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3. August 2010
Christina Mohr
für satt.org

Kunstfiguren mit Visionen

  M.I.A. – Maya
M.I.A. – Maya
(Beggars/XL)
» miauk.com
» myspace

Niemand außer der 35jährigen Maya Arulpragasam alias M.I.A. vereint heute noch Pop, Politik und Stil – so definiert der Musikkritiker einer deutschen Tageszeitung M.I.A.s Sonderstellung im Business. Er geht nicht darauf ein, wer die VorgängerInnen sein könnten, sondern stellt ihr Madonna und Lady GaGa als oberflächenverherrlichende Kunstfiguren gegenüber. Doch auch M.I.A., (Missing in Action / Gefallen im Kampf) ist eine Kunstfigur. Erfunden hat sie Maya Arulpragasam, um ihre Lebensgeschichte in die Welt zu tragen: Geboren in London, aufgewachsen in Sri Lanka als Tochter eines tamilischen Revolutionärs. Wegen der Unruhen in Sri Lanka als Zehnjährige mit der Mutter zurück nach London, wo sie sehr früh ein ausgeprägtes Bewusstsein für Pop, Politik und Stil entwickelt. Arulpragasam studiert Kunst, macht Mode, Grafik und dreht Filme, bis Elektroclasherin Peaches sie schließlich zum Musikmachen ermuntert. Maya / M.I.A. lässt die Groovebox durchdrehen: In-Your-Face-Grime mit explizit politischer Botschaft wird zu ihrem Trademark. Das erste Album nennt sie nach ihrem Vater »Arular«. Das zweite trägt den Namen ihrer Mutter: »Kala«.

Die neue Platte heißt wie die Künstlerin selbst »Maya«. M.I.A. ist erfolgreich: Ihr Song »Paper Planes« ist auf dem Soundtrack von »Slumdog Millionaire« zu hören, das TIME-Magazine listet sie unter die »100 einflussreichsten Persönlichkeiten«. Von ihrer kämpferischen Attitüde hat sie nichts eingebüsst. Auf »Maya« kann man Industrial-Lärm aus Kreissägen und Bohrern zu tonnenschweren Dancehall-Beats hören. Tracks wie »Steppin' Up« und »Teqkilla« werden zu Bewährungsproben für Anlage und Nachbarschaftsverhältnis. Dass M.I.A. auch eine sanfte Seite hat, zeigt sie mit der Ballade »Space«, der poppigen Single »XXXO« und den gemächlich schaukelnden Reggaetracks »Lovalot« und »It Takes A Muscle«. Produziert vom derzeit unverzichtbaren Diplo, der zum Timbaland seiner Generation zu werden droht. Bis hierhin ist »Maya» eine gute, abwechslungsreiche Platte. Ein einziger Track macht das Album dann unsterblich: »Born Free«. Der grollende Elektro-Punk-Frontalangriff basiert auf einem Suicide-Sample. Das von Romain Gavras gedrehte neunminütige Video zeigt in drastischen Bildern die Verfolgung und Ermordung rothaariger Jugendlicher durch (US-amerikanische) Soldaten und wurde zum Skandalon. YouTube.com löschte den Film eilig von der Website. Die schöne M.I.A., der Supertrack und das krasse Video: Das Gesamtkunstwerk geht auf.

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  Janelle Monáe – The ArchAndroid
Janelle Monáe – The ArchAndroid
(Atlantic/Warner)
» jmonae.com
» myspace

Den richtigen Riecher bewies das Missy Magazine, als es aufs Cover seiner Ausgabe 4/09 die damals noch ziemlich unbekannte Janelle Monaé packte. Mittlerweile kommt niemand mehr an der Ex-Musicalstudentin vorbei. Auf »The ArchAndroid« führt sie das mit der Vorgänger-EP »Metropolis: The Chase Suite« begonnene Konzept weiter: Zeitreise, Entführung durch Körperfresser, Fritz Lang-/Metropolis-Setting und ein Alter Ego namens Cindi Mayweather. Man ist kurz davor, es eine spinnerte Idee zu nennen und eine Mésalliance zwischen George Clinton und Lady Gaga, die man lieber nicht anhören möchte, zu befürchten. Aber: Die 24-jährige Monáe ist verrückt und visionär, multitalentiert und genial und The ArchAndroid“ ein sagenhaftes Album, das die HörerInnen von der dramatischen »Suite II Overture« bis zum neun Minuten langen Schlusstrack »BabopbyeYa« in Atem hält. Ganz abgesehen davon, dass Monáe auf den typischen R'n'B- (Un-)Dresscode für weibliche Acts verzichtet, immer in einer schwarz-weißen Uniform auftritt und schon deshalb zu verehren ist: Sie schafft es, auf einer Platte mit -zig verschiedenen Stilen wie Soul, Indierock, Funk, Elektropop, Jazz, Dancehall und James Bond-Großraumballaden zu jonglieren, und doch immer eindeutig nach Janelle Monáe zu klingen. Zwar hört man einigen Stücken an, dass sie zur Atlanta-Outkast-Posse gehört – Antwan »Big Boi« Patton ist Co-Producer und singt auf der Single »Tightrope« mit –, aber die clevere Androidin mit der Stimme einer Shirley Bassey nutzt die Skills ihrer Supporter und Gaststars wie Deep Cotton, Saul Williams und Of Montreal geschickt und bleibt stets Herrin der Lage. Und die Frage, ob ein Konzeptalbum in Zeiten des kontextlosen Downloadens Sinn ergibt, ist schnell beantwortet: Ja, klar. Jeder Song auf »The ArchAndroid« brilliert für sich allein, Cindi Mayweathers Abenteuer bilden den sinnfälligen Rahmen, der die 18 Teile/Tracks zusammenhält. Im Booklet verrät Monáe ihre Inspiration zu jedem Track. »Mushrooms & Roses« zum Beispiel ist »inspired by a Stage Dive at the Bonnaroo Festival and Jack White's mustache«. Da verzeiht man ihr sogar den aktuellen Werbespot für Coca Cola.