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7. September 2009
Wolfgang Buchholz
für satt.org


* Sven Regener 2009

»Jammern
und Picheln
im Gartencafé«*

... oder auf’m Campingplatz:

Die diesjährige Sommerfrische geht an die Ostsee. Genauer gesagt an die Schlei, einer wunderschönen Ecke kurz vor Dänemark. Bekannt ist die Gegend durch ihre tolle, noch nicht so stark von Touristen überlaufene Natur - weniger durch angesagte Musikclubs. Aber auch hier muss der musikinteressierte Urlauber nicht auf Unterhaltung verzichten. An’ne Kiosk auf’m Campingplatz in Wackerballig (Name der Lokation rechtfertigt schon eine Konzertkritik) spielt Big Harry mit Band. Die Plakate versprechen außerdem noch Fassbier, Gegrilltes und Pommes. Ein solches Highlight der maritimen Subkultur darf man sich natürlich nicht entgehen lassen. Die Bühne ist ein Anhänger, davor ein kleines Festzelt, dessen Plane so weit nach unten hängt, dass man die Künstler nur ab der Brust abwärts sehen kann. Das Publikum ist so wie man es sich am Kiosk des Campingplatzes vorstellt – Jammern und Picheln am Bierpilz. Big Harry war wohl auch mal im Big Brother-Container und spielt Country zwischen Gunter Gabriel und Truck Stop. Zum Soundcheck gibt’s eine überraschend gelungene Version des Torfrock-Klassikers „Carola“. Dann startet der Gig mit Songs über Kähne, Trucks und einen alten Hanomag. Drei, vier Stücke müssen reichen, dann geht’s weiter zum Grillfest der örtlichen Feuerwehr, wo ab 21 Uhr auch noch DJ José auflegen soll. Aber da sitze ich schon mit einem Glas Wein und einem guten Buch auf der Terrasse unseres Urlaubsdomizils und genieße den lauen Sommerabend.

... oder beim Festival:

„Hot Summer in the City“ in Hamburg und das Dockville-Festival bietet an drei Tagen ein gelungenes Line-up zu einem überschaubaren Preis. Auf der Rückreise von der Ostsee schreit es quasi danach, hier einmal vorbeizuschauen. Ein Tag muss allerdings reichen und die meisten guten Bands – nach meinem Geschmack - spielen auch tatsächlich alle am Samstag.

Der Beginn ist aber dann ein einziges Ärgernis. Nur zweimal umsteigen mit der S-Bahn denkt der Konzertgänger, doch dann kommt noch der Shuttle-Bus. Zwei Busse stehen zwar bereit, doch sie fahren nicht, trotz immer länger werdender Schlange. Der Grund: Die Kassiererin für die zwei Euro Fahrtgeld ist noch nicht da. Eine gute halbe Stunde darf man in der prallen Sonne auf die verantwortliche Dame warten, bevor sich die Busse endlich bequemen. Sehr nettes und genügsames Publikum hier, denke ich und stelle mir vor, das wäre der Bus für Schalke-Fans zum Spiel in Dortmund...

Beim Einlass sieht’s dann nicht viel anders aus. Die Eintagesbändchen sind aus, also erst einmal wieder warten, wie auch dann später an den Getränkeständen, die hoffnungslos überlaufen sind und beschönigend gesagt von semiprofessionellen Servicekräften besetzt sind. Die Gefahr der Unterhopfung ist latent, wenigstens kann man sich abwechseln beim Anstehen und sich Ärgern. Damit aber genug gejammert, Musik gab’s ja auch und die war dann gar nicht schlecht.

Beat!Beat!Beat! ist die erste Zufallsbekanntschaft auf der Dorfbühne. Vier junge Jungs machen recht routiniert Artic-Maximo-Bloc-Chiefs-Musik. Ganz nett, aber wahrlich nicht innovativ. Dann ein kurzer Abstecher zur Hauptbühne, wo Wintersleep spielen. Die bieten gefälligen Indierock kanadischer Prägung. The Weakerthans klingen durch und auch Neil Young scheint den Jungs geläufig zu sein. Kann man in jedem Fall mal nach googeln. Dann der erste gezielt angesteuerte Gig: Locas in Love auf der Zeltbühne. Bei gefühlten 50 Grad spielen hier eine Dame und drei Herren in dunklen Anzügen und festgezurrten Krawatten – stylish aber schweißtreibend. Die Kölner Band hat sich in den letzen Jahren mächtig gemausert und bietet geschmackvollen Gitarrenpop mit putzigen Texten. „Ich war es nicht, es war Mabuse, er benutzte mein Gehirn“ oder „Du würdest viel lieber wie Moe Tucker spielen“ überzeugen sowohl sprachlich als auch musikalisch. Schon mal nett, dieser Gig.

