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1. November 2010
Christina Mohr
für satt.org

 
The
Jazz Passengers:
Reunited

(enja)


»Blöde Witze und ernsthafte Kompositionen«

Wer sagt, dass Jazz immer todernst und nur für ein eingeweihtes Publikum bestimmt sein muss? Die Jazz Passengers aus New York tun seit 1987 einiges dafür, dem Jazz Schwere und Ernst zu nehmen – schon der Bandname ist eine ironische Bezugnahme auf Art Blakeys legendäre Allstar-Formation Jazz Messengers, die in wechselnder Besetzung von 1954 bis 1990 bestand.

Nachdem sie einige Jahre mit John Luries Lounge Lizards gespielt hatten, beschlossen Saxofonist Roy Nathanson und Posaunist Curtis Fowlkes, eine eigene Band zu gründen, die stilistisch offener sein sollte und vor allem mehr Spaß beim Musikmachen und -hören zuließ. Die Jazz Passengers mixten Blues, Gospel, Soul, Latin und viele andere Genres, Nathanson sorgt auch heute für Humoreinlagen im Geiste der Marx Brothers. Trotzdem wirkte der Passengers-Jazz nie beliebig oder verwässert, denn Jazz war immer die Grundlage. Feste Bandmitglieder und wechselnde Gastmusiker wie Marc Ribot, Bill Ware und Sam Bardfeld garantieren Premiumqualität. Von Anfang an laden die Jazz Passengers zudem gern GastvokalistInnen ein: Blondie-Star Debbie Harry entdeckte mit den Passengers ihre Berufung als Jazz-Sängerin, auf dem Passengers-Album »In Love« von 1994 sind außer ihr unter anderem Jeff Buckley und Mavis Staples zu hören. Jetzt gibt es ein neues Album der Jazz Passengers, das, in Anlehnung an den 1978er-Hit von Peaches & Herb »Reunited« heißt. Der Titel spricht für sich: Das letzte Album der Passengers erschien 1997 und war eine Liveaufnahme – die Musiker mussten sich buchstäblich suchen, finden und wieder vereinen. Auf »Reunited« sind alle Mitreisenden vertreten: Curtis Fowlkes und Roy Nathanson, Bill Ware, Bradley Jones, E.J. Rodriguez, Sam Bardfeld. Als besondere Überraschung ist auch Gitarrist Marc Ribot bei einigen Stücken dabei. Und dann die GastsängerInnen: Debbie Harry! Elvis Costello! Susi Hyldgaard! »Reunited« ist ein großes Happening für alle Beteiligten, das auch den Hörern viel Spaß macht: Wilde No Wave-Saxofon-Kakofonien und vertrackte Percussion-Parts gehen in fröhlich-milden Swing über, hier tänzelt dreadlockiges Reggaeflair, dort wird hart gerockt. Latin-Grooves und punkige Gitarren entstauben Standards wie »Spanish Harlem« und die amerikanische Nationalhymne. Die Eigenkompositionen funkeln vor Spiellaune und Ideenreichtum. Blondies straightes New Wave-Stück »One Way Or Another« mutiert durch die Behandlung der Jazz Passengers zu irrlichterndem Frickel-Daddel-Jazz und wäre kaum zu erkennen, wäre da nicht Harrys Stimme, die an das Original zumindest entfernt erinnert. Und dazwischen: Roy Nathansons urkomische Ansagen und bissige Witze. Das Album wurde im New Yorker Kampo Cultural Center live eingespielt. Kurzum: »Reunited« ist ein Album für Leute, denen Jazz üblicherweise zu verstaubt und hüftsteif ist. Die älteren Herrschaften um Roy Nathanson und Curtis Fowlkes schaffen es, auch das ernsthafteste Publikum zum Tanzen und zum Lachen zu bringen. Was will man mehr? Im Folgenden ein transatlantisches E-Mail-Gespräch zwischen Christina Mohr und Roy Nathanson.

◊ ◊ ◊

satt.org: Die Jazz Passengers sind kürzlich beim Saalfelden Jazz Festival in Österreich aufgetreten – den Presseberichten kann man entnehmen, dass euch das Publikum offenbar sehr gemocht hat. Mochtet ihr Saalfelden?

