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September 2007
Christina Mohr
für satt.org

Brockdorff Klanglabor:
Mädchenmusik

Experiment und Vermischung

Brockdorff Klanglabor:
Mädchenmusik

(ZickZack/WSFA)

Brockdorff Klanglabor: Mädchenmusik
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Brockdorff Klanglabor – das sind Nadja von Brockdorff, Sergej Klang und Ekki Labor aus Leipzig, die seit Ende der 90er Jahre als Performancegruppe, seit 2003 als Popband gemeinsame Sache machen. Nach gefeierten Auftritten im Vorprogramm von Knarf Rellöm und als Hauptact erregten sie die Aufmerksamkeit von Alfred Hilsberg, der sie ohne Umschweife für sein Label verpflichten konnte – und wohin könnte das BKL besser passen als in die unmittelbare Nachbarschaft von Jens Friebe, Knarf Rellöm und DJ Patex? Die BKL-Musik setzt sich aus liebevollen 80er-Zitaten, kühnem Elektropop, beherzten Discobeats und klugen, anspruchsvollen Texten zusammen. Peaches und Nietzsche können im selben Text auftauchen und ergeben mehr Sinn als manche Doktorarbeit. Auf dem Debütalbum mit dem wunderbaren Titel „Mädchenmusik“ (bezieht sich auf eine Platte von Baxendale) sind so viele Hits, das einem ganz schwindlig werden kann vor Begeisterung: sei es der sanfte Discohit „Frohe Schritte“, mit dem die Platte eröffnet wird, das nightclubaffine „Stehaufmann“, die supercoole Coverversion von „Some Girls Are Bigger Than Others“ oder das Baxendale-Cover und Titelstück „Mädchenmusik“, bei dem Jens Friebe mitsingt. Augenzwinkernd, aber niemals albern zeigt das BKL, was in Sachen Pop aus Deutschland alles möglich ist – erfreulicherweise auch möglich war folgendes E-Mail-Interview mit Nadja von Brockdorff und Sergej Klang für satt.org:

Brockdorff Klanglabor

CM: Was ist das für ein Gedicht/Auszug am Anfang von "Frohe Schritte"?

Sergej: Das ist ein Text von Max Ernst. Das Zitat stammt aus einer Radio-Sendung.

CM: Wie alt seid Ihr - keine Angst, das wird kein Verhör, mich würde nur interessieren, ob und wie die NDW-Zitate in Eurer Musik und Texten (" …im Zentrum meiner Ironie …") zu verorten sind. Als Reminiszenz, als Nostalgie …

Nadja: Wir sind zwischen 30 und 33 Jahren. Unsere Musik und Texte zeichnen sich klar durch Zitathaftigkeit aus, allerdings in viel breiteren Rahmen als die Musik der 80er aus Westdeutschland. NDW ist eine von vielen Referenzen.
Das von dir ausgewählte Zitat bezieht sich aber nicht auf die NDW. Der ganze Song "Breakfast for Cyborgs" ist inspiriert von Donna Harraway's "Cyborg Manifesto" - in der sie z.B. auch Ironie als politische Strategie beschreibt. Der Text ist von Ende der 80er. Keine Nostalgie. Schon gar nicht zur NDW, da waren wir noch zu jung und im anderen Teil Deutschlands, um das miterlebt zu haben und dem sehnsüchtig nachzuhängen.

Sergej: Einige Sachen, wie Depeche Mode oder Morrissey, hab ich in den 80ern tatsächlich gehört, das ist schon meine musikalische Sozialisation. Die NDW kennen wir aber selbst nur aus zweiter Hand. Ich kann mich beispielsweise erinnern, dass es bei uns in der Thüringer Provinz bereits in den späten 80ern ein Revival der frühen 80er und der NDW gab. Also Sachen wie Yazoo, Gary Numan, Hubert Kah oder Fehlfarben waren 1989 wieder total angesagt … da hab ich eigentlich die ganzen NDW-Sachen erst kennengelernt. Witzigerweise war auch die erste Schallplatte, die ich mir im "Westen" 1990 kaufte, eine NDW-Compilation von 1981 … Die Zitate in unserer Musik haben aber nichts mit Nostalgie zu tun. Es sind bewußte Referenzen, die inhaltlich oder ästhetisch zum Song oder zum Album paßten. Es gab aber keinen systematischen Auswahlprozeß. Für uns ist das einfach Material, mit dem wir arbeiten.

