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Oktober 2004
Thomas Vorwerk
für satt.org

Agnes und seine Brüder
D 2004

Filmplakat

Buch
und Regie:
Oskar Roehler

Kamera:
Carl F. Koschnick

Schnitt:
Juliane Lorenz, Simone Hofmann

Musik:
Martin Todsharow

Darsteller:
Moritz Bleibtreu (Hans-Jörg), Herbert Knaup (Werner), Martin Weiß (Agnes), Tom Schilling (Ralf), Katja Riemann (Signe), Vadim Glowna (Günther), Susan Anbeh (Desiree), Marie Zielcke (Nadine), Lee Daniels (Henry), Oliver Korittke (Rudi), Margit Carstensen (Roxy), Martin Semmelrogge (Manni Moneto), Martin Feifel (Hannes), Sven Martinek (Jürgen), Til Schweiger

115 Min.

Kinostart:
14. Oktober 2004

Agnes und seine Brüder


Ich bin nicht unbedingt ein Fan von Oskar Roehler. Die Unberührbare fand ich vor allem wegen der Schwarzweiß-Photographie bemerkenswert, Der alte Affe Angst hat mir damals eigentlich nur den Tag verdorben. Umso bedeutsamer, daß schon der Trailer von Agnes und seine Brüder mir irgendwie Lust darauf machte, diesen Film zusehen - und es handelt sich dabei tatsächlich um einen der unterhaltsamsten deutschen Filme der letzten Zeit.

Agnes und seine Brüder ist ein Familienfilm und erzählt vor allem drei sehr unterschiedliche Liebesgeschichten um drei sehr unterschiedliche Brüder.

Filmszene
Filmszene
Filmszene

Hans-Jörg (Moritz Bleibtreu) ist sexsüchtig, hat aber kein Glück mit Frauen. Als Archivar in einer großen Bibliothek wird er mit Hundertschaften gutaussehender junger Frauen in knapp geschnittenen Miniröcken konfrontiert, kommt aber zumeist über die erste Kontaktaufnahme nicht hinaus, und betätigt sich schließlich vor allem als Voyeur der auf der Wendeltreppe unter die Röcke schaut oder sich in die Damentoilette schleicht und aus der Nachbarkabine durch ein Gucklock starrt, während er sich einen runterholt. Als sich schließlich Nadine (Marie Zielcke, jüngst in Süperseks) mal bei ihm zurückmeldet, ist er begeistert, lässt sich dazu manipulieren, ihr beim Renovieren zu helfen (während sie stundenlang telefoniert), und bekommt schließlich sogar das Angebot, bei ihr zu übernachten - im Nebenzimmer.

Werner (Herbert Knaup) ist ein grüner Karrierepolitiker, der sich für das europäische Dosenpfand einsetzt. Doch sein Familienleben entspricht so gar nicht dem Idealbild, das er für die Medien präsentieren möchte. Seine Frau (Katja Riemann in ihrer vielleicht besten Rolle) hat ihn schon lang aus dem Ehebett verbannt, sein rebellischer Sohn (Tom Schilling) filmt ihn in peinlichen Situationen und der kleinere Sohn steht zwar noch zum Papa, entfremdet sich aber auch langsam, weil dieser mehr Zeit für seinen Husky "Joschka" hat als für die Familie.

Agnes schließlich (Martin Weiß) war früher mal "Martin", hat aber in New York eine Geschlechtsumwandlung vornehmen lassen. Der Traummann Henry hingegen hat nicht wieder von sich hören lassen und ist nun eine international bekannte Modegröße, während Agnes mit Rudi (Oliver Korittke) eine hochexplosive Beziehung führt, denn Rudi will eine ganz normale Frau, die abends zuhause ist und was kocht, während Agnes lieber tanzen geht, was wieder Rudis Eifersucht anstachelt.

Bei Besuchen der drei Brüder beim Vater Günther (Vadim Glowna unerwartet zurückhaltend) erfährt der Zuschauer schließlich, daß Hans-Jörg vermutet, der Vater habe Martin früher missbraucht, wodurch sich auch die sexuelle Orientierung "erklären" ließe. Ungeachtet dessen, daß Hans-Jörg sich lieber um seine eigenen sexuellen Probleme kümmern sollte, und Agnes selbst an dieser "Erklärung" wenig Interesse zeigt (Sie ist mehr an ihrer Mutter interessiert, über die der Vater im Rausch seltsame Dinge erzählt) wird Hans-Jörg später weitere Beweise für seine Theorie finden …

In den drei schwach miteinander verwobenen Handlungssträngen kann sich Roehler sowohl als Autor als auch als Regisseur austoben. Besonders interessant ist natürlich das Melodram um Titelheld Agnes, aber auch die politisch-gesellschaftliche Satire um Werner und die fast märchenhafte Romanze mit dem ungewöhnlichen Helden Hans-Jörg zeichnen sich durch eine für Roehler unerwartete Klarheit der Inszenierung und einige hervorragende Dialoge aus. Wer sich noch an das "Happy End" von Der alte Affe Angst erinnert, ahnt Böses, doch selbst wenn Kettensägen und Schußwaffen ins Spiel kommen, bewahrt sich der Film eine spielerische Leichte, die dem Thema dennoch angemessen scheint. Insbesondere auch der Soundtrack ist bemerkenswert mainstreamtauglich, aber dennoch jederzeit voll überzeugend.

Neben den hervorragenden Leistungen von Bleibtreu, Knaup und Newcomer Martin Weiß sind es gerade die kleinen Nebenrollen - prominent und erstklassig besetzt -, die dem Film zu einer Dichte verhelfen, die im deutschen Kino selten ist. Wenn Martin Semmelrogge es "voll korrekt" findet, wenn einer aus der Therapiegruppe der Sexsüchtigen ein Verhältnis zu seinem Hund hat, oder Til Schweiger nachfragt, was der Bibliothekskasper mit seiner Freundin vorhat, werden selbst Witzfiguren der deutschen Kinoszene zu Handlungsträgern (siehe auch Riemann / Glowna). Allein dafür muss man Roehler schon hochleben lassen, doch wie er es schafft, mit einer fast ganz normalen Familie an Filmgrößen wie Fassbinder oder Almodóvar anzuknüpfen - das soll ihm erstmal einer nachmachen!

Zu den humoristischen, aber auch irgendwie zu Herzen gehenden Höhepunkten des Films gehören folgende Szenen:

  • Am Telefon erfährt jemand vom Tod eines Familienangehörigen und sagt "Danke. Ich rufe sie zurück …"
  • Eine der Dialogzeilen eines Films im Film, der irgendwo zwischen See you next Wednesday und Ein Chef zum Verlieben einzuordnen ist, lautet: "Zeig mir mal deine prachtvollen Möpse!"
  • Und schließlich Katja Riemanns bester Satz im Film: "In welchem kausalen Zusammenhang steht denn jetzt dein Verdienst mit deinem Toilettenverhalten?"