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Januar 2007
Christina Mohr
für satt.org

Musik-DVDs 2006
eine subjektive Auswahl

Das vergangene Jahr brachte eine Vielzahl spannender Musik-DVDs hervor, von denen viele über den reinen Konzertfilm hinausgingen. Hier eine Auswahl aus 2006 – höchst subjektiv bewertet von Christina Mohr:

Platz 6:
Notwist, On/Off the Record
(City Slang)


Notwist
On/Off the Record


Notwist, On/Off the Record
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Den verschwörerischen Hype um The Notwist aus Weilheim und München habe ich nie so ganz verstanden. Die Band wurde1989 von den Brüdern Markus und Michael Acher und Mecki Messerschmidt gegründet, später stieß Martin Gretschmann alias Console dazu. Seit ihren Anfangstagen und der LP “Nook” wurde die Band in Indierockkreisen gefeiert, der Begeisterungssturm, den The Notwist vor Jahren während eines Marburger Open-Air-Festivals entfesselten, ist mir noch gut in Erinnerung, wenn ich ihn auch nicht ganz nachvollziehen konnte. Dann kam “Neon Golden”, Notwists großes Werk aus dem Jahre 2002, auf das sich ganz viele Menschen einigen konnten. “Neon Golden” vereinte Indie-Nerdtum mit elektronischen Tricksereien, zarte, eindringliche Melodien verbanden kompositorisches Können und Talent für Hits - was mit “Pilot” bewiesen wurde, einem tollen Song, der nicht zuletzt durch das charmante Modelleisenbahnvideo bestach. Mit “Neon Golden” verließen The Notwist endgültig den Status einer Eingeweihtenband: das Album erreichte Spitzenplätze in den deutschen Verkaufscharts.

Notwists Homebase und Plattenfirma City Slang hat nun, fünf Jahre nach der Geburt von “Neon Golden” eine DVD veröffentlicht, die zum einen den Aufnahmeprozeß des Albums im Studio zeigt, zum anderen die Zeit danach, also “off the record”: der Dokumentarfilmer Jörg Adolph begleitete die Band bei Interviews (sehr schön folgende Szene: ein Interviewer sagt, “Ich finde es gut, dass Ihr als Band so gar kein Image habt. Seht Ihr das genauso?” - ratloses Schweigen seitens der Musiker), beim Fotoshooting und bei der Promotionplanung mit Christian Ellinghaus von City Slang. Dass das Label dem Entstehungsprozeß einer Platte eine DVD, also quasi Sekundärmaterial zum eigentlichen Werk widmet, unterstreicht die große Bedeutung von “Neon Golden” für die deutsche Indiemusikszene und verleiht der Platte Klassikerstatus. Solange die freundlichen Bayern an der neuen Platte frickeln (bis diese erscheint, kann es noch dauern – für “Neon Golden” waren sie immerhin 15 Monate im Studio), kann man sich an dieser DVD erfreuen.

www.notwist.de


Platz 5:
Die Tödliche Doris, Gehörlose Musik
(Edition Krötenhayn)


Die Tödliche Doris:
Gehörlose Musik


Die Tödliche Doris, Gehörlose Musik
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1998 bat Wolfgang Müller, ehemaliges Mitglied der Allroundkunstband Die Tödliche Doris die beiden Gebärdensprachdolmetscherinnen Dina Tabbert und Andrea Schulz, ihn bei einem ungewöhlichen Projekt zu unterstützen: gemeinsam mit den “Freunden Guter Musik” wollte Müller das erste Album der Tödlichen Doris an der Berliner Volksbühne aufführen – und zwar im Rahmen eines Festivals für “Gehörlose Musik”. Die Performance, die die Edition Krötenhayn als legitimierte Sammler-DVD herausgebracht hat, ist bizarr und faszinierend. Die beiden Dolmetscherinnen übertragen nicht nur Doris-Texte in Gebärdensprache, sondern auch Doris-Musik, die mit “experimentell” nur unzureichend beschrieben ist. Minimalistisch, punkig, dadaistisch, expressionistisch – all das war Doris und auch wieder nicht. Schulz und Tabbert bei der gebärdensprachlichen Umsetzung des Doris-Werks zuzuschauen, ist ein großer Spaß, der von noch größerem Erstaunen begleitet wird: Texte und Musik werden mit großem Enthusiasmus in Bewegung und Zeichen transformiert. Die Edition Krötenhayn hat zusätzlich zum eigentlichen Auftritt noch ein ausführliches Interview mit Wolfgang Müller auf die DVD gepackt, die in liebevoll-luxuriöser Ausstattung daher kommt. Man kann zwischen verschiedenen Spuren wählen: entweder den “richtigen” Ton hören oder auf stumm schalten und den Text in Gebärdensprache übersetzt bekommen.

www.die-toedliche-doris.de


Platz 4:
High Tech Soul. The Creation of Techno Music
(Plexi/Indigo)


