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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




27. April 2010
Christina Mohr
für satt.org

  Patti Smith: Just Kids. Die Geschichte einer Freundschaft
Patti Smith: Just Kids. Die Geschichte einer Freundschaft
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Clara Drechsler und Harald Hellmann
Kiepenheuer & Witsch
Geb., 304 Seiten, € 19,95
» kiwi-koeln.de


Just Kids. Die Geschichte einer Freundschaft

Auf dem Cover von Patti Smith' Album „Twelve“ von 2007 ist ein mit Bändern und astrologischen Zeichen verziertes Tambourin abgebildet. Ein Geschenk Robert Mapplethorpes an Patti, als sie in den späten sechziger Jahren als Pärchen in New York zusammenlebten. Dass das Tambourin fast vierzig Jahre später noch immer zu Patti Smiths wertvollsten Besitztümern zählt, ist nur ein Indiz für die innige Freundschaft der beiden, die auch nach ihrer Trennung als Liebespaar weiter bestand. Viel zu früh unterbrochen durch Mapplethorpes Tod an den Folgen von AIDS im Jahr 1989. Früh verstorbene Freunde und Familienmitglieder kommen in Patti Smiths' Umfeld leider viel zu häufig vor; ihr Mann Fred „Sonic“ Smith und ihr Bruder starben kurz nacheinander, außer Robert Mapplethorpe verlor sie viele Freunde an Drogen und unheilbare Krankheiten. Patti Smith versprach Mapplethorpe am Krankenbett, ihre gemeinsame Geschichte aufzuschreiben – fast zehn Jahre hat sie dafür gebraucht, immer wieder musste sie die Arbeit unterbrechen, weil die Erinnerung zu schmerzlich wurde. Doch welch ein Glück, dass sie es geschafft hat, dass „Just Kids“ nun gedruckt und gebunden vorliegt: wer Patti Smiths spröde Lyrik kennt (z.B. ihren Gedichtband „Babel“), wird überrascht sein, wie warmherzig und unprätentiös sie als Erzählerin und Biografin ist. Am Anfang von „Just Kids“ begegnen wir Patricia Lee Smith aus Illinois, die sich als häufig krankes Kind in Tagträume flüchtete und Geschichten schrieb, die als Neunzehnjährige von einem „noch unerfahreneren Siebzehnjährigen“ schwanger wird, das Baby zur Adoption freigibt und Ende der sechziger Jahre nach New York geht, um Künstlerin zu werden. Dort trifft sie Robert Mapplethorpe, der wie sie auf dem Land groß geworden ist und ebenfalls Künstler sein möchte. Die beiden sind Geschwister im Geiste und Liebende im Leben, unterstützen sich gegenseitig in ihren künstlerischen Bestrebungen. Und noch mehr: beide entdecken im Anderen dessen eigentliche Begabung. Robert überzeugt Patti, Rockmusikerin zu werden, sie bringt ihn zur Fotografie. Patti ist Roberts erstes Modell: das berühmte Cover ihrer LP „Horses“ stammt von Mapplethorpe. Fast noch wichtiger für Mapplethorpes Leben ist Pattis Erkennen seiner Homosexualität und ihr Drängen, sie auszuleben – obwohl sein Schwulsein zwangsläufig zur (körperlichen) Trennung der beiden führt.

Ein Künstlerleben im New York der späten Sechziger und frühen Siebziger führte man nicht allein oder zu zweit: NYC läuft über vor Kreativität und Kreativen, Patti und vor allem Robert tauchen neugierig in die Künstlerszene ein. Robert ist überglücklich, als ihm der Zutritt in Andy Warhols Factory-Clique gelingt, Patti genießt es, im Foyer des Chelsea Hotel zu sitzen, zu schreiben und Berühmtheiten wie Salvador Dáli und Janis Joplin zu beobachten. Würde Patti Smith nicht so unaufgeregt und beinah beiläufig von all den Begegnungen mit Stars und Legenden berichten, wäre „Just Kids“ an manchen Stellen regelrechtes Namedropping: Candy Darling, Jimi Hendrix, Allen Ginsberg (der Patti einen Kaffee ausgibt, weil er sie „für einen besonders hübschen Jungen“ hält), Sam Shepard und viele mehr gehören zum weiteren und engeren Freundeskreis von Robert und Patti, gehen in deren Wohnungen ein und aus, mit Shepard lebt Patti einige Zeit zusammen. Ende der siebziger Jahre, auf dem Höhepunkt ihrer musikalischen Karriere, zieht sich Patti zurück: sie heiratet Fred Smith, bekommt zwei Kinder und nimmt lange Zeit keine Platten mehr auf. Die Wege von ihr und Robert kreuzen sich nur noch selten, der Kontakt bricht aber nie ab. Als er krank wird, sehen sie sich wieder öfter – er ist nun einer der teuersten und berühmtesten Fotografen der Welt, für Patti aber noch immer der Junge mit den wilden Locken, den sie vor vielen Jahren in New York traf und der ihr ein Tambourin bastelte.


