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Juli 2005
 

Cinemania 18:
Französische Filmwoche 2005

Die fünfte französische Filmwoche ist vorbei, das Echo war fast durchgehend positiv, die Zuschauer konnten nicht nur den Regisseur Arnaud Desplechin entdecken, sondern kamen beispielsweise auch in den Genuß von Olivier Assayas' Clean. Hier Rezensionen zu einigen der Filme, weitere Rezensionen zu den bereits mit deutschen Kinostarts versehenen Filmen (Holy Lola, Zwei ungleiche Schwestern) folgen in den üblichen Monatsüberblicken in Cinemania …



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Cinemania 18:
Französische Filmwoche 2005

[Alle Rezensionen von Thomas Vorwerk]

Top 10
von satt.org-Filmredakteur
Thomas Vorwerk
bei der 5.
Französischen
Filmwoche

  1. Esther Kahn (Arnaud Desplechin, 2000)
  2. Clean (Olivier Assayas)
  3. Rois et reine (Arnaud Desplechin)
  4. Le grand voyage (Ismaël Ferroukhi)
  5. Le Silence (Orso Miret)
  6. Léo, en jouant dans 'La compagnie des hommes' (Arnaud Desplechin, 2003)
  7. Les soeurs fâchées / Zwei ungleiche Schwestern (Alexandra Leclère)
  8. Comment je me suis disputé … (ma vie sexuelle) (Arnaud Desplechin, 1996)
  9. Maarek hob (Danielle Arbid)
  10. Cause toujours! (Jeanne Labrune)

Rois et reine (Arnaud Desplechin)

Int. Titel: Kings and Queen, Frankreich 2004, Buch: Roger Bohbot, Arnaud Desplechin, Kamera: Eric Gautier, Schnitt: Laurence Briaud, mit Emmanuelle Devos (Nora Cotterelle), Mathieu Amalric (Ismaël Vuillard), Maurice Garrel (Louis Jenssens), Valentin Lelong (Elias Cotterelle), Magalie Woch (Arielle, die „Chinesin“), Olivier Rabourdin (Jean-Jacques), Catherine Deneuve (Mme Vasset), Hippolyte Girardot (Maître Marc Mamanne), Nathalie Boutefeu (Chloé Jenssens), Jean-Paul Roussillon (Abel Vuillard), Elsa Woliaston (Dr. Devereux), Noémie Lvovsky (Elizabeth), Geoffrey Carey (Claude), 150 Min.

Léo en jouant dans 'La compagnie des hommes' (Arnaud Desplechin)

Int. Titel: Playing 'In the Company of Men', Frankreich 2003, Buch: Emmanuel Bourdieu, Lit. Vorlage: Edward Bond, Kamera: Stéphane Fontaine, Schnitt: Laurence Briaud, Musik: Krishna Levy, Paul Weller, Sami Bouajila (Léonard), Jean-Paul Roussillon (Henri Jurrieu), László Szabó (Claude Doniol), Bakary Sangaré (Jonas Servun), Wladimir Yordanoff (Hammer), Anna Mouglalis (Ophélie), Hippolyte Girardot (William De Lille), Anne Consigny (Therese Jurrieu), Xavier Beja (Laerte), 121 Min.

Esther Kahn (Arnaud Desplechin)

UK / Frankreich 2000, Buch: Emmanuel Bourdieu, Arnaud Desplechin, Kamera: Eric Gautier, Schnitt: Martine Giordano, Musik: Howard Shore, Production Design: Jon Henson, Kostüme: Nathalie Duerinckx, mit Summer Phoenix (Esther Kahn), Ian Holm (Nathan Quellen), Fabrice Desplechin (Philippe Haygard), Frances Barber (Rivka Kahn), László Szabó (Ytzhok Kahn), Philadelphia Deda (Esther als Kind), Hilary Sesta (Buba), Akbar Kurtha (Samuel Kahn), Claudia Solti (Mina Kahn), Berna Raif (Becky Kahn), Emmanuelle Devos (Sylvia, Italienerin), Samantha Lavelle (Christel), Ramin Gray (Erzähler), Leon Lissek (Theatre manager), Ian Bartholomew (Norton), Crispin Letts (Brian - 'Tesman' in Hedda Gabler), Anne Firbank (Sarah - 'Aunt Julia'), Deirdre Doone (Margaret - 'Berta'), Samantha Holland (Johanna - 'Mrs Elvsted'), Michael Müller (David - 'Løvborg'), 162 Min.

