertigt werden und sich ganz den Wünschen der Käufer (und des Managements) unterordnen müssen.
Lange Zeit wirkt es im Film so, als hätte man das Klischee des »Sugar Daddy« auf eine - zunächst sehr zögerliche - lesbische Liebe aufgestülpt. Die bei »wahrer Liebe« so unangemessenen Ansprüche an Jugend und Attraktivität bzw. finanzielle Geborgenheit und kaufbare Träume funktioniert natürlich auch, wenn das Shopgirl auf die begierlichen Blicke einer guthabenden Kundin reagiert. Aber es zeichnet den Film auch aus, dass die Geschichte auf diversen Ebenen voranschreitet, ganz unterschiedliche Probleme behandelt.
Bildmaterial © Wilson Webb / DCM
Inszenatorisch wird das in großem Umfang mit Lichtbrechungen, Reflexionen und Unschärfen umgesetzt. Immer wieder sieht man die Protagonisten (oder diese sich gegenseitig) durch verregnete Autofenster, man hört sie nicht, weil sie sich hinter einem Fenster befinden, der Blick wird vernebelt oder verzerrt. Mit solchen visuellen Metaphern arbeitet Haynes meisterlich, und man müsste sich den Film eigentlich ein zweites Mal anschauen, um wiederkehrende Motive und ihre Funktionen genauer zu analysieren. Ich habe etwa die These aufgestellt, dass der Einsatz von Unschärfen mehrheitlich mit Emotionen zusammenhängt. Oder über den Einsatz von Schnee nachgedacht: Er setzt ein zum Fest der Liebe, verhüllt den Boden wie eine neue, unbeschriebene Seite (siehe auch den immer bedeutsamen Neujahrstag und die neu gestrichene Wohnung) - und kaum, dass es zu einer schüchternen Berührung zwischen den Frauen kam, ist der Schnee auch schon wieder geschmolzen. Diese kleinen Details sind allesamt gut durchdacht. Das ultimative Bild in dieser Hinsicht ist übrigens gegen Ende des Films zu sehen, wenn man eine Party von außen sieht und zwei Fenster nur einen eingeschränkten Einblick ermöglichen, wodurch die zu überbrückende Distanz deutlich betont wird. Zugegeben, diese Spielchen gab es schon öfter mal in Filmen (etwa in Tatis Mon oncle), aber in der unaufdringlichen Konzentration bringt es Carol zu einer kleinen Meisterschaft.
Zu einem anderen Thema: wie es zu den 1950ern passt, wird hier die Homosexualität als Krankheit betrachtet, über die man aber nicht spricht (sie wird hinter Euphemismen versteckt: »your conduct«, »people like that«). Diese »Krankheit« kann angeblich »geheilt« werden (die Psychoanalyse kommt hier ähnlich schlecht weg wie in Mad Men), man kann aber auch »hineingetrieben« werden. Die Besonderheit der »Krankheit« ist in Carol aber, dass man die Symptome in etwa so zusammenfassen kann: man wird kreativ, selbstbewusst und potentiell glücklicher.
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Im Vergleich zu Brokeback Mountain ist übrigens auffällig (im Hinterkopf behalten, dass in beiden Fällen die literarische Vorlage von einer Frau stammt), dass bei Ang Lee die Frauen, mit denen die beiden Jungs verheiratet sind, eher als Opfer dargestellt werden (insbesondere Michelle Williams leidet wie eine gänzlich Unschuldige), während hier Carols Mann Harge (Kyle Chandler) nur bedingt wie ein Opfer agiert. Er schreitet recht schnell zum Gegenangriff, der auch nicht immer fair verläuft.
Bei allem Lob gab es aber auch ein paar Stellen, die noch besser hätten sein können, und hier kurz erwähnt werden sollen. Zum einen gibt es eine Szene in einem »Stau«, die (vermutlich aufgrund der beschränkt zur Verfügung stehenden zeitgenössischen Autos) so gar nicht funktioniert. Aber noch eine Spur mehr geärgert hat mich die (meines Erachtens unnötige) Sexszene. Ich will nicht zurück in eine Zeit, in der Sex immer nur »angedeutet« wird, aber wenn es dabei geblieben wäre, dass eine Kordel aus einem Mantel gezogen wird und jemand sagt »Take me to the bed«, hätte mir das vollauf genügt. Vor allem, weil sich die Shopgirl-Situation nun auch in der Inszenierung wiederfindet - und der Film war über diesen Status inzwischen weit hinaus.
Bildmaterial © Wilson Webb / DCM
Nichtsdestotrotz einer der fünf besten Filme des Jahres - und der relativ späte deutsche Start hat diesmal einen schönen Nebeneffekt, denn Carol ist eindeutig der Weihnachtsfilm des Jahres!