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3. Mai 2010
Felix Giesa
für satt.org

  Ruprecht Mattig: Rock und Pop als Ritual
Ruprecht Mattig:
Rock und Pop als Ritual.
Über das Erwachsenwerden
in der Mediengesellschaft

transcript 2009
264 Seiten, € 27,80
» transcript


Rites of Passage

Junge Heranwachsende begeistern sich seit dem Aufkommen der Pop- und später Rockmusik, aus den Augen der Erwachsenen, unverhältnismäßig für Stars und ihre Musik. In seiner im Umfeld der Berliner Ritualstudie entstandenen pädagogischen Arbeit Rock und Pop als Ritual. Über das Erwachsenwerden in der Mediengesellschaft versucht sich Ruprecht Mattig diesem Phänomen anzunähern. Dabei greift er auf kulturanthropologische Konzepte zurück und befördert damit teilweise beeindruckende Ergebnisse zu Tage.

Ausgehend von der Tatsache, dass der Kultus-Begriff in Starkult auf eine anthropologische Dimension in der populären Musik verweist, stellt Mattig einen metaphysischen Bezug zum religiös-rituellen Bereich her (11). Die Inszenierung des Stars gleiche dem theatralischen Spektakel magischer Stammesrituale (37f.). Gerade in diesem Zusammenhang entfaltet Mattig das Anliegen seiner theoretisch sehr breit und fundiert angelegten Arbeit: Wurde der Übergang der Heranwachsenden in früheren Kulturen durch ein magisch-religiöses Ritual vollzogen, sei diese Initiierung heutigen Heranwachsenden abhanden gekommen (60), gemeinhin durch den Einfluss der christlichen Kirchen (73). Nicht erst Minor Threat begriffen sich als “out of step with the world”, sondern formulierten damit ein grundlegendes Empfinden in der Adoleszenz, nicht mehr Kind, aber auch noch nicht Erwachsener zu sein. Nach Mattig gelingt es den Adoleszenten gerade durch die Musik wieder in Einklang mit sich zu gelangen (39). Das dies noch nicht der Einklang mit dem Rest der Welt bedeutet, liegt in der Natur der Adoleszenzkrise. Ausschlaggebendes Referenzwerk wird für Mattig nun im folgenden Arnold van Genneps gut 100 Jahre alte Monographie Les rites des passages (45). Mit van Gennep begreift er das Zusammenfinden in, der Gesellschaft entgegengesetzten, anti-strukturellen Gruppierungen, den Communitas, als liminale Phase (47ff.). Die dort gemachten gemeinsamen Erfahrungen könnten zentral für eine erfolgreiche Bewältigung der Adoleszenzkrise werden.

In einer anschließenden Analyse der populären Musik nach ihrer Entstehung begreift er vor allem den Rock’ n’ Roll als Ausdruck der Jugend (72). Die hier erlebte Tanzwut (70) und die kollektiven Ausbrüche von Hysterie (72) entsprächen eindeutig den Erfahrungen in stammesrituellen Handlungen. Anders als hierzulande unterliegen diese während ihrer rituellen Initiation einem Schutz, der sie von vornherein von jeglichen Misstritten während der Tanzwut und Hysterie freispricht.

Hierauf aufbauend formuliert Mattig den Begriff einer Pop-Religiosität (96; 100) und spricht von einer verzaubernden Wirkung der Popmusik. Dementsprechend werde ein Konzert auch als Ritual regelrecht dramaturgisch inszeniert (113). Angefangen beim Aufbau der Hallenarchitektur über die Ausleuchtung der Bühne bis hin zu den Vorbands, die jeweils schlechteren Sound und Ausleuchtung als die Hauptband hätten, sei alles auf den Star hin zugeschnitten.

