Im pessimistischen Strang der Coming of Age-Erzählungen ist Glück ein Versprechen, das sich erst weit hinter den Grenzen der Vorstädte einlösen lässt. Die mentale Stagnation, die die Einwohner Suburbias in ihren aufgeräumten Häusern zum stillen Leiden verdonnert, korrespondiert meist umso beharrlicher mit gewaltigen Fluchtplänen: in die Großstadt, wo möglicherweise doch noch brauchbarere Lebensmodelle pulsieren. In der Regel ist jedoch allein diese Sehnsucht bereits die größte Bewegung, zu der die Figuren imstande sind.
Auch dem namenlosen jugendlichen Pärchen, das sich im formidablen Comicdebüt »Vakuum« des Hamburger Zeichners und Illustrations-Absolventen der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Lukas Jüliger in einem namenlosen amerikanischen Städtchen gegenseitig findet, bleibt nicht viel mehr als die Illusion, an diesen Ort nur noch für kurze Zeit gefesselt zu sein. Die haben sie auch bitter nötig: Innerhalb der erzählten Spätsommerwoche entfesselt Jüliger ein ganzes Arsenal devianter Erscheinungsformen, die sich zweifellos als Abbild der passiven Aggression der Erwachsenen artikulieren. Wo einerseits ein Familienfreund beim Spieleabend lüstern und unter verschämter Duldung aller anderen der Tochter des Gastgebers hinterherglotzt, da vergewaltigt andererseits ein introvertierter Junge während des privaten Nachhilfeunterrichts die Schulschönheit, bevor er sich mit einer Tablettenüberdosis umbringt. »Weil er lieber noch etwas Schönes erleben und allein sterben wollte, anstatt auf die Apokalypse zu warten«, wird später die kryptische Erklärung seines Bruders lauten.
Die Apokalypse ist längst eingetreten, nur hat sie hier niemand bemerkt. Die Schüler verabreden sich nachts, um heimlich Bilder von der Leiche des Selbstmörders in der Kühlzelle zu machen. Es geht weder um Abschied noch Nervenkitzel, eher um die Bestätigung, dass selbst der Tod dem Leben keine sensationellen Aspekte hinzuzufügen weiß. Am traurigsten ist die stoische Teilnahmslosigkeit, mit der alle das Geschehen hinnehmen. »Vakuum« ist eine Sammlung ausdrucksloser Mienen, die von langen schmalen Körpern mit nadeldünnen Armen und Beinen durch eine von allen Primärfarben bereinigten, ausgewaschenen Welt navigiert werden und weil keine Speedlines und Geschwindigkeit suggerierende Schnitttechniken die Figuren stützen, wirkt auch jedwede Bewegung eigentümlich eingefroren.
Das junge Paar (von den beiden nimmt er als gleichzeitiger Ich-Erzähler eine prononciertere Rolle ein) bewegt sich auf die alterstypischen biografischen Bruchstellen zu und weil sie wissen, dass das nichts Gutes verheißt, verwässern sie die Gewissheit mit Alkohol und Drogen. Zu ihnen gehört auch irgendwie Sho, einst der einzige Freund des Jungen, den allerdings ein gemeinsames Drogenexperiment der beiden in ein bizarres Phlegma geführt hat. Seither radiert Sho mithilfe grotesker Rituale erst all seinen materiellen Besitz, schließlich seine ganze Identität aus. Und erneut ist es nicht diese maschinelle Beharrlichkeit, sämtliche Spuren eines entgleisten Lebens durch vollkommene Selbstaufgabe zu verwischen, die irritiert, sondern die regungslose Akzeptanz, mit der die zwei Verliebten Shos Verfall begleiten – und sich auch trotz der fatalen Folgen unbeirrt ihrer Romantik sicher sein können. Dass man nur in der Jugend – für den Arbeitszwang weitgehend zu jung, für die Lügen der Lehrer und Eltern zu alt – die Zeit besitzt, an den Widersprüchen des Lebens geduldet zu verzweifeln, ruft diese Perle unter den hiesigen Comicproduktionen ziemlich radikal ins Gedächtnis zurück.