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März 2007
Christina Mohr
für satt.org

Kerstin Grether: Zungenkuss.
Du nennst es Kosmetik, ich nenn es Rock'n'Roll

Pop-Feminismus

Kerstin Grether:
Zungenkuss.

Du nennst es Kosmetik,
ich nenn es Rock'n'Roll
Suhrkamp 2007

Kerstin Grether: Zungenkuss. Du nennst es Kosmetik, ich nenn es Rock'n'Roll

372 S., EUR 10,00
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Oh, wie dringend nötig und längst fällig war dieses Buch! Druckwerke, in denen die popmusikalische Sozialisation aus männlicher Sicht dargestellt wird, gibt es schliesslich wie Sand am Meer. Nick Hornby hat in seinen mittlerweile zu Klassikern avancierten Romanen wie „High Fidelity“ den typischen Popfan für alle Zeiten als nicht-altern-wollenden, meistens weissen, männlichen Nerd charakterisiert. Und auch der Popjournalismus wird bis heute von schreibenden Männern dominiert, um das zu überprüfen, braucht man nur in das Impressum eines beliebigen Musikmagazins zu schauen. Wer wissen will „what it feels like for a girl“ muss schon etwas genauer hinsehen, sich auf die Suche begeben. Klar, es gibt sie, Pinky Rose, Christiane Rösinger, Elke Buhr, Sonja Eismann und viele andere. Aber woran liegt es, dass das Schreiben über und das Leben mit Pop doch so überwiegend in männlicher Hand ist? Wollen die Mädchen nichts mit Popmusik zu tun haben? Genügt ihnen die Plattensammlung des Freundes, aus der sie ab und zu mal was ausleihen dürfen? Oder lassen die Jungs sie nicht auf ihr sorgsam abgestecktes Terrain? Für „Zungenkuss“-Autorin Kerstin Grether, heute 31, hat es ein Leben ohne Popmusik nie gegeben. Und die Frage, ob Pop für sie irgendwann bedeutungslos sein könnte – wie es bei so vielen „vernünftigen“ Frauen der Fall ist – wird sie sich, da bin ich sicher, nie ernsthaft stellen.

Sie wusste schon 1995, also mit 20, dass es Jahrzehnte dauern wird, bis wieder gut gemacht ist, was „lüsterne SWF-3-Moderatoren seit 30 Jahren in ihren zungenschnalzend-abwertenden Reden über 'Disco-Miezen' und 'Kuschel-Mäuse' angerichtet haben ( …)“ Es gibt also noch einiges zu tun und klarzustellen, bis Pop nicht mehr nur ausschliesslich mit dem männlichen Artikel dekliniert werden wird. Kerstin Grether selbst hat schon früh mit der popjournalistischen Arbeit angefangen und kann heute auf ein umfangreiches Werk zurückblicken. Mit 15 begann sie, gemeinsam mit Schwester Sandra, in ihrem badischen Heimatort ein Fanzine zusammenzustellen, ab Mitte der Neunziger schrieb Kerstin regelmässig für die Spex und bestimmte inhaltlich und stilistisch popkulturelle Diskussionen massgeblich mit. All die Themen, die Grether vor 10, 15 Jahren in der Spex behandelte (Frauen in Pop und Gesellschaft, Essstörungen, Bohemeleben und Armut), sind heute selbstverständliche Bestandteile des etablierten Feuilletons. But the little Girls understand …

Kerstin Grether, Foto: Sibylle Fendt
Kerstin Grether
Foto: Sibylle Fendt

Ab 2000 schrieb Kerstin Grether für Intro, 2004 wurde ihr erster Roman „Zuckerbabys“ veröffentlicht. In „Zungenkuss“ sind ihre Texte für Spex, Intro und andere Magazine aus den Jahren 1991 bis 2006 versammelt. Die älteren wurden von Kerstin liebevoll restauriert, in Duktus und Aussage aber belassen, wie sie einst erschienen. Die Zusammenstellung und Verknüpfung der Texte ergibt – um hier mal Blumfeld zu zitieren, die in Kerstins Popkosmos einen wichtigen Platz einnehmen – „eine eigene Geschichte, aus reinster Gegenwart.“

„Zungenkuss“ kann als Doku-History über 15 Jahre Popmusik und gleichzeitig als Autobiographie gelesen werden. Grether bezieht musikalische Phänomene auf das eigene Leben, behandelt neben dem eigentlichen Objekt – der betreffenden Band, Platte, Tournee – stets Persönliches. Es geht immer um mehr als „nur“ Musik, private und gesellschaftliche Bezüge bilden den Reflexionsboden für die Produkte, die Musik, die Mode, den Style. Sie schreibt in einem Text über Nirvana: „Aber jetzt hatte ich auch endlich mal ein Wort: Grunge. Ich war Grunge! Und natürlich Riot Girl, wie die Grunge-Mädchen sich nannten.“ Durch subjektive Feststellungen wie diese bleibt Popmusik kein abstraktes Konstrukt, das vom Elfenbeinturm aus verhandelt wird, sondern ist essenzieller Bestandteil des Lebens. Schon das Buchcover zeigt eine sehr pragmatische Umgangsweise mit dem Produkt Pop, laut Kerstins Freundin Jessica eine „der 10 häufigsten Handbewegungen der Leute unserer Generation: sich in einer CD spiegeln und dabei die Wimpern schminken.“ Wer sich noch nie mit Hilfe einer CD die Wimpern getuscht hat, kann das Cover auch so interpretieren: Pop ist der Spiegel, der dir zeigt, wer du bist und wer du sein kannst – und hilft dir dabei, dich schön zu machen. Kerstin schreibt im Vorwort zu „Zungenkuss“, dass es in diesem Buch „auch um den ganzen kosmetischen Schwindel“ geht, ihr ist schleierhaft, warum manche Leute nicht auf die Verpackung musikalischer Produkte achten oder diese nicht ernst nehmen wollen. Wie schon Oscar Wilde wusste, sind es nur die oberflächlichen Menschen, die nicht auf die Oberfläche achten.