High Tech Soul.
The Creation of
Techno Music


High Tech Soul. The Creation of Techno Music
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Der Regisseur Gary Bredow platzierte Technopioniere wie Kevin Saunderson, Juan Atkins und Derrick May vor der Kamera – sie sollten über die Anfangstage des Detroit Techno berichten, einen Musikstil in Worte fassen, der die Clubber auf der ganzen Welt in seinen Bann ziehen sollte. Detroit/MA ist eine faszinierend kaputte Stadt: einstmals Wiege des amerikanischen Fortschritts, Autostadt, “Motor City”, auf eine goldene Zukunft bauend sollte Detroit vier Millionen Menschen Platz bieten. Heute, nach dem Zusammenbruch der Autoindustrie und dem Exodus zigtausend Detroiter, lebt nur noch weniger als eine Million Leute in der riesigen Industriebrache, es gibt also jede Menge ungenutzten urbanen Raum. Ab Mitte der achtziger Jahre besetzten feier- und tanzwütige Jugendliche viele der leerstehenden Bauten, um illegale Clubs zu eröffnen. In dieser Szene entstand die harte elektronische Tanzmusik, Techno, High Tech Soul. Bald begann der Siegeszug dieses unverwechselbaren Sounds, dessen Väter wie Juan Atkins zum überwiegenden Teil auch heute noch aktiv sind. In den Interviewausschnitten präsentiert sich Juan Atkins als stiller, zurückhaltender Mann, ganz im Gegensatz zum quirligen, eloquenten, von sich selbst begeisterten Derrick May. Aber auch andere Vertreter des Detroit Techno kommen zu Wort: Richie Hawtin erklärt die Verbundenheit von Detroit und Berlin (besonders bedeutend ist in diesem Zusammenhang der Berliner Technoclub Tresor), Jeff Mills, Carl Craig, Eddie Fowlkes, der Radio-DJ The Electrifying Mojo und die Gruppe Scan 7, die nur maskiert auftritt. Ein wenig mehr Musik hätte diesem Film gut getan, ebenso wie eine eingehendere Präsentation der Stadt Detroit, aber alles in allem bietet dieser Film eine kurzweilige Einführung in "The Creation of Techno Music".


Platz 3:
The Pixies, loudQUIETloud
(Plexi/Indigo)


The Pixies:
loudQUIETloud


The Pixies, loudQUIETloud
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Als Frank Black 1992 die möglicherweise wichtigste Band aller Zeiten, die Pixies, mit einer schlichten Faxnachricht auflöste, ahnte niemand, dass sie Jahre später dem Reunionwahn nicht widerstehen konnten. The Pixies tourten 2004 in Originalbesetzung durch die Welt und hinterließen überall ein euphorisiertes Publikum. Frank Black war noch dicker geworden, seiner kreischenden Stimme und beeindruckenden Bühnenpräsenz tat dies jedoch keinen Abbruch. Kim Deal, Göttin am Baß, rauchte noch immer Kette, Joey Santiago entlockte seiner Gitarre noch immer diesen charakteristisch jangelnden Sound und Schlagzeuger David Lovering zeigte den Jungspunden mal, was eine Harke ist. Hits wie “Monkey Gone to Heaven”, “Gigantic”, “Debaser”, “Where Is My Mind” oder “Gouge Away” trieben Indieveteranen Tränen der Rührung und Begeisterung in die Augen.

loudQUIETloud (passende Beschreibung des Pixies-Sounds) erzählt die Geschichte der Reunion, zeigt die ersten Proben und ersten Auftritte der Band nach 12 Jahren Pixiesabstinenz. Die Regisseure Steven Gantor und Matthew Galkin kommen den Musikern ganz nah: so wird man Zuege des erstaunlichen Phänomens, dass die Bandmitglieder jeder für sich total mitteilsam und gesprächig sind, befinden sich aber mehrere Pixies in einem Raum, haben sie sich buchstäblich nichts zu sagen. loudQUIETloud eben. Man besucht Kim Deals Familie, Schwester Kelly, die gemeinsam mit Kim die Pixies-Nachfolgeband The Breeders gründete, geht als Vertraute und Fotografin mit auf Tour; Joey Santiago wird während der Wiedervereinigung zum zweiten Mal Vater; David Lovering kämpft mit Drogenproblemen, sein Vater stirbt während der Tournee. Und Frank Black, auch das verdeutlicht der Film, sieht die Pixies nach wie vor als seine Band – er ist Gründer, Chef, Gottvater und bestimmt die Geschicke. loudQUIETloud ist in erster Linie ein Roadmovie – moving in jedem Sinne.


Rainer Kirberg:
Die letzte Rache


Rainer Kirberg, Die letzte Rache
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Platz 2:
Rainer Kirberg, Die letzte Rache
(Monitorpop)

“Die letzte Rache” lief 1982 als “Kleines Fernsehspiel” im ZDF und ist kein wirklicher Musikfilm, aber ohne die Musik von Der Plan und Gastauftritte wie zum Beispiel von Andreas Dorau undenkbar. Rainer Kirberg erzählt die weirde Geschichte des “Weltkenners”, eines Glücksritters, der einen Nachfolger für einen alternden Herrscher sucht. Die Story ist verworren und verrückt, es geht um Weltherrschaft, Unsterblichkeit und sogar Inzest. Für die DVD-Ausgabe wurde “Die letzte Rache” in Bild und Ton komplett neu gemastert, der Regisseur überarbeitete die Schnittfassung und Der Plan unterstützte das Projekt mit neuer Filmmusik.


