»Ridin’ with the king«
Der Rolling Stone Weekender
(12./13. November 2010)
Es gießt in Kübeln, mehr und mehr türmen sich graue Wolken über der Ostsee. Doch die Gäste im Ferienpark Weißenhäuser Strand stört das an diesem Wochenende wenig. Sie sind beim Rolling Stone Weekender, einem Indoor-Festival, bei dem ihnen die später vom Get Well Soon-Mastermind Konstantin Gropper als »Camping-Hölle« bezeichnete festival-typische Unterbringung erspart bleibt. Man wohnt hier komfortabel im Hotel oder in der Ferienwohnung und das zu fairen Preisen. Das Festival-line-up kann sich zudem sehen lassen, siebenundzwanzig Bands und Künstler spielen an zwei Tagen auf drei Bühnen jeweils komplette Sets. Es stellt sich also eher das Problem, welche Band schaue ich mir denn an? Kurze Wege zwischen den Venues ermöglichen aber auch ein »Konzerthopping«. Drumherum gibt’s noch Lesungen, Plattenstände oder auch Wellness-Programme für die daran Interessierten. Einzig den Fußballfans fällt es am Samstagnachmittag schwer, sich zu verorten.
Erstes Highlight am Freitagabend auf der Zeltbühne sind Teenage Fanclub. Nach anfänglichen Soundproblemen geht aber alsbald die Sonne auf im Zelt. Gesanglich voll auf der Höhe »jingle-janglen« sich die drei Fannies plus Schlagzeug und Keyboard durch ihr Hitrepertoire. Und die Hitdichte der Schotten ist nicht gerade klein – ein Einstieg nach Maß.
Fliegender Wechsel in den mit Teppich bestückten Baltic-Saal, wo Howie Gelb mit Giant Sand spielt. Zwischen genialen Momenten und eher launischen, lustlosen Darbietungen kann sich das Spektrum eines Giant Sand-Konzertes bewegen. Heute erleben wir eine herausragende Vorstellung. Nach wenigen Stücken wechselt der Schlagzeuger an die Gitarre und seinen Platz nimmt Steve Shelley von Sonic Youth ein. Ab da wird der Drummer per Blickkontakt instruiert und das Konzert geht eher in Richtung einer Jam-Session. Die Lieder sind noch grob zu erkennen und werden in entfesselten Versionen mit einem Howie Gelb an der Gitarre in Bestform zelebriert. Auch die anderen Musiker lassen sich von den Blicken und Gesten des Bandleaders leiten und passen sich perfekt in das Gesamtbild ein. Nach neunzig Minuten ist leider Schluss, das hätte gut und gerne noch weiter gehen können – jetzt heißt es erstmal durchatmen.
Auf der großen Bühne spielen derweil The National auch ein – wie man später hört – gelungenes Konzert. Nach dem Parforce-Ritt der Improvisation mit Howie Gelb ist mir das heute eine Spur zu perfekt, zu groß und zu pathetisch, dann lieber weiter im Baltic-Saal mit Katzenjammer. Hier handelt es sich um vier junge Damen aus Norwegen, denen der Ruf einer wilden Live-Band voraus eilt. Es gibt schon einmal einen klaren Sympathie-Bonus für die nett rüber kommenden Musikerinnen. Die Bangles spielen The Pouges in B-52’s-Versionen. So oder so ähnlich kann man die Katzenjammer-Show charakterisieren. Akkordeon und osteuropäisch anmutende Saiteninstrumente werden im fliegenden Wechsel von den Musikerinnen traktiert. »All you can hear is the voice of the wind« wird gemeinsam im Baltic-Saal gesungen - Partystimmung auf der Bühne und im Auditorium.
Einen Gang runter schalten zum Ende des ersten Tages kann da nicht schaden. Die Meister der entspannten, entschleunigten Musik, Element of crime, sind der Headliner zum Abschluss auf der großen Bühne. Perfekt und routiniert spielt sich die Band durch ihr Repertoire, mit Schwerpunkt auf dem letzten Album. Zwar mit wenig Überraschungsmomenten versehen, sieht man vielleicht von den drei englischsprachigen Liedern ab, ist Element of crime auch in mittlerweile großen Hallen immer wieder ein sehens- und hörenswertes Konzerterlebnis.
Wer danach noch einmal ein Aufputschmittel braucht, kann noch bei Michael Rother plays Neu! vorbei schauen. Auch hier sitzt Steve Shelley an den Drums und prügelt die Rother’schen Synthie-Beats und -melodien vor sich her.