Der erste (von TV5 spendierte) Publikumspreis der französischen Filmwoche ging an Rois et Reine. Man könnte natürlich das Auszählverfahren in Frage stellen, bei dem ein Eröffnungsfilm, der noch dazu Catherine Deneuve zu seinen Darstellern zählt, einen nicht geringen Vorteil hat (Einzig Les sœurs fâchées mit Isabelle Huppert konnte die Kinos in ähnlicher Weise zum Bersten füllen, lief aber im Cinema Paris erst nach der Verleihung / Auszählung), doch mit Arnaud Desplechin, einem jungen, experimentierfreudigen und innovativen Regisseur, dessen Filme aus unerfindlichen Gründen noch keinen deutschen Verleih gefunden haben, und dem bei der Filmwoche eine kleine Retrospektive (vier Filme) gewidmet wurde, wurde tatsächlich ein Publikumliebling gekürt, eine Entdeckung, bei der es fast ein bißchen schade war, daß die älteren drei Filme auf den Bewertungsfragebogen gar nicht aufgeführt wurden - doch er hat ja über den (durchaus gelungenen) Umweg Rois et Reine Gerechtigkeit erfahren.
Die französische Filmwoche ist jedes Jahr wieder ein Ort der Entdeckungen, wo sich neben schwer zugänglichen (weil hierzulande nicht verliehenen) aktuellen Filmen von international bekannten Regiegrößen wie Olivier Assayas (Clean, Les destineés sentimentales), Michel Deville (Un fil à la patte) oder Claude Miller (La petite Lili), Altmeistern wie Philippe de Broca (Vipère au poing) oder Alain Resnais (Pas sur la bouche) auch immer wieder neue Talente ausmachen lassen.
Dazu gehört für mich in diesem Jahr klar Arnaud Desplechin, der zwar schon seit über zehn Jahren Spielfilme dreht, aber in Deutschland eben nicht die Bekanntheit eines x-beliebigen Regisseurs hat, der hierzulange ähnlich lang tätig ist - Und man bekommt mitunter den Eindruck, als seien die Franzosen da aufgeweckter. Dort muß man nicht mindestens ein Jahr auf den neuen Woody Allen oder Gus van Sant warten (wenn sie überhaupt anlaufen), und sprichwörtlich jedes Kind kennt Christian Petzold, Wolfgang Becker oder gar Christoph Hochhäusler, der dort sogar schneller einen Verleih findet als in seinem Heimatland.
Wenn man innerhalb einer Woche vier Filme eines Regisseurs gesehen hat, fällt es einem natürlich leichter, wiederkehrende Motive und Vorlieben zu finden - selbst wenn die Filme so unterschiedlich erscheinen wie bei Desplechin. Das beginnt schon bei den Vorspanntiteln, die Desplechin gerne über Gemälde legt, oder der bevorzugten Schreibweise (arnaud Desplechin) beim Nachspann. Eine ausgeprägte Anglophilie und insbesondere eine Vorliebe für Shakespeare lässt sich außer bei Comment je me suis disputé … (ma vie sexuelle), dem ältesten (und „französischsten“) der vier Filme der Retrospektive auch ohne Probleme erkennen. Und ein weiterer Vorteil der „konzentrierten“ Betrachtung seiner Filme ist das Wiedererkennen auch unbekannterer Darsteller. Während Emmanuelle Devos und Mathieu Amaric sich wie ein roter Faden durch das Werk des Regisseurs ziehen, fallen einem so auch Hippolyt Girardot (den ich zuletzt in den Achtzigern wahrnahm), Jeanne Balibar, Jean-Paul Roussillon, László Szabó oder Fabrice Desplechin auf, und auch die Namen bevorzugter Autoren, Cutter und des Kameramanns Eric Gautier brennen sich so ins Gedächtnis.
Der Höhepunkt der Anglophilie ist natürlich Esther Kahn, ein in London spielender und in England gedrehter Film, bei dem man mehr Yiddish als Französisch vernimmt, und in dem sogar Emmanuelle Devos statt einer Französin eine Italienerin spielt und man den typischen Akzent somit nur noch bei Fabrice Desplechin, dem Bruder des Regisseurs vernimmt.