CM: Wie wichtig ist Euch "Künstlichkeit" und Inszenierung? - ich meine z.B. eure Alias-Namen - Knarf Rellöm sagte mal, Authentizität sei was für Teenager, also für eine Zeit, in der man sich nach verlässlichen Dingen sehnt. Wie ist das bei Euch?

Sergej: Das ist eine sehr interessante Idee von Knarf. Inszenierung spielt auf jeden Fall eine Rolle. Jeder, der ein bißchen nachdenkt, merkt doch, dass es keine wirkliche Authentizität im Musikbusiness gibt … Und der vermeintlich authentische Musiker, der sagt, was er denkt und sich nicht korrumpieren läßt, ist am Ende eben auch wieder ein Image. Vor einem Mikro oder auf einer Bühne verhält man sich nicht "natürlich". Dann doch gleich eine gute Inszenierung. Wir finden die Überzeichnung und Verfremdung gut.

Nadja: Die Pseudonyme sind eher ein Spiel, eine Einladung an die Zuschauer, das Ganze nicht als bierernste Veranstaltung wahrzunehmen und es soll auch ein wenig verwirren. Ausserdem hat es Spass gemacht vor Jahren, sich diese verschiedenen Figuren "aufzuziehen". Diese Namen sind nicht als Produkt langer theoretischer Auseinandersetzung zu sehen. Wir haben keine klassische "Band" sein wollen - mit fester Besetzung und Hierarchien und dem einen Ziel - Ruhm. Das BKL war lange eine Art Kunst- und Veranstaltungsprojekt. Dazu passten diese Namen fantastisch. Dass wir die Pseudonyme beibehalten, ist auch ein kleiner Tribut an unsere langjährige Geschichte als "Kultur"projekt.

CM: Euer Bandname drückt eine eher kühle, durchdachte Herangehensweise an Musik aus - ist das mit dem Labor auch so gemeint?

Sergej: Der Name war eher ein Zufallsprodukt. Wenngleich die Idee von Labor und Experiment am Anfang eine große Rolle spielte. Durchdacht ist unsere Herangehensweise sicher, aber nicht kühl. Wir sind nicht Kraftwerk. Die Emotion, die Aussage, der Ausdruck stehen definitiv im Mittelpunkt … Bei der Arbeit an der Musik, den Sounds und dem Text erreicht man allerdings zwangsläufig eine gewisse Abstraktionsstufe. Die Kunst ist, von da wieder zur ursprünglichen Emotion zurückfinden …

Nadja: Das Labor steht ja auch für Vermischung. Unser Ideal ist eher die Vermischung von Arbeitsweisen. Die meisten Songs sind im Laufe ihrer Produktion so viel bedacht und bearbeitet wurden, dass es schon treffend ist. Aber um wirklich etwas fertig zu stellen, brauchen wir den intuitiven Impuls. Das Gefühl und eine rein geschmacklich und bestenfalls spontane Entscheidung. Wahrscheinlich wirkt für die Hörer auch das Referenzielle in den Texten und Musik sehr "durchdacht". Sowohl Sergej als auch ich haben uns mit Fragen von Kultur - und Musikgeschichte auch theoretisch beschäftigt. Aber die Songs entstehen nie auf dem Reißbrett - dazu sind wir viel zu emotional und verhandeln auch sehr emotionale und persönliche Themen. Wichtig ist also die Vermischung und das Experimentieren.

CM: Spielt Ihr gern live oder bastelt Ihr lieber im Studio vor Euch hin?

Nadja: Wir basteln gern herum, im Studio und im Proberaum. Zumindest haben wir da im Moment große Lust drauf. Live spielen ist auch eine große Freude aber aktuell haben wir mehr Lust auf neue Songs und das Herumprobieren. Das passiert doch eher im Proberaum und "Heimstudio".

CM: Wie wichtig ist Leipzig für Euch als Homebase? Ich kenne Leipzig von der Buch- und der Popup-Messe und bin immer wieder erstaunt, was in dieser Stadt alles passiert, obwohl es ja keine Metropole ist wie Berlin oder Hamburg.

Nadja: Das ist eine sehr komplexe Frage. Die Leerstellen, die sich nach der Wende in Form von Orten und Möglichkeiten in dieser Stadt ergeben haben, waren schon entscheidend. Wie auch das Gefühl - wir wollen etwas HIER tun. Hier feiern, Musik machen, etc. und nicht weggehen. Das war ein wichtiger Impuls. Es gibt eine Menge an Musik und Kunst in unserer Stadt, aber keine echte Einbindung in eine deutschlandweite und eher Berlin- & „west“-orientierte Musiklandschaft. Zum Beispiel sind hier keine größeren Labels. Keine Aufmerksamkeit und Energiefelder, die in einer Szene entstehen und in die viel Medieninteresse fliesst, wenn Bands kommerziell oder künstlerisch erfolgreich sind. Hier passiert viel, aber leider verläßt vieles davon nicht die Grenzen dieser Stadt. Für uns war es entscheidend, uns auch aus Leipzig hinaus zu orientieren und Kontakte nach Berlin und Hamburg aufzubauen. Die sind leider für den Indiebereich "lebensnotwendig".