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  Eric Pfeil: Komm, wir werfen ein Schlagzeug in den Schnee: die Pop-Tagebücher
Eric Pfeil: Komm, wir werfen ein Schlagzeug in den Schnee. Die Pop-Tagebücher
KiWi, Broschur, 368 Seiten, € 14,95
» kiwi-koeln.de


Komm, wir werfen ein Schlagzeug in den Schnee

Okay, Eric Pfeil ist kein Unbekannter: Der 41-jährige ist nicht nur der Vater von Charlotte Roches Tochter, er hat auch noch einige andere popkulturell relevante Dinge gemacht. Er produzierte von 1999 bis 2003 Roches Viva-Sendung „Fast Forward“ und konzipierte weitere TV-Shows, u.a. mit Sarah Kuttner. Seit 2006 ist er freier Autor für die FAZ, vorher schrieb er für Zeitschriften wie Gala, Spex, MusikExpress und andere über „Popmusik und ihre Folgen“. So weit, so gut. Dennoch: will, muss man seine „Pop-Tagebücher“ besitzen? Ist das, was Pfeil über Bruce Springsteen, Devendra Banhart, Duffy, Babyshambles oder seine ganz persönlichen Empfindungen zum Älterwerden und Schuhekaufen schreibt, so außergewöhnlich, großartig oder durchgeknallt wie, sagen wir, Texte von Lester Bangs, Nick Tosches oder Julie Burchill? Nein, ist es nicht. Auch wenn Pfeil ganz viel weiß, viel gehört und gesehen hat und außerdem Künstler wie Adriano Celentano und den vergessenen Songwriter Robyn Hitchcock mit Verve rehabilitiert – trotzalledem nerven seine poppigen Aufzeichnungen schon nach wenigen Seiten. Pfeil ist nämlich dem Virus des „originellen Schreibens“ erlegen, was dazu führt, dass man vor lauter originellen Wendungen, Vergleichen und Beschreibungen bald nicht mehr weiß, worum es eigentlich geht und gelangweilt vorblättert, bis ein neuer Tag im Leben des Eric Pfeil beginnt. Manchmal ist es witzig (z.B. sein FAZ-Artikel über ein Take That-Comeback-Konzert) aber in der Disziplin der kunstvollen Abschweifung ist Eric Pfeil einfach nicht so gut und locker-aus-der-Hüfte wie z.B. Max Goldt. Beispiel: Am 03.01.2008 improvisiert Pfeil über das totzitierte Hesse-Zitat „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, „Ich schätze den Satz darum nicht besonders, weil ich bekennender Gewohnheitsmensch bin. Sich heutzutage als Gewohnheitsmensch zu bezeichnen ist in etwa so, als behauptete man von sich, man sei begeisterter Waffenhändler, leidenschaftlicher Tierquäler oder Alufolienverpacker. Der Gewohnheitsmensch gilt in einer Zeit, in der alles und jeder, ja selbst Fernsehmoderatoren und Latte-macchiato-Buden-Besitzer einem ungefragt entgegenblöken, dass man niemals zu rosten anfangen dürfe, stets das Neue und die Herausforderung suchen müsse und alltägliche Gleichförmigkeit noch bedenklicher seien als extremislamische Kegelvereine, als kauzig, wenn nicht gar als gefährlich.“ Uff. Finde nur ich das irgendwie sehr bemüht und verlabert, findet Ihr das wirklich lustig, messerscharf beobachtet und brilliant analysiert? Und wollt Ihr sowas fast 400 Seiten lang lesen? Auch Pfeils endlose Abhandlung über seine spät entdeckte Liebe zu Bob Dylan oder wie er einmal Liam Gallagher interviewte? Na gut, dann macht mal. Ich muss ins Bett.


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  Testcard # 19: Blühende Nischen
Testcard # 19: Blühende Nischen
Ventil, Broschur, 312 Seiten, € 15,-
» ventil-verlag.de