Roy Nathanson: Ich war schon mal in Österreich in den Bergen, und weil es dort so wunderschön ist, habe ich dieses Mal meine Frau und meinen 12-jährigen Sohn mitgenommen. Das hat viel Spaß gemacht! Dazu kommt, dass das Festival wirklich großartig ist. Also, was kann man an Saalfelden nicht mögen?

Wie ist es, in Europa zu spielen? Unterscheidet sich das Publikum vom Amerikanischen?

Roy Nathanson: Die Musik, die ich spiele, weist viele unterschiedliche Bezüge auf. Sie ist ziemlich poetisch, manchmal ironisch und insgesamt nicht leicht zu kategorisieren. Die amerikanische Kultur schätzt solche Ambiguität üblicherweise nicht besonders. Wenn ich in Amerika auf ein ›eingeweihtes‹ Publikum treffe, das meine Musik mag – dann ist es super. Die Leute kriegen dann nämlich alles mit: die Texte, die Witze, das ganze Drumherum. Aber weil europäische Länder wegen der besseren Bildung, dem tiefsitzenden historischen Verständnis und der räumlichen Nähe zueinander kosmopolitischer eingestellt sind, habe ich das Gefühl, dass unsere Musik im Allgemeinen dort besser verstanden und wertgeschätzt wird. Manche Dinge gehen leider ein bisschen unter, weil ja schließlich nicht alle Europäer Englisch verstehen, aber insgesamt treffen wir in Europa auf ein wesentlich respektvolleres und offeneres Umfeld.

Ich werde bei Jazzkonzerten manchmal ungeduldig, weil bei jedem einzelnen Solo applaudiert wird. Wie empfinden Sie das? Ist das nur ein eingefahrenes Ritual oder freuen sich die Musiker darüber?

Roy Nathanson: Mir persönlich ist das ziemlich egal. Sowohl bei den Jazz Passengers als auch bei Sotto Voce (Nathansons zweites Bandprojekt neben den Jazz Passengers, Anm. CM) stellen wir dieses ganze Solo-Melodie-Solo-Ding ohnehin auf den Kopf. Wir lassen Soli meistens in die gemeinsame Band-Musik verschmelzen, so dass das Publikum nie genau weiß, ob das nun ein Solo war oder nicht. Dennoch: Ein gutes Solo ist eine eigenständige kleine Komposition, und es ist cool, jeder Komposition eine gewisse Achtung zu zollen.

Wann und warum war es an der Zeit für ein neues Album der Jazz Passengers?

Roy Nathanson: Die Jungs sind alle enge Freunde von mir. Wir hatten schon eine ganze Weile über eine neue Platte gesprochen, und nachdem wir »Subway Moon« (multimediales Hörspiel mit Sotto Voce, 2009, Anm. CM) auf enja herausgebracht hatten, entwickelte sich eine enge Freundschaft und gute Arbeitsbeziehung mit Werner Aldinger (Labelchef enja/Yellowbird, Anm. CM). Zusammen beschlossen wir, dass jetzt eine gute Zeit dafür sei, es mit einem neuen Album zu versuchen.

Auf dem neuen Album sind GastsängerInnen wie Susi Hyldgaard, Debbie Harry und Elvis Costello zu hören. Ist es für Jazzmusiker eigentlich schwer zu ertragen, dass die Vokalisten einen Großteil der Aufmerksamkeit bekommen?