In ihrer vielleicht größten Rolle als Esther brilliert die zurückhaltende Summer Phoenix, ein weiterer Sproß jener Hippiefamilie, die durch Namen wie River, Rain, Liberty oder Leaf (aka Joaquin) immer wieder leicht zu erkennen ist. In einem London irgendwo in der Nähe des fin de siècle (vom ersten Weltkrieg ist noch nichts zu spüren, Hedda Gabler erschien 1890) lebt Esther mit ihren Geschwistern und Eltern in ärmlichen Verhältnissen, umschlungen von einer jüdischen Subkultur, die ihr persönlich aber nichts bedeutet. Schon früh ergeht sich Desplechin in einer Aneinanderreihung filmischer Ideen, die ihresgleichen suchen. So etwa der auffällige Einsatz von Irisblenden oder eine Einstellung am Küchentisch, bei der durch das geisterhafte Vergehen der Personen aus Esthers Umfeld bereits früh klar wird, daß sie nicht davon ausgeht, daß ihre Familie in ihrer Zukunft eine große Rolle spielen wird. Allenfalls ahmt sie die Familienmitglieder mal insgeheim nach und verbirgt dabei ihre eigenen Emotionen (nicht immer mit Erfolg), doch größtenteils bewegt sie sich ohne viel Aufhebens lethargisch durch ihr Leben, wenn die anderen Kinder nachts die Wünsche an die Zukunft preisgeben (Schönheit, Intelligenz, Reichtum), hält sie sich ohne konkrete Vorstellungen zurück, flüstert höchstens ungehört in die Dunkelheit „I want to be avenged“.
Die ändert sich, als die Familie ein yiddisches Theaterstück besucht. Schon vor dem Theater drängelt sich Esther plötzlich durch die Menge, zeigt nie geahnte Initiative, und wenn sie nachher auf dem Balkon sitzt, ganz still, scheint es so, als wolle sie direkt in die Bühne hineinkriechen. Dabei interessiert sie auch die Qualität des Stücks oder der Darbietung nicht, statt zu kritisieren, will sie das Theater leben - und auch ihre ersten Exkursionen in die Sexualität scheinen direkt vom Theaterbesuch inspiriert zu sein.
Statt als Näherin oder Fabrikarbeiterin ihr Dasein zu fristen, schleicht sie sich ohne Wissen der Eltern zu einem Vorsprechen, wehrt sich gegen die Versuche des Theaterdirektors ihren „unattraktiven“ Namen etwas aufzupolieren und darf schon bald ihre ersten Sätze auf der Bühne vortragen. Momente, die adäquat magisch inszeniert werden - ein „große Welle des Triumphs“ durchdringt sie, sie spürt erstmals den „Atem des Lebens“.
Als Zweitbesetzung der Jessica in The Merchant of Venice trifft sie auf den betagten Darsteller Nathan (Ian Holm), der sich als Zweitbesetzung des Shylock ausgerechnet sagen lassen muss, er sehe nicht jüdisch genug aus. Aus Motiven, die zunächst suspekt erscheinen, gibt ihr Nathan Schauspielunterricht, lässt sie etwa einen Monolog vortragen, während er versucht, ihre Konzentration zu durchbrechen (unter anderem mit einem Kuss), doch letztendlich erkennt er, woran es Esther fehlt: „You want to be an actor and the worst thing you ever experienced was a cut finger. Get yourself a lover …“
Auch diese Lektion geht Esther gewissenhaft an und eruiert, welchen passablen jungen Mann aus ihrem Umfeld sie dazu heranziehen will. Und mithilfe des Theaterkritikers Philippe, der ihre Absichten schnell erkennt, erlebt sie ein Bilderbuch-courtship mit all den Freuden einer jungen Liebe. Doch Philippe gibt ihr noch mehr, indem er der doch eher ungebildeten Esther beispielsweise das Durchdringen und Verstehen eines literarischen Textes beibringt (eine wunderbare Allegorie, wie Esther und der Othello-Text in Bild und Ton miteinander verschmelzen). Schließlich schenkt Esther Philippe ein Buch, das beider Leben verändern wird: Ibsens Hedda Gabler, dummerweise zwar in der norwegischen Originalfassung, doch der nimmermüde Philippe lernt die Sprache, übersetzt das Stück und Esthers erster Auftritt in einer Hauptrolle steht bevor. Daß sie zu dieser Zeit allerdings auch die negative Seite der Liebe erfahren muss und Philippe mit einer italienischen Tänzerin erwischt, macht aus der letzten halben Stunde des Films eine tour-de-force: Wird Esther durch diese Erfahrung zu einer noch besseren Schauspielerin oder wird sie das Schicksal von Hedda Gabler teilen und ihrer Pein und dem Leben ein Ende setzen - womöglich auch noch außerhalb der Bühne?