Platz 1:
Jazzin' the Black Forest
(Monitorpop)


Jazzin' the Black Forest

Jazzin' the Black Forest
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Mein persönliches Highlight des Jahres 2006: die Geschichte des schwäbischen Jazzlabels MPS (Musik Produktion Schwarzwald beziehungsweise “Most Perfect Sound”), für die Nachwelt bewahrt von der Filmemacherin Elke Baur. Hans-Georg Brunner Schwer (von allen Beteiligten liebevoll “HGBS” genannt) gründete in den sechziger Jahren in Villingen das Label MPS, dessen Produkte bis heute bei Sammlern für leuchtende Augen sorgen – in zwanzig Jahren entstanden mehr als 600 Platten, deren liebevolle Covergestaltung ein übriges zum Kultstatus der MPS-Veröffentlichungen beitrug. Brunner Schwer bewies, dass man auch in der schwäbischen Provinz internationale Musik produzieren kann, seine Leidenschaft für Jazz überwand organisatorische Probleme und kulturelle Hindernisse. Elke Baur montiert Originalaufnahmen, Interviewausschnitte und Studioaufnahmen und kontrastiert die international ausgerichtete Ambition des Labels mit verträumten Schwarzwaldbildern. Es gibt auch herrlich komische Aufnahmen: Oscar Peterson kommt nach einem Auftritt spät in der Nacht zu Brunner Schwers nach Hause, um in HGBS' Homestudio Aufnahmen zu machen. Die gesamte Familie Brunner Schwer ist versammelt, die Hausfrau bereitet Schnittchen und der damals neunjährige Sohn darf bis morgens früh aufbleiben und der Jazzlegende bei der Arbeit zuschauen. Das gleichermaßen familiäre wie professionelle Umfeld verschaffte MPS bald weltweites Renommée: Künstler wie Lee Konitz, Jean-Luc Ponty, George Duke, Charly Mariano, Volker Kriegel, Albert Mangelsdorff und viele andere gaben sich bei HGBS die Klinke in die Hand, um in seinem Studio aufzunehmen. Die intim-freundliche Atmosphäre bei Brunner Schwers ist durchaus vergleichbar mit den legendären John-Peel-Sessions. Der gute Ruf des Labels hat sich gehalten: Heutzutage verwenden junge DJs wie Oliver Korthals vom Mojo Club oder Rainer Trüby MPS-Aufnahmen in ihren Sets und transportieren den Jazz der sechziger und siebziger Jahre in die Clubs von heute.


Ohne Wertung:
The Cure Festival 2005
(Universal)


The Cure Festival 2005

The Cure Festival 2005
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Als Cure-Fan hat man es nicht immer leicht. Es ist ja auch zu einfach, über den dicken Mann mit Vogelnestfrisur und Klageweibstimme zu lachen: je älter Robert Smith wird, desto mehr gerät er optisch zu einer Mischung aus Samson aus der Sesamstraße und Zirkus-Roncalli-Chef Bernhard Paul. Aber als langjähriger Cure-Supporter ist man in dieser Hinsicht Kummer gewohnt, und meist genügt es, die schönsten Songs der Band aufzuzählen, um lästerliche Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Anfang 2005 kehrte Gitarrist Porl Thompson zu The Cure zurück, seit vielen Jahren befinden sich nun mit ihm, Robert Smith und Simon Gallup wieder drei der Originalmitglieder in der Band. Um das zu feiern, bespielten The Cure im Sommer 2005 spektakuläre Venues in Europa: Taormina in Sizilien, sie traten beim Terravibe Festival in Athen auf, in Istanbul, in Saint Malo und in Berlin/Wuhlheide. Die DVD “Festival 2005” bietet 150 Minuten Musik ohne Schnickschnack oder irgendwelche Extras, das Material wurde aus professionellen Filmaufnahmen und Publikumsmitschnitten zusammengestellt, aufgenommen an neun verschiedenen Orten. Der Schwerpunkt der Songauswahl liegt auf sperrigeren, elegischen Stücken wie “The Drowning Man”, “Plainsong”, “Faith”, “The Blood” oder “One Hundred Years”. Es fehlen Hits wie “Close to me”, “Boys Don't Cry”, “Why Can't I Be You”, “The Walk” oder “Friday I'm in Love”, was aber nicht negativ auffällt, da die ewigen Klassiker “A Forest” (in einer ziemlich gestrippten, kürzeren Version als üblich), “In Between Days” oder “A Night Like This” zu sehen und zu hören sind. Man merkt der Band an, dass sie gerne live spielt – und manchmal ein bißchen zu dolle rockt. Doch wenn der dicke strubbelige Mann voll schüchterner Freude über ein gelungenes Gitarrensolo lacht, verzeiht man The Cure sofort (als Fan).