Dann nochmal an der Bierbude anstehen, um zum Sonnenuntergang Element of Crime zu erleben. Von der Bühne direkt die untergehende Sonne im Blick ist die – finde ich - beste Bühnenbeleuchtung für ein Open Air-Konzert und passt hervorragend zu der entspannten Laid back-Musik von Element of Crime. Das Publikum, 15.000 sollen es gewesen sein, ist mit Sicherheit nicht das Element of Crime-Stammpublikum, wobei die Band auf breiten Konsens zwischen Oberstufenschüler und Endfünfziger-Studienrat stoßen dürfte. Sie spielt dann kein typisches Festivalprogramm, sondern acht der sechzehn dargebotenen Lieder sind vom im September erscheinenden neuen Album „Immer da wo du bist bin ich nie“. Ein Schlagzeuger, der sein Instrument zu streicheln scheint, eine englische Eiche am Bass, bewegungslos bis auf ab und an mal ein leichtes Zucken im Gesicht, ein Gitarrist mit einem wunderbaren, punktgenau eingesetzten Sound und natürlich Sven Regener: Sänger, Gitarrist, Trompeter, Becks-Trinker, Romantiker und Geschichtenerzähler. Verstärkt wird das Ensemble durch einen Geiger, der vorwiegend die neuen Lieder bereichert. Musikalisch klingen zwei, drei der neuen Songs etwas rumpliger als gewohnt, der Opener erinnert gar an die Doors. Bei den Texten ist wieder großes Amusement zu erwarten. Neben dem nach Herr Regener zitierten Titel dieses Beitrages sind weitere bahnbrechende Bonmots heraus zu hören. Beispiele: „Wo eben noch dein Auto stand, fegen alte Männer jetzt die Straße“ oder „Dass das Bier in deiner Hand alkoholfrei ist, ist ein Teil der Demonstration deiner Lebenssituation“. Wir freuen uns auf September.

Danach dann The Whitest Boy Alive, die mittlerweile so was wie handgemachte Housemusic spielen. War die erste Platte noch etwas eckiger, klingt Album Nummer zwei doch sehr nach Lounge-Musik. Für mich persönlich sind The Whitest Boy Alive eine der musikalischen Neuentdeckungen der letzten zwei Jahre, da sie einen sehr eigenen Stil praktizieren, eine Musik, die in dieser Besetzung üblicherweise so nicht gespielt wird. Der trockene Groove funktioniert auch auf der Festivalbühne. Ein frenetisch mitgehendes Publikum feiert die Vierercombo um den musikalischen Kopf Erlend Oye ausgiebig. Die Band hat sichtlich Spaß und feiert kräftig mit.

Ihr einziges Deutschlandkonzert in 2009 spielen MGMT zum Abschluss des Samstages beim Dockville-Festival auf der Hauptbühne. Eine gespannte Erwartung liegt in der Luft und kurz nach 23 Uhr betreten die fünf Musiker die Bühne. Musikalisch geht es recht hippieesque los und die Band sieht auch passend dazu aus. Die Musik ist hier ebenfalls recht handgemacht, ich hatte mehr Elektronikgefrickel erwartet. Recht bald hauen MGMT auch schon Hits wie „Weekend Wars“ oder „Time to Pretend“ raus. Auch hier feiern Tausende die Band euphorisch ab. Bei mir will der Funke aber nicht so recht überspringen. Nicht schlecht die Jungs, aber sie erreichen mich an diesem Abend nicht mehr. Das Ende muss ohne uns stattfinden – die Heimfahrt soll nicht so desaströs werden wie die Anreise, was auch gelingt. Alles in allem bietet das Dockville ein tolles Programm für überschaubares Geld. Bezüglich Organisation und Logistik gibt es allerdings noch gehöriges Optimierungspotenzial, das dürfte auch der Nicht-Fachmann gemerkt haben (kleine Seitenarabesque für Insider).

... oder in der Stadthalle:

Zurück in heimischen Gefilden geht es zur dritten Station der Sommereise. The Sweet in der Stadthalle Münster-Hiltrup. Hallo - ist der jetzt völlig durchgeknallt? Solche Oldiebands, in denen der verschwägerte Halbbruder der Frau des Lichtmixers das letzte verbliebene Originalmitglied ist, sind ja ganz übel und gehören höchstens auf’s Schützenfest in Castrop-Rauxel oder den Campingplatz in Wackerballig. Welcher seriöse Musikhörer geht denn da hin? Auch der Booker rät eindringlich ab. Aber was schert einen manchmal die musical correctness (mc), wenn altes Herzblut die Oberhand gewinnt. Ganz so leichtfertig sollte die Musikpolizei nicht den Stab über The Sweet brechen. Immerhin war das nicht nur meine erste Lieblingsband, sondern das gilt sicher nicht für wenige aus den geburtenstarken Jahrgängen der 60er Jahre. Schließlich ist mit Andy Scott auch noch der musikalische Kopf dabei und mit der aktuellen Besetzung schon seit 25 Jahren unterwegs. Sänger Brian Connolly hat leider schon vor vielen Jahren, wohl wegen leichtfertigen Umgangs mit Genussmitteln, das Zeitliche gesegnet und auch Drummer Mick Tucker ist tot. Knallheiß ist es vor und in der Stadthalle. Das Publikum passt zu einer Band, die in diesem Jahr 40-jähriges Bühnenjubiläum feiert. Studenten wird man hier heute nicht treffen. Gezapftes Pils in Gläsern ohne Schlange am Ausschank bedeutet schon mal einen Pluspunkt gegenüber Hamburg. Kurz nach 20.00 Uhr geht’s los. Na ja, über Bühnengebaren, Frisuren, Mitklatschorgien und die Notwendigkeit eines Schlagzeugsolos – geht gar nicht mehr – muss man sich nicht unterhalten. Wer einen Song erwartet, der neueren Datums als 1978 ist, wird auch enttäuscht. Amüsiert habe ich mich trotzdem. Originalgetreue Versionen der alten Kracher, insbesondere der hohe mehrstimmige Gesang kommt prima rüber und Riffs kann der alte Andy Scott einfach spielen, man nehme den Anfang von „Love is like Oxygene“. Und tolle Songs gibt es noch mehr zu hören: „The six teens“ und „Teenage Rampage“ sind einfach Knaller. Nach ca. achtzig Minuten ist das Spektakel vorbei und das letzte Urlaubsgeld für’s Picheln umgesetzt. Raus geht’s in die Gewitternacht, aber es besteht kein Grund zum Jammern.