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Mai 2007
Christina Mohr
für satt.org

Electronicat: Chez toi


Electronicat: Chez toi
(Disko B 2007)

Electronicat: Chez toi
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„Chez Toi“, das neue Album des französischstämmigen Elektronik-Rock'n'Rollers Electronicat a.k.a. Fred Bigot beginnt mit einem fiesen Zischen: „Du Vent“, erster Track der neuen Platte macht unmissverständlich klar, dass Bigot/Cat seine Soundexperimente noch weiter getrieben hat, seine Mixtur aus Elektro, Rock'n'Roll, Psychedelia und Rockabilly ein Originalitäts-Level erreicht hat, das durch die Vorgängeralben „21st Century Boy“ und „Voodoo Man“ vorbereitet wurde und nun mit „Chez Toi“ zur Perfektion gereift ist. Virtuos und unerschrocken arbeitet Electronicat mit Gitarre, Drones, Noise- und Industrial-Versatzstücken, die Tracks klingen mal krachend und scheppernd wie direkt aus der U-Bahn-Unterführung, mal unheimlich wie aus einem David-Lynch-Film, über allem schwebt der Geist des Rock'n'Roll. Wer vor zwei Jahren Electronicats denkwürdigen Auftritt im Leipziger Club Ilses Erika miterleben durfte, wird sich noch gut an den verzweifelten Mixer erinnnern, der ständig die Maschinen leiser drehen wollte. Electronicat hingegen verlangte nach mehr Hall, mehr Saft, mehr Lautstärke – wenn Bigot die Gitarrensounds durch den Verstärker jagt, flattern dem Publikum die Hosen, der Sound wird zur körperlichen Erfahrung.

Auf „Chez Toi“ wird das Electronicat-Repertoire durch HipHop- und Rap-Einsprengsel erweitert („Je pleure, j'ai peur“, „Nu Day“), bei „Pancake Lady“ erklingen zu einem pulsierenden Technobeat Bongos und Gitarren, ganz weit hinten sind Gesangsfetzen auszumachen, der Track entwickelt sich zu einem entfesselten Dance-Shuffle mit hypnotischer Wirkung. „The Delphins“ klingt spartanisch-trocken, ein reduzierter Beat muss bratzenden Elektronika trotzen …Electronicats bewährte Kollaborateurin Miss le Bomb leiht verschiedenen Tracks ihre Stimme, besonders eindrucksvoll bei „Lost Gigabyte“, einem rasanten Lovesong. Electronicats neue Platte ist ein faszinierender, atemlos machender Trip durch Beat, Rock und Technik, der mit Verve beweist, dass zusammengeht, was oberflächlich betrachtet nicht zusammenpasst. satt.org hat Fred Bigot/Electronicat ein paar Fragen gestellt:

CM: Warum und wann hast du dich entschieden, als Solokünstler aufzutreten?


Electronicat Live:
11.05.07 Leipzig, Ilse Erika
12.05.07 Berlin, HAU2
25.05.07 Kiel, Weltruf
01.06.07 Köln, Gewölbe

FB: Als ich meine ersten Shows gemacht habe, arbeitete ich mit der Multimediakünstlerin Cécile Babiole zusammen, das war von 1998 bis 2000. Während dieser Zeit war Electronicat eine Bild- und Soundperformance. Ich verwendete ausschliesslich elektronische Instrumente, eine Drummachine, einen Sampler … als ich anfing, Vocals und „echte“ Instrumente wie Gitarren zu verwenden und die Musik etwas unkontrollierbarer wurde, ergab es keinen Sinn mehr, Visuals zu benutzen. Die Performance selbst reichte aus.
Aber im Übrigen bin ich nicht die ganze Zeit als Soloartist unterwegs, einige Special Guests tauchen hier und da immer wieder auf, zum Beispiel Magas, Adult, Felix Kubin, Catriona Shaw a.k.a. Miss le Bomb, G. Rizo …

CM: Ist „Electronicat“ eine Art Superman-Persona für dich? Gibt es Dinge, die Electronicat tun kann und Fred Bigot nicht? Oder umgekehrt?