Auch in Léo en jouant dans 'La compagnie des hommes' werden die „wahre“ Welt und die Welt des Theaters voneinander durchdrungen, doch auf ganz andere Art. Nach einem verwirrenden Intro, das wie bei Greenaway oder Godard diverse Bedeutungsebenen verschachtelt, mit Videobildern und Wackelkamera arbeitet, entwickelt sich der Film zu einer ganz textgetreuen Bearbeitung von Edward Bonds The Company of Men, bevor der Film dann von den Probeaufnahmen unterbrochen wird, die aber - wie sollte es anders sein - auf perfide Art auch wieder ganz fiktiv erscheinen. Die Stücke von Edward Bond (Lear) sind oft Nachbearbeitungen von Shakespeare, und in Léo en jouant fühlt man sich passagenweise wie in Almareydas Hamlet-Verfilmung mit Ethan Hawke. Wen mag es da verwundern, daß der Regisseur zwischendurch entscheidet, daß in Bonds Stück zuwenige Frauen vorkommen und er einfach eine neue Darstellerin einführt, die als Ophelia Shakespeare-Passagen vorträgt, in lockerer Weise mit der Bond-Handlung verknüpft. Dann gibt es auch noch eine (Romeo &) Julia-Stelle, jede Menge klug eingesetztes Blut und Elemente, die an Macbeth, King Lear, Bibelpassagen oder auch mal Miller’s Crossing erinnern, doch dem Film gelingt es (was sicher auch dem Text von Bond zu verdanken ist), trotz aller Artifizilität, trotz unzähliger Brechungen der Narration und der Realitätsebenen, bis zuletzt spannend zu bleiben.
Neben den herausragenden Darstellerleistungen von Hippolyte Girardot, László Szabó und Bakary Sangaré sollte unbedingt noch der größtenteils aus alten und neuen Paul Weller-Songs bestehende Soundtrack (eine weitere Bedeutungsebene) erwähnt werden, der von Desplechin mit einer bewundernswerten Kaltschnäuzigkeit auf eine Ebene mit Bond und Shakespeare gesetzt wird - und niemand käme während des Films auf die Idee, ihm zu widersprechen.

