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1. Juni 2010
Janine Andert
für satt.org

  Arcade Fire: The Suburbs
Arcade Fire: The Suburbs
City Slang (Universal)
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Tourdaten:
  • 31.8. Berlin, Tempodrom
  • 28.11. München, Zenith
  • 29.11. Düsseldorf, Philipshalle




Ambitioniert und konsensfähig

»The Suburbs«, das dritte Studioalbum von Arcade Fire, will aus den Läden in unsere vier Wände. Zuhause vor den Boxen dann die Feststellung: Den sieben Kanadiern aus Montreal ist das Kunststück gelungen, die in drei Jahren Wartezeit hochgeschraubten Erwartungen weder zu erfüllen, noch zu enttäuschen. Wie geht das? Spätestens mit »Neon Bible« (2007) hatten Arcade Fire ihren dramatischen Power-Indie-Pop in der vom Jungs-Rock beherrschten Musikwelt etabliert. Sie hatten in punkto Opulenz sogar noch einen draufgesetzt. Von »The Suburbs« erwartete man Epik. Doch Arcade Fire verzichteten – mittlerweile mit eigenem Plattenlabel – darauf, das Gehabte nochmals zu steigern und schraubten den überbordenden Anteil in ihrer Musik einfach vehement zurück. Herausgekommen ist ein Album, das sich dank der Stimmen von Win Butler und Régine Chassagne immer noch nach Arcade Fire anhört, aber auch zeigt, dass ihr Weg in den Bereich der anspruchsvollen, konsensfähigen Radiomusik geht. Andere Bands sind daran gescheitert. Das erste oder zweite Album war ein Meilenstein der Musikgeschichte, aber dann wiederholte sich das einst so interessante, spannende und neue. Oder aber – bestes Beispiel hierfür sind die Talking Heads – nach der Platte (»Fear of Music«, 1979), die Generationen von Musikern als Referenz angeben, werden die Mainstreamhits produziert, die immer noch fantastisch sind, aber bei den alten Fans nur noch ein müdes Lächeln hervorrufen. Umgekehrt sind den neuen Fans die alten Sachen dann doch etwas zu gewöhnungsbedürftig. Kurz: Arcade Fire haben mit »The Suburbs« die Indieszene endgültig verlassen. Sie sind aber nicht in die Liga der Eintags-Band-Hypes übergetreten, sondern in die Liga zeitlos guter Musik, in die es nur sehr wenige schaffen.

Der Einstieg in das Album ist ein beschwingter Sing-along-Hit, der sich klar von der Schwere des Vorgängers abhebt. Arcade Fire haben zu einer unerwarteten Leichtigkeit gefunden. Ihrer Mischung aus Indie- und Art-Rock, der mit verdammt viel Instrumenten eingespielt wird, sind sie treu geblieben, doch haben Akkordeon, Bläser, Streicher und Orgel den jugendlichen Weltschmerz hinter sich gelassen. Ganz erwachsen, strahlt das Album vor allem Gelassenheit aus. Nur genau darin liegt beinahe das Problem: Artige Hintergrundchoräle, vielschichtige Klangteppiche ohne pointierte Höhen und Tiefen und ausgefeilte Streicherarrangements mögen technisch einwandfrei sein, lassen das Feuer der beiden Vorgängeralben jedoch nur noch erahnen. »The Suburbs« ist einfach zu glatt, zu sauber, zu popig – für ein Arcade-Fire-Album. Es braucht mehr als nur ein einmaliges Durchhören, bis die Songs den Hörer mitreißen. Dann hat sich »The Suburbs« seinen Platz erkämpft. Und ganz ungelogen, die Dramaturgie ist perfekt, um entspannt in den Tag zu starten.

Die bewegensten Tracks sind »The Suburbs« und »Month Of May«. Sie waren als Vorgeschmack bereits Anfang Juli auf der bandeigenen Homepage zu erwerben. Ersterer ist rhythmisch bestens zum Aufstehen geeignet. Der Takt geht ins Blut. Gleichzeitig lassen die Geigen und der Backgroundchoral von Régine Chassagne den Träumer noch ein wenig in seinen Fantasiewelten verweilen: Besonders zu empfehlen, um die Stimmung an grauen, verregneten Novembertagen zu heben. Diese kommen, es muss gesagt werden, ziemlich bald. »Ready To Start« zieht das Tempo noch etwas an und weckt den letzten Verschlafenen. Entsprechend kann es nun wieder ruhiger weitergehen. Ungewohnt spät gesellt sich die für Arcade Fire typische Geige in »Modern Man« zu einer vordergründigen klassischen Bass-Gitarre-Schlagzeug-Instrumentierung. Im darauf folgenden »Rococo« stehen die Streicher wieder im Mittelpunkt. Mit einem Hauch von Kammermusik-Feeling ist das der erste Song, in dem Arcade Fire zu ihrem dramatischen Melodieaufbau zurückfinden. Mehr davon gibt es auf »Empty Room«. »City With No Children« stoppt den Ausflug in allzu opulente Arrangements. Jetzt gibt der Bass den Ton an. Das Instrument scheint bei Arcade Fire an Bedeutung gewonnen zu haben. Doch wehren sich dagegen die Geigen und drängeln sich in »Half Light I« aus ihrer Ecke wieder zurück auf die Hauptbühne. Bis »Month Of May« geht es gleichförmig weiter. Der Track ist dann aber ein Knaller, der wieder neue Farbe auf die Platte bringt. Energie geladen prescht die Melodie nach vorne. Fast möchte man Plastic Bertrands / Lou Deprijcks »Ça Plane Pour Moi« im Chorus mitsingen. Nur immer, wenn man denkt, jetzt kommt er endlich, der berühmte Refrain, dann bleibt er aus. Überraschend besinnlich schließt sich »Wasted Hours« an. Bis »Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)« an Blondies Achtziger-Pop erinnert, passiert nicht mehr viel. Muss aber auch nicht. Am Ende klingt mit »The Suburbs (continued)« ein rundes Album aus.

Inhaltlich beleuchtet »The Suburbs« eine weitere Facette des Arcade-Fire-Themas oder besser ihrer Fragen: Woher komme ich? Wo bin ich? Wohin geht es? Schon auf der Debüt-EP »The Arcade Fire« (2003) ging es um den Rückblick und das Ausbrechen aus den amerikanischen und kanadischen Vorstädten, in denen alle Bandmitglieder aufwuchsen. Es ist ein ambivalenter Blick auf die Kindheit: Einerseits wird ein überkoloriertes Bild einer verlorenen Welt entworfen, werden Veränderungen und Wandel thematisiert, andererseits aber auch die Tristesse der Vorstädte aufzeigt. Wie keine andere Band vertonen Arcade Fire die Mentalität der Vorstädter. Dazu zählen: Langeweile, der Ekel vor ihr und die Hassliebe zur behüteten Seifenblase. Noch deutlicher wurde das auf »Funeral« (2004). Mit dem Album gelang Arcade Fire der Durchbruch, mit ihm krempelten sie die Indie-Szene um. Nicht zufällig sind vier von zehn Stücken der Platte mit »Neighborhood« betitelt. Damals regierte noch jugendlicher Überschwang, der bald weichen sollte. Auf »Neon Bible« heißt es: »Stop now before it's too late / Been eating in the ghetto on a hundred dollar plate / Nothing lasts forever / That's the way it's gotta be/ There's a great black wave in the middle of the sea«. Harte Kost und ein hoffnungsloses Bild, das auf »The Suburbs« sowohl textlich als auch musikalisch wieder revidiert wird.