FB: Electronicat ist nur ein Spitzname, Fred Bigot und Electronicat sind eine Person. Manche Leute kennen mich besser als FB, manche mehr als Electronicat. Electronicat ist ein Projekt mit einem bestimmten Sound, einer Stimme, einer Haltung – es beschäftigt sich mit der Welt der Popmusik.

CM: Glaubst du, dass die elektronische Musik die Rockmusik „befreit“ hat? Liefert die Technik mehr Möglichkeiten oder schränkt sie gar eher ein?

FB: Ich glaube, dass elektronische Musik immer in enger Beziehung zum Rock stand, mehr oder weniger ….denk' nur mal an Elvis: niemand würde seine Musik als elektronische Musik bezeichnen, aber auf gewisse Weise ist sie das. Schon allein durch die Verwendung elektrischer Gitarren, die Elektronik in ihrem Inneren haben, dazu kommen die Mikrofone, Mixgeräte, Aufnahmegeräte, Tonabnehmer, Lautsprecher … Schon in den sechziger Jahren haben Bands wie die Silver Apples oder White Noise Elektronik und Rock vermischt. Die Musiker der Sechziger waren ohnehin sehr experimentierfreudig! Alles war es wert, benutzt zu werden: Gitarren, seltsame neue elektronische Apparate, der Moog- und der Buchla-Synthesizer, das Theremin, Tapes, elektronische Orgeln, alles mögliche. Ich bin in den späten Sechzigern geboren, daher habe ich wahrscheinlich den Virus: Rock'n'Roll und elektronische Psychedelia sind in meiner DNA verankert.

CM: Ich habe den Eindruck, dass Elektro-Musiker mehr Networking betreiben als andere Bands: es gibt einen regen Austausch im Studio aber auch live – stimmt das?

Electronicat: Chez toi, Recordreleaseparty, 12. Mai 2007, Berlin, HAU2

FB: Nein, das glaube ich nicht. Ich tausche mich gern mit Musikern aus, die mich inspirieren, nehme mit ihnen Platten auf, gehe mit ihnen auf die Bühne oder diskutiere mit ihnen. Aber das ist ja nichts neues. Es kümmert mich nicht, wie Musiker genannt oder „gelabelt“ werden, ob „elektronische Musiker“, „Neue Musik“, „zeitgenössische Musiker“, „Rockmusiker“, „schlechte Musiker“ - für mich ist das alles unbedeutend. Entweder du bist inspirierend oder langweilig!

CM: Welches ist dein Lieblingsinstrument?

FB: Die elektrische Gitarre. Sie ist ein sehr spontanes Instrument, das dir unbeschränkte Möglichkeiten bietet. Wenn du weisst, wie man sie richtig spielt – auf einfache Weise wie in den Anfangstagen, oder wie Neil Young oder Sonic Youth oder oder oder … Du weisst einfach, dass ihre Frequenzspanne, ihr Sound immer laut und aufregend sein werden, und konservative Menschen sich immer gestört fühlen werden! Laut mit einem Gitarrenverstärker zu spielen, wird niemals in einem Restaurant oder einem Lounge-Café akzeptiert werden … das ist ganz weit weg von der Buddha Bar. Die elektrische Gitarre verkörpert Liebe und Rebellion.

CM: Gibt es ein bestimmtes Lied oder eine Platte, die dich so begeistert hat, dass du selbst Musiker werden wolltest?

FB: "Old Man" von Neil Young. Mein älterer Bruder besass die Platte, ich war damals 11 oder 12 Jahre alt. Ich mochte den Zauber der Gitarrenakkorde am Anfang des Songs, bevor der Gesang einsetzt. Klassische Musik hat mich nie wirklich interessiert, ich würde lügen, würde ich behaupten, dass ich sie mag. Klassische Musik erinnert mich an die Sahnetorten meiner Tante, die ich nicht essen wollte, aber weil ich ein netter Junge sein sollte, musste ich sie trotzdem essen.

CM: Was wärst du, wenn du kein Musiker wärst?

FB: Ein Schriftsteller. Iggy Pop sagte mal in der berühmten Pariser Radiosendung Nova: „Die Zukunft gehört dem Buch, dem Lesen.“

CM: Manche Songs von deinem neuen Album klingen für mich ein bisschen wie Alien Sex Fiend, ohne deren Kaputtheit – wolltest du einen solchen Klang erreichen?