CM: Wie wichtig ist MySpace für Euch?

Sergej: Myspace ist, wie das ganze Internet, Fluch und Segen zugleich. Es hat uns definitiv genützt. Wir haben viele Kontakte über myspace hergestellt. Es ist auch viel einfacher, Kontakte zu halten. Networking ist heutzutage im Musikbereich wichtiger denn je, gerade für noch nicht so bekannte Bands … es ist möglicherweise der entscheidende Schlüssel, um über die Stadtgrenzen hinaus wahrgenommen zu werden.

Nadja: Ja, es hat uns viele Kontakte verschafft zu anderen Musikern, Veranstaltern, Remixern - sehr gut! Wirklich wichtig!
Ausserdem ist es wirklich ein Faktor, der motiviert - die vielen begeisterten Kommentare, die Nachfragen und der Zuspruch. Gerade im letzten Jahr mussten wir viel Geduld aufbringen und eine Menge aushalten. Da war myspace wie eine kleine Oase, beziehungsweise einfach gut und motivierend. Ansonsten merken wir jetzt, wieviel Arbeit es auch macht, immer dran zu bleiben.

Sergej: Myspace frißt auch ungeheuer viel Zeit und kann einen schon versklaven … da muß man sich sehr disziplinieren, sonst kommt man gar nicht mehr zum Musikmachen. Ich glaube - ehrlich gesagt - auch diese ganzen Märchen von myspace-Bands nicht … also, dass Bands Plattenverträge bekommen, weil sie 10tausende plays hatten … da gehört schon mehr dazu und eine Menge Arbeit drumherum … manche Bands denken, sie können jetzt nur auf diese Karte setzen und adden wie verrückt Freunde … das funktioniert nicht so einfach … Wenn das so wäre, müßten wir längst einen myspace-Hit haben ;-).

CM: Ausser anderen Bands und Musikern nennt Ihr auf Eurer MySpace-Seite auch Schriftsteller, Theatermacher, Regisseure als Einflüsse - seht Ihr Euch in erster Linie als Musiker oder Künstler (ok, das ist keine wirkliche Unterscheidung, ich hoffe, du weisst, was ich meine)

Nadja: Wir verorten uns selbst im Rahmen der "Popkultur", im Sinne von cultural studies. Wir verstehen uns eher als Kulturschaffende und da sind wir Produzierende & Mitgestaltende wie auch Konsumierende. Ich habe keine Idee, wo wir da eine Grenze ziehen sollen. Schwierige Frage, aber wir sind keine klassischen Mucker, die besonderes Augenmerk auf Fingerfertigkeit und Handwerk legen, falls du das meinst.

Sergej: Ende des 19. Jahrhunderts hätte man uns vielleicht Künstler genannt. Aber die Idee von Kunst und Avantgarde, die aus dieser Zeit stammt und noch heute Gültigkeit besitzt, lehnen wir ab. Wo ist die Grenze, wo fängt Kunst an, wo hört das Leben auf? … Aber um dennoch eine Art Antwort zu geben: wir sehen uns tatsächlich nicht nur als Musiker. BKL ist ja aus einer schrägen Peformance-Gruppe hervorgegangen. Und auch wenn zu bestimmten Zeiten bestimmte Ausdrucksformen dominieren, BKL war und ist mehr als Musik. Die Popsongs sind eine Seite von Brockdorff - das ist nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs ;-).

CM: Wie kommt es zu Kooperationen, z.B. mit Jens Friebe, Knarf Rellöm und JD Patex, die auf eurem Album als Gastsänger auftauchen?