Testcard # 19: Blühende Nischen

Wie eigentlich immer ist auch die 19. Ausgabe der Zeitschrift testcard bestens geeignet, in der Rubrik Musikbuch vorgestellt zu werden, nicht nur wegen der Plattenrezensionen am Ende. Dieses Mal sogar noch etwas besser, denn das Heftthema Nischen betrifft Pop- und Nicht-Popmusik in ganz besonderem Maße. War früher (früher meint: vor den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts) Pop nur eine Nische im Kulturbetrieb, ist heute Pop in Bild und Ton allgegenwärtig, sprich Mainstream. Beziehungsweise: gibt es in Zeiten von myspace/youtube überhaupt noch einen Mainstream? Gibt es Bands, Stile, Strömungen, auf die sich viele einigen können oder gar eine Jugendbewegung losgetreten haben? Können Bands wie Bloc Party oder Franz Ferdinand noch einen solchen Teenage Aufruhr entfachen wie einst die Sex Pistols oder, etwas abgeschwächt, Nirvana? Ist nicht jede/r Künstler/in seine eigene vereinzelte Nische? Martin Büsser berichtet von seinem New York-Besuch im Jahr 2009: jeden Abend Konzerte besucht, jeden Abend nur zehn bis zwanzig Gäste vorgefunden, egal welchen Musikstil die jeweilig aufspielende Band vertrat. Ist das der Status Quo? Alle finden ihr Publikum, es ist nur eben sehr klein? Oder kann man es sich in seiner wie auch immer gestalteten Nische richtig gut einrichten und unbehelligt, quasi wie nebenbei berühmt und erfolgreich werden? Dazu weiß Gudrun Gut, Labelchefin von Monika Enterprises, im Interview mit Christopher Strunz viel Erhellendes zu berichten – und dass es sich lohnt, den Schwerpunkt auf weibliche Künstler zu legen :-)

Weitere musikbezogene Texte: Sebastian Ingenhoff untersucht die verbliebene House-Szene, Gianni Düx erklärt die illustre finnische Indie-Popwelt, Christian Werthschulte schreibt über britischen Dub- und andere Steps, Torsten Nagel interviewt die niederländische Band The Ex, die seit über dreißig Jahren ihre eigene Nische bespielen. Außerdem: Stories über alternative Plattenläden, Prog-Rock, Tapes und Tape-Labels, die kanadische Independent-Szene und Freie Radiosender.


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  Christof Graf: Leonard Cohen. Titan der Worte
Christof Graf:
Leonard Cohen. Titan der Worte

edel, geb., 399 Seiten, € 24,95


Leonard Cohen. Titan der Worte

Ob es besonders treffend ist, Leonard Cohen, neben Bob Dylan der bedeutendste lebende Singer-/Songwriter, einen “Titan” zu nennen, sei dahingestellt. Fakt ist, dass Biograf Professor Doktor Christof Graf einen Hang zu schwergewichtigen Titeln hat, ein früheres Buch von ihm über Cohen heißt “Partisan der Liebe”. Jetzt also “Titan der Worte”, nun gut. Titanisch ist das Buch schon mal als solches, stolze 400 Seiten dick, mit vielen Fotos, umfassender Discographie und Übersetzungen der wichtigsten Songtexte. Graf, der an der Diploma Fachhochschule Nordhessen Medien und Wirtschaft unterrichtet, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Leonard Cohen, schrieb mehrere Bücher über ihn (“Partisan” ist nur eines davon), die sich zum großen Teil aus Interviews speisen, die Graf im Lauf der Zeit mit Cohen führte. Allein deshalb ist “Titan der Worte” ein facettenreiches Porträt des Künstlers, das über das musikalische und lyrische Schaffen Cohens weit hinausreicht. Graf erzählt die Geschichten hinter den Songs, skizziert Cohens Privat- und Liebesleben, wobei auch so manches kleine Skandälchen wie z.B. Cohens Zuneigung zu Sängerin Jennifer Warnes nicht ausgelassen wird. Pluspunkt: man erfährt nahezu alles über den 75-jährigen Musiker. Anders als in seinen vorherigen Büchern pickt sich Graf für “Titan” nicht bestimmte Stationen aus Cohens Leben heraus, sondern schreibt eine Gesamt-Biografie. Angefangen mit Cohens erster Karriere als Schriftsteller über seinen Rückzug in ein buddhistisches Kloster bis zu seinem Comeback und der erfolgreichen Welttournee während der Jahre 2008/09. Ebenfalls gut: Durch die vielen Interviewausschnitte liest man Leonard Cohen “in his own words”. Minuspunkt(e): Graf verbeißt sich in Details, kann schon im Einleitungskapitel nicht von Cohens Fedora-Hut lassen und gefällt sich als Schriftsteller manchmal ein bisschen zu sehr (was einer Biografie nicht unbedingt gut tut). Überdies geriert er sich als Cohens Vertrauter und ist sichtlich stolz auf die Fotos, die ihn mit Leonard zeigen (im Stile der Goldenea Blatt-Rubrik “Ich und mein Star”), was bei der Lektüre zu starkem Fremdschämen führt. Aber: who am I to judge, wer weiß, wie ich über Leonard Cohen schriebe, wäre ich schon mal Aufzug mit ihm gefahren.


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