Der Samstag startet auf der Zeltbühne mit The Black Keys. Wilder, hektischer, sehr virtuos dargebotener Elekro-Blues mit Schlagzeug und Gitarre, zeitweise noch verstärkt durch Bass und Schlagzeug. Ich finde es für ein neunzig Minuten Programm etwas eintönig und irgendetwas fehlt mir. Zwei Stunden später bei John Hiatt and the Combo wird dann klar was gefehlt hat, die Seele in der Musik.
Doch zunächst spielen Get well soon im Teppichsaal. In einer 5er-Besetzung, zeitweise mit Trompete, Posaune oder Geige spielend, gelingt es, die komplexen Arrangements der Platten sehr überzeugend live umzusetzen. Schöne Musik machen Get well soon allenthalben. Konstantin Groppner erweist sich auch nicht als verschrobener Tüftler, sondern als unterhaltsam plaudernder Entertainer. So berichtet er vom Arschbomben-Contest mit den Tindersticks im örtlichen Badeparadies. Ich stelle mir den Tindersticks-Sänger Stuart Staples, wahrscheinlich in einem Ganzkörper-Badeanzug gewandet, dabei vor. Köstlich!
Leider muss ich Get well soon nach gut 50 Minuten verlassen, da im Zelt parallel John Hiatt and the Combo spielt. Der wahrscheinlich älteste Musiker des Festivals ist für mich die größte positive Überraschung. Hier kann man hören, was es heißt: »He’s got the blues«. Ich fühle mich dreißig Jahre zurückversetzt, in die Zeiten der Rockpalastnächte in der Essener Grugahalle mit Mitch Ryder, Johnny Winter oder Mink de Ville. Hiatt spielt absolut zeitlose, abgehangene Musik voller Seele und Leidenschaft. An seiner Seite ein Sologitarrist, der die große Kunst des Nicht-Spielens von Tönen beherrscht. Keine Griffbrettakrobatik sondern punktgenau gesetzte Licks im Zusammenspiel mit einer uhrwerkartigen Rhythmussektion. Darüber Hiatts vom Rock’n’Roll gezeichnete Stimme in Liedern, die auch kompositorisch viel Substanz haben. »Ridin’ with the king« heißt der fulminante letzte Song und der passt auch als Überschrift zu dem gesamten Set.
Während danach auf der Zeltbühne Biffy Clyro einige Besucher doch etwas überfordert und verschreckt, wird im Baltic-Saal der Geschwindigkeitsregeler weiter nach unten, der Coolness-Regler aber ganz nach oben bewegt: Die Tindersticks stehen auf der Bühne. Bei den von der einzigartigen Stimme Stuart Staples getragenen, zeitlupenartigen, todtraurigen Balladen kann man auch im überfüllten Baltic-Saal eine Stecknadel fallen hören. Neben solchen grandiosen älteren Stücken wie »A night in« spielen die Tindersticks auch neueres Material, vorwiegend von der letzen Platte »Falling down a mountain«, das richtig poppig und fast tanzbar daherkommt. Ich meine sogar zum Ende des Konzertes ein ganz kurzes Grinsen in der Mine Stuart Staples gesehen zu haben. Auch nach diesem Gig findet sich ein restlos zufriedenes Publikum, zu dem auch der Rezensent gehört.
Headliner auf der Hauptbühne sind dann The Gaslight Anthem, ich präferiere aber Schlangestehen in der windigen Ostsee-Nacht vor der kleinsten Festival-Lokation, dem Rondell. Hier beginnen kurz vor 1 Uhr im hoffnungslos überfüllten Raum die Cowboy Junkies das letzte Set des Festivals. Und das hohe Niveau wird auch hier gehalten. Die mit der charismatischen, durch ihre Gesten an Janis Joplin erinnernde Sängerin Margo Timmins mit ihren Brüdern Michael und Peter sowie zwei weiteren Musikern besetzte Band aus Kanada ist ein äußerst würdiger Festivalabschluss. Die Cowboy Junkies spielen traurige Oden an die Nacht, ein Vic Chessnut-Cover und ganz zum Ende »Don’t let me bring you down« und »Powderfinger« von Neil Young in zarten, zerbrechlichen, inbrünstigen Versionen. Danach geht nichts mehr. Mit verklärtem Blick schleichen die Besucher dieses Konzerts in ihr Hotel oder ihre Ferienwohnung. Wieder einigermaßen gesammelt kann noch ein »Gute-Nacht-Bier« getrunken und über ein großartiges Festival gefachsimpelt werden.