Desplechins neuester Film Rois et Reine (momentan soll er sich für sein nächstes Skript so zurückgezogen haben, daß er nicht einmal für die Eröffnung der Filmwoche zur Verfügung stand) erinnert natürlich auch wieder an Shakespearesche Königsdramen, an Blinde und Narren (und es gibt sogar einen Prospero und eine Arielle …), doch ein Vergleich mit dem etwa gleichzeitig entstandenen Melinda and Melinda von Woody Allen offenbart noch stärker die Stärken des Films. Auch hier werden zwei Geschichten nebeneinander erzählt, die eigentlich recht ähnlich sind (wenn auch nicht annähernd deckungsgleich wie bei Allen), aber einmal wie eine komische Farce und einmal wie ein tragisches Melodrama erzählt werden.
Nora (Emmanuelle Devos) besucht ihren sterbenskranken Vater, der sich bald nicht mehr um Noras zehnjährigen Sohn Elias kümmern können wird. In Träumen erscheint ihr Elias' Vater, der vor der Entbindung starb, nach und nach erfährt man immer mehr um die traumatischen Ereignisse, die dazu führten, daß Nora nach und nach jede potentielle Vaterfigur für Elias verloren hat.
Währenddessen wird Ismaël (Mathieu Amalric) von zwei Krankenpflegern zuhause aufgesucht, die aufgrund eines Stuhls, der unter einer von der Decke hängenden Galgenschlinge steht, sofort zu gewissen Vermutungen kommen, und ihn in eine Anstalt einweisen.
Wie bei Allen (oder Adieu, einem anderen bei der Filmwoche gezeigten Streifen) werden auch hier die Geschichten alternierend erzählt, und auch hier ist der leidende Mann komisch, während die leidende Frau tragisch ist. Das liegt hier aber auch an den unterschiedlichen Geschichten und an den Nebenfiguren aus der Geschichte um Ismaël, die allesamt dazu beitragen, dessen eigentlich viel schwerwiegendere Situation niemals wirklich ernstzunehmen. Figuren wie eine kettenrauchende Psychiaterin (Catherine Deneuve), eine suizidgefährdete Mitpatientin (Magali Woch) oder ein Anwalt (Hippolyte Girardot), der seine Klientenbesuche nutzt, um die Medikamentenvorräte der Klinik zur eigenen Bereicherung zu nutzen.
Und während Ismaëls Erlebnisse immer skurriler werden, durchlebt Nora eine tour-de-force, wie sie durchaus aus einem Ingmar Bergman-Film hätte stammen können, wobei es zu den Errungenschaften des Regisseurs und Co-Autors zählt, daß er immer noch einen draufsetzen kann und bis zuletzt mit Überraschungen (teilweise auch filmischen) aufwarten kann. Woody Allen hätte von diesem Film viel lernen können …