Und, ja, Kerstin Grether schreibt selbstverständlich „ich“, sie ist immer subjektiv, kein bisschen distanziert und „sachlich“, was gerade Männer von Kritik einfordern und erwarten. Und doch ist es genau diese persönliche Herangehensweise an das Phänomen Pop, die Kerstins Texte so klug und identitätsstiftend macht. Ihr Schreiben über Pop ist Pop selbst – „populär“ im eigentlichen Sinne des Wortes: für alle verständlich, from the people for the people. Kerstins Tonfall ist emphatisch und warm, sie ist Fan geblieben – bis heute, wo sie doch längst selbst als Referenzgrösse gilt. Ihr Ansatz ist Myriaden entfernt vom besserwisserisch-zynischen Angebertum, das männliche Kollegen für objektive Kritik halten. Sie traut sich, ein Herz für Plastikprodukte der Musikindustrie zu zeigen, denjenigen einen menschlichen Blick zuzuwerfen, die von anderen Kritikern vorhersehbar mit Häme überschüttet werden. Besonders deutlich wird dieser unvoreingenommen-freundliche Ansatz in Kerstins Text über ihre Begegnung mit Britney Spears – am Ende des Interviewtermins stellt sich heraus, dass Kerstin dieselbe Jacke trug wie das damals noch unbefleckte Teenie-Idol. Music makes the people come together – auch den amerikanischen Superstar und die deutsche Journalistin. Weibliche Popstars stehen durchaus im Zentrum des Grether'schen Schreibens, sie nähert sich female icons wie Courtney Love, Madonna und Queen Latifah oder untersucht anhand ausgeklügelter Kriterien, was Teen-Idole wie Pink, Kylie Minogue und Christina Aguilera wirklich „taugen“. Sie zeigt unverhohlene Bewunderung für Inga Humpe oder die Band Britta, ist aber nicht grundsätzlich positivistisch-affirmativ. Ihr heiliger Zorn auf PJ Harvey (eine Begegnung mit der anorektischen Indie-Ikone gerät zur Platitüden-Verbreitung seitens Miss Harvey) wird zu einem ungeschönten Abgesang auf die einstmals so verehrte Künstlerin. Und ihre Gedanken zu Ally MacBeal, für Grether die TV-Inkarnation der Magersucht, sprechen eine deutliche Sprache in terms of weibliche Körper in der Mediengesellschaft. Natürlich kommen auch jede Menge Jungs in Kerstin Grethers Texten vor, ihre feministische Weltsicht schliesst Männer ja nicht aus, eine Konzentration auf rein weibliche Themen wäre eine Beschränkung, die niemandem nutzt. Gerade Grunge, Nu Metal, Hardcore und HipHop sind männlich dominierte Genres, die durch weibliche Kritik neue Facetten erhalten. Ausserdem hält es Kerstin mit den Yeah Yeah Yeahs, die sagen, dass Sex und Rock'n'Roll mit Männern und Frauen zu tun hat. Darauf bezieht sich auch ihre Intro-Kolumne „Zungenkuss“, die diesem Buch den Titel gab: die Begegnungen der Grether-Schwestern mit Indie-Ikonen wie Bobby Gillespie von Primal Scream werden innig und intim erzählt, die Stars werden – wenn vielleicht nicht zu Freunden – auf jeden Fall zu echten Menschen, Männern und Frauen.

Kerstin Grether besitzt das coole Wissen und gibt nicht damit an. Dabei ist das Schreiben über Musik harte Arbeit - wobei die Kunst darin besteht, einen Text über Pop nicht wie „Arbeit“ aussehen zu lassen und trotzdem alles gehört und gelesen zu haben. Wieviel Arbeit und Wissen in Grethers Texten steckt, wird offenbar in ihren „grossen“ Artikeln über Grunge, Hamburger Schule, Männer im Pop („Exile in Guyville“), ihre Abhandlungen über das Fan-Dasein oder darüber, ob Armut eine Frau ist. Wesentlich wichtiger als das Horten von Wissen und Besitz ist Grether aber etwas anderes, nämlich schlicht und einfach die Musik selbst. Devotionaliensammler schockt sie mit dem Bekenntnis, dass Platten es bei ihr nicht gut haben: „Meine Schallplatten befinden sich oft in einem schlechten Zustand. Sie stehen oft monatelang, nackt und ohne Hüllen, auf dem kalten Fussboden herum. Das Bedürfnis, sie sinnvoll zu ordnen ( ….) ist mir fremd. Ich will einfach nur die Lieder hören, am besten so lange, bis ich sie auswendig kann. Ich glaube, das geht allen Mädchen so.“ Aber ist es nicht genau das, was mit Popmusik, ach mit Kunst überhaupt geschehen sollte: persönliche Aneignung, Uebertragung ins eigene Leben, keine museale, tote Verehrungskultur. Sammeln und Archivieren ist nicht Pop. Und apropos Platten: allerspätestens nach der Lektüre von „Zungenkuss“ sollte klar geworden sein, dass es einem Mädchen/einer Frau niemals genügen sollte, aus der Plattensammlung des Freundes ein paar „Empfehlungen“ zugeteilt zu bekommen. Pop-Feminism starts at home!



» www.kerstin-grether.de