Sergej: Wir kennen alle drei ganz gut. Haben uns bei Konzerten kennen gelernt, beziehungsweise im Falle von Jens Friebe bei einem Interview, das ich mal mit ihm für die Persona Non Grata gemacht habe. Jens fand unser Demo gut. Und hat auch Alfred Hilsberg, dem Chef von unserem Label ZickZack, einen Tip gegeben … dann haben wir auf Jens' Tour als Vorband gespielt, ja und uns immer besser kennen gelernt

Nadja: Jens hatte uns ganz konkret gefragt, ob wir die Coverversion zu dem Baxendale-Stück "Music for Girls" mit ihm machen. Bei Knarf haben wir mal im Vorprogramm gespielt, es war ein für uns fast legendärer Abend - im Waschhaus - Alfred Hilsberg ist gekommen, Jens Friebe war da als Gast und wir waren Vorband von Knarf Rellöm. Der hat dann spontan beim „Stehaufmann“ live mitgesungen und als wir später im Studio diesen Song aufgenommen haben, dachten wir, das wär doch toll, wenn er und Patex da mitmachen. Es ist ja auch eine Haltung von Knarf und auch von uns, sich gegenseitig zu unterstützen. Da haben wir Knarf & Patex gefragt und die haben spontan 'ja' gesagt, improvisiert und eingesungen. Toll! Ausserdem sind wir, wie du sicher weißt, auf einem gemeinsamen Label – ZickZack! Und wir schätzen alle drei sehr als Musiker und Songwriter!

CM: Euer Albumtitel "Mädchenmusik" hat mich sofort begeistert - ich musste an einen Schulfreund denken, der Bands wie die Pixies oder Phillip Boa etwas verächtlich als "Mädchenmusik" oder "12.-Klässlerinnenmusik" bezeichnet hat. Wie kamt Ihr auf den Titel?

Sergej: Zunächst war das ja der Name des Songs, also unserer Version des Baxendale-Stücks "Music for girls". Wir fanden das irgendwann super als Albumtitel, in seiner ganzen plakativen und provokanten Pracht. Im Song "Mädchenmusik" geht es ja auch um diese Typen, die offensichtlich glauben, nur bestimmte Formen des Rock sind wahre, authentische Musik. Und Pop ist Plastik, Fake, Kommerz und rosa Brille. Diese Sichtweise ist ja leider nach wie vor verbreitet. Dem wird eine Idee von schwelgerischer, opulenter Popmusik gegenübergestellt, die von Glück genauso wie vom Scheitern und von Ängsten handelt. "Dancing with tears in my eyes" bringt es ganz gut auf den Punkt. Das ist natürlich eine sehr enge Sichtweise und nicht ganz ernst gemeint. Es soll eher eine Frage sein, als eine Antwort.

Nadja: Dieser Dichotomie von Rock und Pop steht in dem Song ebenso die Genderthematik gegenüber. Emotionalität, Ausagieren von Gefühlen, Irrsinn und Unsinn wird eher mit dem Weiblichen, mit "Mädchen" assoziiert. Es geht uns aber nicht darum, diese Stereotypen festzuschreiben, sondern sie zu reizen, zu provozieren. Das hat etwas Spielerisches.
Insgesamt sind das alles sehr wichtige Themen für uns - in der Auseinandersetzung mit unserer Musik als auch generell.

CM: Welcher Song ging Euch am leichtesten von der Hand, welcher ist der Schwierigste?

Video zu „Frohe Schritte“


Nadja: Ich würde sagen, am leichtesten war "Some Girls Are Bigger Than Others" - das ging alles sehr spontan und fast wie von allein - Sergej hat das Stück bearbeitet, ich habe drauf gesungen. Es ist einfacher, wenn das Stück im Original nicht von uns ist. Schwierig war zum Beispiel ein so komplexer Song wie "Vergessen". Und „Frohe Schritte“ hat endlose Überarbeitungen erfahren, gerade weil so viele Leute dieses Stück so geliebt haben und schnell klar war, das wird eine „Single-Auskopplung“.

CM: Und wenn es ab morgen keinen Strom mehr gäbe, was würdet Ihr tun?

Sergej: Man würde natürlich auch irgendwie leben, nachdem es sicher erstmal totalen Ausnahmezustand gibt. Die Prioritäten würden sich so grundlegend verschieben. Keine Ahnung, ob wir da auch noch Musik machen würden … das würde natürlich auch ohne Strom gehen … Schon verrückt, die Vorstellung. Manchmal denke ich, vielleicht würde man freier und bewußter leben. Aber das ist irgendwie auch wieder so eine verklärte, abendländische Idee … the noble savage.

Nadja: Es würde unser Leben so grundlegend verändern, dass ich dir darauf nicht einfach so antworten kann. Wenn du das in Bezug auf die Musik meinst - wir würden Stimme, Gitarre, Hände, Rohre, Töpfe und sonstiges Schlagwerk nehmen … Song bleibt Song. Es kann immer funktionieren und Spass machen.



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