FB: Nein. Ich versuche niemals, wie jemand anderes zu klingen. Also, wenn Journalisten sagen, ich bin ein „Update“ von Suicide, dann haben sie einerseits recht, liegen andererseits aber auch falsch. Wenn ich meine Songs produziere, denke ich schon über die Musik nach, die ich mag. Aber die Originalität kommt durch den Umstand, dass ich die Musik, die ich liebe, nicht kopiere. Auch wenn ich ein Stück schreibe, das von T. Rex inspiriert ist, verwende ich beispielsweise kein echtes Schlagzeug, noch nicht mal eine echte Gitarre und ich singe ohne Tremolo in der Stimme. Es geht darum, über das hinauszugehen, was mir gefällt. Ich suche immer nach einem einzigartigen Sound, den man so noch nie gehört hat.

CM: Welches ist dein persönliches Lieblingsstück vom neuen Album?

FB: „Nu Day“. Es ist ein bisschen anders als die anderen, es hat zwei Teile: einer ist französisch, der andere englisch. Ich wusste wirklich nichts über diesen „Nu Rave“-Hype, obwohl ich mich an den „second summer of love“ erinnerte, als ich „Nu Day“ schrieb. All diese Songs, zu denen ich als Teenager tanzte, Acid Track, Marrs, Mark Moore … die Sachen liebe ich immer noch. „Nu“ heisst auf französisch „nackt“/“naked“, „Tag“/“day“ heisst „jour“ - ich werde ein neues Stück machen, das „Naked Jour“ heissen wird.

CM: Welcher Song war der schwierigste?

FB: „Chez toi“- obwohl der Song so einfach klingt. Ich habe verschiedene Varianten ausprobiert, bis ich schlussendlich doch wieder zur ersten Idee zurückkehrte.

CM: Welcher Song ist der Electronicat-typischste?

FB: „She's a Queen“ ist die typische Electronicat-Mixtur oder -Erfahrung: tiefer Bass, Noise, Melodie, Repetition, Psychedelik …

CM: Was hat sich – musikalisch oder produktionstechnisch – seit deiner letzten Platte „Voodoo Man“ verändert?

FB: "Chez Toi" ist der Versuch, etwas zu erreichen, das ich „spontane Musik“ nenne. Die meisten Aufnahmen entstanden in einem Take, für die Bearbeitung wurde nur sehr wenig Zeit aufgewendet.

CM: Wenn du einen Filmsoundtrack schreiben solltest – was für ein Film würde das sein?

FB: Ein phantastischer Film, mit vielen ungewöhnlichen Horror- und Psychedelikeffekten. Und ich würde den Sound über Gitarrenverstärker kommen lassen, nicht über das konventionelle Sound-Surround-System.

CM: Du lebst und arbeitest zur Zeit in Berlin – was gefällt dir an dieser Stadt so gut?

FB: Ich habe mehr als 12 Jahre in Paris gelebt, in Frankreich insgesamt noch viel länger …Umziehen, Sich-Bewegen ist gut für meine Kreativität.
In Berlin ist immer Party – man kann häufig auftreten, wenn man das will und man kann jede Menge Konzerte besuchen. Die Musik-Community ist sehr offen, definitiv viel weniger arrogant als in Paris. Es gibt Platz für alle, die Mieten sind immer noch billig; ständig werden neue Konzertorte, Kunstgalerien, Clubs eröffnet …. Ich mag Berlin, ich habe viele Freunde dort. Manchmal ist mir die Stimmung allerdings ein bisschen zu entspannt, es scheint, als gäbe es keine Notwendigkeit für irgendwas. Das liegt vielleicht an der niedrigen Einwohnerdichte pro Quadratmeter – ich vermisse den konstanten Menschenstrom, den vielzitierten „melting pot“, den man aus Paris, London, New York oder asiatischen Städten wie Hong Kong oder Tokyo kennt. Vielleicht ziehe ich irgendwann wieder um. Ich bin ein „wandering man.“



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