Clean (Olivier Assayas)

Kanada / Frankreich / UK 2004, Buch: Olivier Assayas, Malachy Martin
Kamera: Eric Gautier, Schnitt: Luc Barnier, Musik: Brian Eno, David Roback, Tricky, mit Maggie Cheung (Emily Wang), Nick Nolte (Albrecht Hauser), Béatrice Dalle (Elena), Jeanne Balibar (Irene Paolini), Laetitia Spigarelli (Sandrine), Don McKellar (Vernon), James Johnston (Lee Hauser), Martha Henry (Rosemary Hauser), James Dennis (Jay), Joana Preiss (Aline), Tricky (Himself), Jodi Crawford (Gloria), David Roback (Himself), Liz Densmore (Herself), Emily Haines (Herself), 110 Min.


Zusammen mit Irma Vep (1996) schließt Clean die Klammer um die private wie berufliche Beziehung zwischen Olivier Assayas und Maggie Cheung, die mittlerweile getrennte Wege gehen. War Clean, für den Cheung 2004 in Cannes die goldene Palme gewann, vielleicht so etwas wie ein Abschiedsgeschenk? Emily Wang (Cheung) ist die Lebensgefährtin des etwas abgehalfterten Rockmusikers „Lee Hauser“, die auf ihren Durchbruch als Sängerin wartet, an den aber außer ihr niemand glaubt (“they don’t give a shit at fucking Dreamworks“). Für die gesamte Musikbranche scheint festzustehen, daß Emily Lee auch durch den gemeinsamen Drogenkonsum nur herunterzieht, wahrscheinlich auch für dessen musikalischen Niedergang hauptverantwortlich sei, ähnlich wie seinerzeit Yoko Ono. Ein kanadischer Produzent (Don McKellar) gehört zu den wenigen, die ihr mal diese Meinung ins Gesicht sagt, doch dieses Streitgespräch überträgt sich allenfalls auf das Paar, Emily verbringt die Nacht im Drogenrausch in ihrem Auto, Lee stirbt im Hotelzimmer an einer Überdosis, wofür Emily, die den Stoff besorgt hatte, für ein halbes Jahr in Haft geht. Für das relativ aussichtslose Bestreben, das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn Jay zu bekommen (der bei den Schwiegereltern Hauser wohnt), muß Emily nun einen Job bekommen und „clean“ werden, was aber durch alte Kontakte in London und Paris (u. a. Jeanne Balibar) nicht unbedingt erleichtert wird, Lee bleibt nicht der einzige Drogentote des Films. Und die Knastbekanntschaft Gloria, mit der Emily in Kanada Probeaufnahmen machte, meldet sich ausgerechnet zurück, als ihr Großvater Hauser (Nick Nolte) gegen den Wunsch seiner todkranken Frau für ein Wochenende den Sohn überlässt, der aber von seiner Mutter auch fast nur weiß, daß sie den Vater auf dem Gewissen hat …
Neben der Yoko Ono-Parallele, die sich vielleicht auch durch die asiatische Herkunft Cheungs anbietet, fühlt man sich natürlich auch an die aktuelleren Querelen um Courtney Love und Kurt Cobain erinnert, die Mitschuld am Tode Lennons kann man Yoko Ono sicher schwieriger anlasten als Courtney Love, der der Hass der gesamten Branche wohl noch intensiver entgegenschlug als seinerzeit Ono, die immerhin meist die Unterstützung ihres Gatten hatte.
Doch Clean dreht sich trotz der Gastauftritte von Tricky und David Roback, trotz der zwei Songs, die Maggie Cheung tatsächlich singt (wobei sie stark an Nico erinnert und die Musik wenig überraschend irgendwo zwischen Mazzy Star und Velvet Underground anzusiedeln ist), nur am Rande um die Musikbranche, die hier einen überzeugenden Background bildet, sondern um das Schicksal von Emily, die trotz diverser Vergehen und halbgarer Schnapsideen durchweg zur Identifikation einlädt. Gerade im letzten Drittel des Films geht es doch klar stärker um das schwierige Verhältnis zwischen Mutter und Sohn und der bis dahin nur selten auftauchende Nick Nolte als zukünftig alleinstehender Großvater Albrecht, dem es nach mehreren Notlügen und falschen Versprechungen immer schwerer fällt, Vertrauen zu seiner Schwiegertochter aufzubauen, steht vor ebenso schweren Entscheidungen wie Emily.
Ebenfalls in Cannes ausgezeichnet wurde Kameramann Eric Gautier (der im selben Wettbewerb auch Diarios de motocicleta einbrachte), dessen Bilder die jeweilige Atmosphäre des Nachtlebens europäischer Metropolen und des kalten kanadischen Tages zu einer angenehmen Augenweide machen, ohne dabei vor Ästhetik zu triefen. Gautier gelingt es auch, durch seine Kameraarbeit bestimmte emotionale Vorgänge zu verstärken, ohne dabei auf sich aufmerksam zu machen, beispielsweise bei Rockkonzerten oder einem Treffen von Emily und Albrecht am Bahnhof. Sehr schön auch die Auflösung der unvermeidlichen Spritze, man sieht nur, wie Emily das Gummiband zum Abbinden zwischen den Zähnen hält, bevor sie es dann loslässt, und das Bild vor dem Schnitt fast unmerklich auch etwas abdriftet.
Irgendwann während des Films ist mir mal eine Einstellung eingefallen, deren (fehlende?) Bedeutung mich zunächst stutzen ließ. Emily erwischt in London auf den letzten Drücker noch einen Bus, dann folgt eine Detailaufnahme, wie sie ihr Ticket entwertet, und damit ist die Szene beendet, der Bus oder die Fahrt darin spielen für den Film nicht die geringste Rolle. Wozu also die Großaufnahme vom entwerteten Ticket? Doch im weiteren Verlauf des Filmes (auch in Szenen davor) werden Geldübergaben, Rechnungen etc. immer wieder in den Vordergrund gerückt, und es bedarf schließlich nicht einmal mehr des Satzes von Emily, um die Bedeutung dieser Einstellungen zu erkennen. „Afterwards you always have to pay the prize. I’m still paying …“