Roy Nathanson: Wenn man Popstar-Terrain betritt, wenn man sich dafür entscheidet, mit Leuten zu arbeiten, die berühmt sind, muss man mit dem Effekt leben. Für mich ist es einfach klar, dass Elvis oder Debbie tonnenweise Aufmerksamkeit bekommen und auch bekommen sollten, wenn wir zusammen spielen. Aber man muss auch dazu sagen, dass beide mit unserer Band auftreten, weil sie die Musik mögen – sicherlich nicht für das Geld, das bei uns zu erwarten ist. Und sie gehen auf der Bühne sogar immer zur Seite, damit wir möglichst viel Anerkennung bekommen. Ich spiele mit beiden sehr gern, weil ich mich auch als eine Art Songwriter verstehe, und beide bringen ihre ganz besonderen Qualitäten in die Stücke ein. In meinem Sotto Voce-Projekt benutze ich meine eigene kratzige Stimme, was viel einfacher zu kontrollieren ist, aber natürlich kein so großes Publikum erreicht, wie es Kollaborationen mit Deb oder Elvis möglich machen. Die Idee bei diesem Album war es, ein wenig Bandgeschichte zu erzählen – Elvis und Debbie sind ja schon lange bei den Jazz Passengers aktiv – und außerdem ein Gefühl dafür zu vermitteln, dass wir mit unserer Musik nach vorne schauen. Durch die Erfahrungen mit Sotto Voce bin ich sehr daran interessiert, dass die Bandmusiker auch singen; Curtis (Fowlkes) zum Beispiel war schon immer ein ganz bezaubernder Sänger. Es war an der Zeit, dass wir das bei den Jazz Passengers auch mal zeigen. Daneben ist aber auch die rhythm section der Jazz Passengers sehr speziell. Wir lieben es, über einen Groove zu spielen, zu improvisieren. Deswegen gibt es davon auch eine Menge auf »Reunited«.

Die Jazz Passengers scheinen immer viel Spaß zu haben – auf der Bühne, aber auch bei Studioaufnahmen. Ist es nur ein Gerücht, dass Jazzmusiker immer so ernsthaft sind?

Roy Nathanson: Tja, manche sind ernst, manche nicht. Curtis und ich sind echte Spinner und das ist ein wesentlicher Bestandteil der Jazz Passengers-Ästhetik. Blöde Witze und ernsthafte Kompositionen nebeneinander zu stellen, das war schon immer sehr erstrebenswert für mich.

Ist es heutzutage noch sinnvoll, zwischen Stilen wie Jazz, Rock, etc. zu differenzieren?

Roy Nathanson: Es ist schon in Ordnung, dass in einigen Bereichen des Jazz bestimmte Traditionen am Leben erhalten werden – in dem Sinne, dass es sich ja um eine Fundgrube, ein Erbe handelt, das man schätzen und ehren sollte. Interessanter finde ich, dass sich solche Stil-Definitionen in neuer, moderner Musik auflösen. Mir gefällt auch, dass die strengen Grenzen zwischen Theater, Film und Musik fallen und eine verfeinerte Form von Sprache, von Kommunikation entsteht.

Was machen Sie denn am liebsten? Jazz-Standards neu interpretieren oder neue Stücke schreiben?

Roy Nathanson: Normalerweise arbeite ich gern an neuen, eigenen Songs. Aber sich an alten Stücken neu zu versuchen, das kann sehr cool sein.

Welche Musik mögen Sie?

Roy Nathanson: Ich mag immer noch die großen Jazzer, die ich schon immer geliebt habe: Dolphy, Monk, Mingus, Coleman, Coltrane, Sun Ra. Aber ich höre auch ganz verschiedene Sorten Weltmusik, viele Songwriter und modernes klassisches Zeug, besonders Charles Ives und Leo? Janá?ek.

Und wer ist Ihr größter Held?

Roy Nathanson: Eric Dolphy.

Sie gehörten zu John Luries legendären Lounge Lizards. Wie war das? Denken Sie oft an diese Zeit zurück?

Roy Nathanson: Manchmal. Dank youtube braucht es dafür auch gar nicht viel Vorstellungskraft. Bei genauerem Nachdenken vermisse ich allerdings meine Haare.

Wenn jemand Ihr Saxofon stehlen würde und Sie könnten aus irgendeinem Grund kein neues besorgen – was würden Sie tun?

Roy Nathanson: Einfach Songs schreiben und Piano spielen.

Ich erinnere mich noch sehr gut an ein Konzert der Jazz Passengers in Marburg 1996. Zum einen musste ich am nächsten Morgen meine Uni-Abschlussprüfung ablegen. Ich habe bestanden. UND ich ging direkt nach Debbie Harry auf die Club-Toilette. Unvergesslich. Haben Sie auch eine Jazz Passengers-Anekdote für unsere Leser parat?

Roy Nathanson: Nein, da kann ich nicht mithalten. Hoffentlich haben Sie das Toilettenpapier retten können!


Roy Nathanson @ MySpace
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