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Oktober 2007
Robert Mießner
für satt.org

DISCO 3000
08

Der Norden leuchtet
Eric Dolphy "Stockholm Sessions"

Eric Dolphy
Foto: Enja



Eric Dolphy:
Stockholm Sessions

Enja (Soulfood Music) 2007

Eric Dolphy: Stockholm Sessions
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Unter all den brillanten Quälgeistern und Querspielern, die den Jazz in den Sechzigern durchrüttelten, war Eric Dolphy der Unskandalöse. Wenig Aufregendes und Anrüchiges ist aus seinem Leben überliefert. Er lauschte beim Üben den Vögeln und zog sich noch als gestandener Musiker gerne in die Garage zurück, die sein Vater, wie die Mutter Angehöriger der schwarzen Mittelschicht Los Angeles’, dem Sohn zum Übungsraum umgebaut hatte. Dolphy war Stipendiat der Southern California School Of Music, nahm klassischen Flötenunterricht und spielte in der Army-Band von Fort Lewis. Wenn sein langjähriger Chef und Förderer Charles Mingus das Publikum beschimpfte, wenn er es für angebracht hielt auch als Nazis, war Dolphy derjenige, der sich entschuldigte. Der einzige Skandal in seinem Leben war ein medizinischer: Er starb 1964 in Berlin an den Folgen eines Diabetes-Schocks. Die Krankheit war nicht richtig diagnostiziert worden. Dolphy, der sich zeitlebens von Alkohol und Drogen fern hielt, wurde 36 Jahre alt. So maßvoll er im Alltag auftrat, so kühn war er in der Musik. Auf Ornette Colemans Free Jazz, der Platte, die einen ganzen Stil ins Leben rufen sollte, ist Dolphy unüberhörbar zu vernehmen. Genauso auf John Coltranes Live! At the Village Vanguard. Und natürlich auf Mingus’ fulminanten Alben Pre-Bird und Mingus Mingus Mingus Mingus Mingus.

Der Altsaxofonist, Bassklarinettist und Flötist war mehr als ein begabter Sideman. 1960 veröffentlichte er unter Outward Bound sein erstes eigenes Album. Ein Jahrzehnt brach an, in dem Albumtitel die Programmatik dringlicher Transparente hatten. Looking Ahead und Other Aspects hieß das bei Dolphy. Und immer wieder wurde auf das Draußen verwiesen, das nur unterwegs zu erfahren ist. Wenn man die Tür aufstößt (er hätte sie vermutlich behutsam geöffnet) und auf die Straße tritt. Out There und Far Cry steht auf zwei anderen Platten. Schließlich Out To Lunch, Dolphys Opus Magnum. Alles Musik, die als "too out to be in, too in to be out" wurde. Dolphy schätzte Charlie Parker wie Arnold Schönberg, war musikalisch sowohl in der Neuen wie der Alten Welt zuhause. Er beherrschte die schrillen und die sanften Töne. Dass Avantgarde ohne Ahnen Gähnen und Kopfschmerzen verursacht, hätte er so nicht gesagt. Aber es ist exakt diese Falle, die Dolphy immer wieder erfolgreich umgehen konnte.

1961, ein Jahr, nachdem er als Leader debütierte, ging er auf seine erste Europatournee. Es fällt auf, dass für viele der Jazzerneuerer dieser Jahre der Besuch Skandinaviens fast schon obligatorisch gewesen sein muss. Ornette Coleman sollte im Herbst 1965 mit seinem Trio atemberaubende Konzerte in Kopenhagen und Stockholm (At The Golden Circle Vol. I & II) geben. Dolphy nahm in der schwedischen Hauptstadt gleich Material für ein ganzes Studioalbum auf. Am Klavier bestechen abwechselnd die Skandinavier Knud Jörgensen und Rune Öfwerman. Sture Kallin, auch ein Nordlicht, bedient das Schlagzeug. Für Trompete und Bass sorgen die US-Exilanten Idrees Sulieman und Jimmy Woode. Zickig, zornig fast klingt die Band im Opener Les. G.W. lässt an eine Rush Hour am Rande des Chaos denken. Der weitaus größte Teil der Stockholm Sessions ist dann aber weit und offen wie der Himmel über der Nordsee. Der Standard Don’t Blame Me wird in ein zwölf Minuten kurzes Epos verwandelt. Mal Waldrons Left Alone greift, ich habe keine Hemmungen, das zu schreiben, ans Herz. Mittendrin dann Billy Holidays God Bless The Child: Dolphy spielt es verästelt, ohne den Faden zu verlieren, solo auf der Bassklarinette. Dem Instrument, das erst er für den Jazz respektabel machte. Die Stockholm Sessions wurden 1981 von der Deutschen Phono-Akademie zum Jazz-Album des Jahres gekürt. Seit Mai diesen Jahres liegt es als überarbeitete Wiederveröffentlichung, restauriert von den originalen Analogaufnahmen, vor. Eine Platte voller Klarheit und Licht.