Le Silence (Orso Miret)

Frankreich 2004, Buch: Roger Bohbot, Orso Miret, Agnès de Sacy, Kamera: Olivier Chambon, Schnitt: Agnès Bruckert, Bénédicte Brunet, Musik: Reno Isaac, mit Mathieu Demy (Olivier), Natacha Régnier (Marianne), Thierry de Peretti (Vincent), Muriel Solvay (Kassiererin), Angèle Massei (Maddale), Pierre-Marie Mosconi (Doumé), Didier Ferrari (Pierrot), Laurent Barbolosi (Pierre-Marie), Olivier Guglielmi (Jeannot), Thomas Bronzini de Caraffa (François), Pido (Jean-Pierre), Léandre Torres (Jojo), Carole Bernardi (Vanina), Jean-Emmanuel Pagni (Paul-André), Roselyne Filippini (Matea), 104 Min.

Für einen sommerlichen Jagdurlaub fährt der aus Korsika stammende Olivier (Mathieu Demy, während der französischen Filmwoche auch noch in Michel Devilles Un fil à la patte zu sehen) mit seiner seit kurzem schwangeren Freundin Marianne in das Dorf, in dem noch seine Mutter wohnt. Der Film wirft einen mitten ins (erst mal zu dechiffrierende) Jagdgeschehen, wackelige Bilder offenbaren eine Berglandschaft, bewaffnete Männer in Tarnkleidung beobachten sich schwer atmend gegenseitig durch Ferngläser etc.
Die Atmosphäre von Le Silence ist ähnlich bedrückend wie in Deliverance oder dem Prolog von The Deer Hunter, man ist sich schon früh sicher, dass hier etwas schiefgehen wird, doch als Olivier am zweiten Tag der Jagd mal eines der Wildschweine vor die Kimme bekommt, aber zu lange mit dem Abdrücken zögert, ergibt sich daraus nicht das Problem, das er erwartet, und wegen dem er seinen Jagdkumpan bittet, Vincent, dem Anführer der kleinen Gruppe, nichts davon zu erzählen.
Aufgrund des Titels des Film rätselt man hier bereits, wann das Schweigen einsetzen wird, oder ob Olivier bereits in seiner Vergangenheit etwas erlebte, von dem niemand erfahren soll. Es gibt da ja die alte Geschichte, daß sich in den Bergen zwei Männer gegenseitig töteten - angeblich soll dies wieder bevorstehen …
Und Le Silence betont eindeutig solche mythisch-unheimlichen Aspekte. Da gibt es schwarzweiße Traumsequenzen, die den Film immer wieder durchziehen, bald die Identität des Träumers verheimlichen, schließlich sogar wie Gedankensplitter in die Handlung integriert werden. Und eine Tonspur, die es sich zum Ziel gesetzt haben scheint, durch fast unmerkliche subliminale Geräusche bevorstehende Tragödien zu prophezeien. Wenn Olivier in seiner "Ferienwohnung" ankommt und seine Freundin sucht, hört man in dem Moment, wo er ihr Top vom Boden aufklaubt, einen Frauenschrei, später wird auch das ungeborene Kind durch Babygeschrei mit Gefahr in Verbindung gebracht. Das Gegrunze von Wildschweinen, kläffende und hechelnde Hunde und ihre für die Jagd notwendigen Glocken tauchen immer wieder auf der Tonspur auf, unterwandern sogar die Träume und lassen sich nicht ohne weiteres als ins Unterbewusstsein übernommene Alltagsgeräusche enträtseln.
Schließlich trifft Olivier auf eine andere Frau, und nachdem der Film angedeutet hat, hier könne sich eine kleine Affäre entwickeln, taucht plötzlich einer von Oliviers Jagdfreunden auf und erschießt diese Kassiererin einer Tankstelle, freilich ohne zu wissen, daß Olivier als Zeuge im Hinterzimmer lauert. Somit erklärt sich auch, was hier verschwiegen wird, und die bereits angeknackste Beziehung zu Marianne scheint durch Oliviers psychische Anspannung auch noch vor die Hunde zu gehen.
Ganz so schlimm kommt es dann doch alles nicht, immerhin scheint der wichtigste Grund, warum Natacha Régnier (in Deutschland trotz Tout va bien, on s'en va / Alles bestens (wir verschwinden) noch eher unbekannt) als Marianne überhaupt im Film ist, die dräuende Atmosphäre, die irgendwo zwischen Claude Chabrol und David Lynch wabert, etwas aufzulockern - einer so sympathischen, dazu noch schwangeren jungen Frau wird doch wohl nichts passieren, oder?
Wie es dem Film (und Olivier) schließlich gelingt, über sich hinauszuwachsen, ist eine etwas klischeehafte, aber dennoch gelungene Idee, und nachdem Le Silence lange Zeit nur von der Atmosphäre lebt, gibt es am Schluß doch so etwas wie closure.
Ob man es zu den Stärken oder Schwächen des Films zählt, daß die subliminalen Untertöne eigentlich nur dafür da sind, die Anspannung des Zuschauers aufrecht zu erhalten, entscheidet letztendlich über Gefallen oder Nichtgefallen, ich gehöre zu den Leuten, die den plot des Films auch im Nachhinein noch für gut genug erachteten, um solche interessanten Manierismen zu verzeihen oder sogar zu verehren.

Maarek hob (Danielle Arbid)

Frz. Titel: Dans les champs de bataille, Int. Titel: In the Battlefields, Belgien / Frankreich / Deutschland / Libanon 2004, Buch: Danielle Arbid, Kamera: Hélène Louvart, Schnitt: Nelly Quettier, mit Marianne Feghali (Lina), Rawia Elchab (Sihab), Laudi Arbid (Yvonne), Aouni Kawas (Fouad, Linas Vater), Carmen Lebbos (Thérèse, Linas Mutter), Takla Chamoun (Marwa), Roland Tomb (Simon), Roger Assaf (Onkel Wadih), Danielle Arbid (Freundin des Nachbarn), 90 Min.

Beirut, 1983, während des Bürgerkriegs. Die zwölfjährige Lina (Marianne Feghali) unterhält eine innige Mädchenfreundschaft mit Sihab (Rawia Elchab), der knapp volljährigen Bediensteten ihrer Tante. Als Zuschauer fragt man sich natürlich nach dem Hintergrund dieser etwas unwahrscheinlichen Freundschaft, doch in Zeiten von Ausgangssperren und in Luftschutzbunkern verbrachten Nächten gehört wahrscheinlich nicht viel dazu, sich mit der einzig auch nur annähernd gleichaltrigen Geschlechtsgenossin besonders verbunden zu fühlen.
Eine Entfremdung der beiden Mädchen liegt weniger am Klassenunterschied, Lina steht ihrer Freundin sogar bei, wenn diese wieder von der etwas bösartigen Tante getriezt wird, sondern an Sihabs Interesse für das andere Geschlecht, daß Lina verständlicherweise mit zwölf noch nicht ganz so ausgeprägt teilt. Sie lachen zwar gemeinsam über den gutgebauten Kerl, der sie von einem Balkon auf der anderen Strassenseite aus - nur in einer Unterhose gewandet - anmacht, doch bei einem Double Date schauen sich Lina und ein Freund des gerade mit Sihab im Auto "beschäftigten" jungen Mannes allenfalls betreten an, die unangemessenen Annäherungsversuche des notgeilen Kerls werden brüsk abgewiesen.
Und als wären ein Bürgerkrieg und die Pubertät nicht schon genug, um ein junges Mädchen durcheinander zu bringen, findet sich Lina auch noch zwischen ihren zerstrittenen Eltern auf einem weiteren psychischen Schlachtfeld, ganz ähnlich wie im Kurzfilm No Man's Land (Cinemania 3), einem der besten Berlinale-Beiträge dieses Jahres.
In ihrem Debütfilm Maarek hob (auf fränzösisch Dans les champs de bataille) erzählt die junge Regisseurin Danielle Arbid auch ihre eigene Geschichte, was vielleicht auch erklärt, warum die nostalgische Erinnerung an Songs der Achtziger den Film sich hier ebenso findet wie teilweise schockierende, nicht immer in kausalem Zusammenhang stehende Episoden, die den Film sperrig erscheinen lassen, die closure, die No Man's Land auszeichnete, vermisst man hier. Fragen nach den Motivationen der Figuren bleiben offen, wie man es im Film nicht gewohnt ist, es aber im realen Schlachtfeld des Lebens die Regel und nicht die Ausnahme ist. Ob man den Film deshalb wie einen ungeschliffenen Diamanten betrachtet oder wie ein Beispiel für die dramaturgischen Schwächen von Debütfilmern, bleibt jedem Betrachter selbst überlassen. Beim Filmfestival in Mailand wurde Maarek hob immerhin als bester Film ausgezeichnet.

