Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




9. August 2010
Robert Mießner
für satt.org

  Embryo 40

Embryo 40
(Trikont)
» embryo.de
» trikont.de


Scheppernder Swing

Weltmusik war nicht meine Welt. Ich wuchs in einem Neubaublock im Schatten des Springerhochhauses auf. Wir spielten in Baubaracken und Kaufhallentunneln. Später gingen wir alle zwei Wochen als Schüler arbeiten. Die Werkhallen sahen aus wie von Tarkowski gefilmt. Einmal besuchten wir eine Gießerei. Von dem flüssigen und feuerroten Metall war ich schwer beeindruckt. Was ich damit sagen will: Meine Musik wünschte ich mir blechern-scheppernd und maschinell-dröhnend. Ich sollte sie bekommen. Nicht, dass ich etwas gegen lebensfrohe Lateinamerikaner und progressive Panflötisten hatte, ich fand einfach keinen Zugang zu ihrem Sound. Wenigstens hörte ich die Pogues und die Ukrainians. Irgendwann schmuggelte sich die Weltmusik auf Umwegen dann doch noch in mein Plattenregal: Mit den Holländern von The Ex zum Beispiel, die sich in den frühen Neunzigern mit dem Avantgarde-Jazzer Tom Cora zusammentaten und ungarische und türkische Folklore gegen den Strich bürsteten. Oder Savage Republic aus Los Angeles, die ihren Tribal-Punk mit Mikis Theodorakis und arabischen Melodien scharf machten. Sehr scharf.

Aber hätte ich mir eine Platte von Embryo gekauft? »Die ultimative Weltmusik-Krautrock-Formation« nennt Trikont sie auf dem Backcover der Doppel-CD, die das Münchner Label jetzt zum vierzigsten Bandjubiläum veröffentlicht hat. Ich fürchte, ich hätte aus jugendlicher Ignoranz nicht. Dabei haben Embryo eine filmreife Geschichte, die Christoph Wagner und Bandleader Christian Burchard im Beiheft erzählen: Als Jimi Hendrix 1970 auf Fehmarn seinen letzten Auftritt gab, spielten sie nach ihm. Mit Rio Reiser und Ton Steine Scherben gründeten sie das April-Label (später Schneeball), ein Unternehmen von Musiker für Musiker. Als Langhaarige nicht nach Marokko einreisen durften, taten sie genau das. Ohne unters Messer zu müssen. Embryo initiierten die Free-Festival-Bewegung und gingen auf Anregung des Jazzmusikers Charlie Mariano nach Indien. Sie fuhren durch Afghanistan im Bürgerkrieg, erlebten die islamische Revolution in Teheran und musizierten mit Fela Kuti in Nigeria. »Die Neugierde ist die stärkste Droge«, meint Burchard. Die Musik, die dabei entsteht, begeistert längst auch Neutöner wie die New Yorker No Neck Blues Band, mit der Embryo auf Tour gingen und für Staubgold »Embryonnck« (2006) aufnahmen. Oder Nick McCarthy, Gitarrist und Songschreiber von Franz Ferdinand.

Ihre Faszination kommt nicht von ungefähr, wie sich auf der Trikont-Compilation überprüfen lässt, die die abenteuerliche Geschichte von Embryo anhand von Raritäten aus dem Archiv Christian Burchards erzählt. Am Anfang steht schwerer Rock: »What’s Happening«, aufgenommen 1970 in München. Dann gibt es astreinen und swingenden Jazz: »For Eva« mit dem Christian Burchard Trio und »Marokko« mit dem Mal Waldron Quartet, beide von 1967. Manchmal möchte man sich anschnallen: »1000 Feet« klingt wie ein Gallon-Drunk-Instrumental, wurde aber 1971 eingespielt. »Ticket To India«, stolze elf Minuten lang, ist ein einziger Trip. Danach beginnt die »eigentliche« Weltmusik: »6 Beat« entstand 1978 in Kabul. Beim Hören des Tracks kriegt man eine Vorstellung davon, warum Afghanistan in einer anderen Zeit mal Reiseziel für Hippies und Aussteiger war. Auf der zweiten CD dann »Melodie Andalous«, so durchdringend-sehnsuchtsvoll, daß es besoffen macht. Hinzu kommen Flamenco und eine Zusammenarbeit mit dem Moskauer Postfolk-Trompeter Jury Parfenow. Zum Schluß trifft das Münchner Alphornkollektiv auf den Nai-Spieler Murat Cakmaz. Diese Musik ist nicht nur hypnotisch. Besser noch: Sie scheppert ordentlich. Wort drauf.


Erstveröffentlichung in: junge Welt, 14. Juli 2010