Dienten Mattig die bisherigen Ausführungen lediglich der Fundierung seiner Begriffe und der Beschreibung des Umfeldes für seine Untersuchungen, so bilden vier sehr ausführliche Interviews mit insgesamt gut hundert Seiten den analytischen Hauptteil seiner Arbeit. Durch die Rekonstruktion und Auswertung von vier unterschiedlichen Fanfiguren und ihrer Biographien (Fans von Robbie Williams, Kurt Cobain, Xavier Naidoo und Britney Spears) gelingt es ihm, drei Typiken von Fans zu erstellen. Es sei dies erstens (226ff.) die Ausrichtung auf entweder den Star als Kultobjekt bzw. seine Musik als Diskursmoment und sich damit überschneidend zweitens (231ff.) das Erleben einer unmittelbaren Communitas, die sich ,nur’ über den Star begreift, bzw. die ideelle Communitas, die sich in einer gemeinsamen geistigen Haltung wahrnimmt. Als dritte Typik erkennt Mattig den unterschiedlichen Ablauf der ersten ,Verzauberung’. Zum einen könne diese durch rituelle Handlungen erfolgen, wie das Begehren oder des sich mit dem Star identisch Empfinden (240), oder durch Reflexionen des Heranwachsenden, der seine Umwelt und sein Bild des Stars reflektiert und so eine Verbindung zu diesem aufbaut (241).

Scheinen diese Erkenntnisse auf den ersten Blick doch reichlich banal, so muss doch gesagt werden, dass sie für die pädagogische Warte, von der Mattig aus analysiert und beschreibt, als grundlegend und wichtig erachtet werden müssen. Gerade in seinem Ausblick formuliert er deren Relevanz, indem er darauf hinweist, dass die Pädagogik zwar den Starkult vieler Jugendlicher als Missbrauch ihrer Macht der Medienbranche auffasst. Die Jugendlichen seien dem hilflos ausgeliefert, von der Fragwürdigkeit vieler Stars als brauchbare Idole einmal ganz zu schweigen. Doch hat Mattigs Buch eins ganz eindrucksvoll gezeigt: das Fansein ist durch eine Anti-Struktur geprägt, deren Ausdruck eben dem strukturierten gesellschaftlichen diametral entgegengesetzt ist. Will die Pädagogik hier Anschluss finden, den Adoleszenten eine tatsächliche Hilfe sein, muss sie wie Mattig erst einmal die von ihr kritisierten Phänomene begreifen.

So viel nun zum Referat dieser Untersuchung über Rock und Pop als Ritual, das in seiner Prägung der Begriffe für die Zukunft sicherlich einiges Grundlegendes gesagt haben dürfte. Dabei fiel auf, dass sich jedoch insbesondere in Blick auf den Untertitel, das Erwachsenwerden, Uneindeutigkeiten breit gemacht haben. Es ist dies der inflationäre Gebrauch der Begriffs der ,Jugend’ synonym verwendet wie ,Heranwachsender’ und ,Adoleszenter’. Im Abgleich mit aktuellen jugendsoziologischen Studien, welche die Adoleszenz als Moratorium begreifen, hätte hier dem Begriff eine Schärfe gegeben werden können, von der Mattigs Buch nur hätte profitieren können. Generell scheint dem Begriff der Adoleszenz doch der Vorrang zu geben zu sein, nimmt er doch die auch von Mattig immer wieder angesprochenen Krisenmomente zentral mit in den Blick.

Gleiches gilt auch für die Bewertung des Begriffs der Mediengesellschaft, der sich hier doch einfach nur auf den Musikkonsum bezieht, für die vielfach beschworene Medienrevolution jedoch gar keine Relevanz hat, da neueres Musikverhalten der Adoleszenten, welches geprägt sein dürfte von iPod und Musikdownload, gar nicht erst in den Blick gerät.

In diesem Zusammenhang gänzlich infrage zu stellen ist damit die Auswahl der Interviewten. Alle Personen(-gruppen) zeigen ein deutlich staraffineres Verhalten, als es für den Durchschnitt der entsprechenden Alterskohorte zutreffend sein dürfte. Völlig aus dem Blick verliert Mattig dabei das Konsumverhalten der ,regulären‘ Konsumenten, das Gros der Musikhörer. Spannte man von diesen aus einen Bogen, müsste er über die von Mattig beschriebenen Personen hinaus zu Szenengängern der Subkulturen gehen, wie sie sich in der Punk- und Hardcoreszene finden lassen. Man beschaue sich nur das „Step down“-Video von Sick of it all, um zu erkennen, dass hier Rituale en masse den musikkulturellen Alltag prägen. Solche Weiterentwicklungen von Mattigs Ansatz, sinnvollerweise in Zusammenarbeit mit Einrichtungen wie dem Archiv der Jugendkulturen, die immer schon mit Szenengängern zusammengearbeitet haben, wären mehr als wünschenswert.