Cause toujours! (Jeanne Labrune)

Frankreich 2004, Int. Titel: Of Mites and Mutes, Buch: Richard Debuisne, Jeanne Labrune, Kamera: Christophe Pollock, Schnitt: Anja Lüdke, Musik: Bruno Fontaine, mit Victoria Abril (Jacinthe), Jean-Pierre Darroussin (Bruno), Sylvie Testud (Léa), Didier Bezace (Laurent), Claude Perron (Judith), Richard Debuisne (Emmanuel Blasquez), Jean-Claude Frissung (Taxifahrer), Bruno Fontaine (Orchesterchef), Eriq Ebouaney (Kammerjäger), 87 Min.

Seit gut zwanzig Jahren ist Jeanne Labrune als Autorin und Regisseurin in Frankreich tätig, zunächst größtenteils fürs Fernsehen (u. a. ein Remake von Jules et Jim), aber inzwischen auch fürs Kino. Ihre Besetzung für die Komödie Cause toujours! ist vielversprechend: Victoria Abril, die man aus Almodóvar-Filmen wie ¡tame! und Kika kennt, Jean-Pierre Darroussin, der zuletzt in Jean-Pierre Jeunets Un long dimanche de fiançailles und Cedric Kahns Feux Rouges positiv auffiel, außerdem Sylvie Testud (Jenseits der Stille, Les mots bleus) und Didier Bezace (L.627, La petite voleuse). Diese vier Hauptfiguren kämpfen zunächst in der Stadt vor allem miteinander, müssen sich aber auch mit Motten, die die Küche von Jacinthe (Abril) für sich beeinspruchen, auseinandersetzen, ohne dabei ökologisch unkorrekt aufzufallen. Trotz vieler netter Bonmots will die Geschichte nicht so recht in Schwung kommen, und Léas (Testud) Faszination für den stummen Emmanuel (Drehbuchautor Richard Debuisne) will sich auch nicht recht auf den Zuschauer übertragen. Nachdem man dann aber Laurant (Bezace) beim Schauen eines trashigen Slasher-Films sah und Léa nach einer Erkundung des geheimnisvollen Stummen nicht mehr wiederkehrt und sich ihre Spur in einem Waldstück verliert, will einem der Film weismachen, daß nun das Genre gewechselt wurde. Plötzlich jaulen Kettensägen auf und mysteriöse schwarze Säcke werden von grobschlächtigen Männern mit Handschuhen verladen.
Ein wichtiges Thema des Films sind Vorurteile, doch dem Zuschauer wird schon eine gehörige Engstirnigkeit unterstellt, wenn er allen Ernstes glauben soll, daß das Leben von Léa nun ernsthaft in Gefahr schwebt. Und dadurch bleibt der Film ein wenig harmlos und belanglos, denn in ein ganz passables Komödiendrehbuch werden so Thriller-Elemente eingebaut, die geräuschlos verpuffen, und man fragt sich, wozu überhaupt?


Coming soon in Cinemania 19 (Kinostart Juli 2005):
Aktuelle Rezensionen: Antares, Boudu, Die Eisprinzessin, Fantastic Four, Die Hochzeits-Crasher, Mr. & Mrs. Smith, Nicotina, Verflucht, Die Vogelpredigt