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April 2006
Robert Mießner
für satt.org


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Robert Johnson liest Joseph Conrad
Jeffrey Lee Pierce
(1958 – 1996)

Am Ende seines kurzen Lebens war er Buddhist geworden. Und hat, gefragt nach der Person, die er töten könnte, mit „Henry Kissinger“ geantwortet. Jeffrey Lee Pierce war Überzeugungstäter. Er verehrte Blondie und John Coltrane wie B.B. King. Den Anspruch von Punk, dem Rock ’n’ Roll Abenteuer und Gefahr zurückzugeben, hat er ernst genommen. Zu ernst, vielleicht. Dies, obwohl uns Nachgeborenen ein solches Urteil nicht zusteht.


Jeffrey Lee Pierce (1958 – 1996)
Jeffrey Lee Pierce (1988)
Foto © H. Howard

Der Vater ist Gewerkschafter und Baptist, die Mutter Maniküre und Katholikin. 1958 in Montebello, im Osten von Los Angeles County, geboren, widmet ihr Sohn seine Energie, seinen Enthusiasmus früh der Musik. Im Teenageralter beginnt er, für Fanzines zu schreiben. Wird begeisterter Konzertgänger und Plattensammler. Er entwickelt einen im besten Sinne eklektischen Musikgeschmack und betreut für das legendäre Slash-Magazin die Sparte Weltmusik. Den Urknall Punk erlebt Pierce Mitte, Ende der siebziger Jahre aus erster Hand. X, Television und The Cramps werden zu frühen Vorbildern. Ein Reiseleben beginnt. Seine Stationen sind Miami und Jamaica, New Orleans und New York. Blues, Jazz und Voodoo liefern Anregungen. Und Pierce trägt das erste Mal in seinem Leben einen offiziellen Titel. Mit Stolz – er betreut als Präsident den Blondie-Fanclub. Ausreichen wird es ihm bald schon nicht mehr. Mittlerweile in Los Angeles lebend, gründet er, gemeinsam mit seinem Jugendfreund Kid Congo Powers, Anfang der achtziger Jahre Creeping Ritual. Keith Morris, Pierces Mitbewohner und Mitglied der befreundeten Circle Jerks, schlägt den einprägsameren Namen The Gun Club vor. Pierce revanchiert sich mit einem Song und ist begeistert.

Die Kritiker sind es anfangs weniger. Rassistisch und sexistisch seien die Texte der neuen Band. Pierce ist beim Lesen der ersten Reviews weniger empört als amüsiert. Hat er sich doch beim Schreiben hauptsächlich von alten Bluesplatten inspirieren lassen. Und die pflegen eine deutliche Sprache. Genau wie Fire Of Love (1981), der triumphale Erstling des Gun Club. Wer eine Liste mit den zwanzig besten Debütalben des Rock erstellen will, kommt an dieser explosiven Mixtur aus Robert Johnson und den Sex Pistols nicht vorbei. Es dauert gerade ein Jahr, und es gelingt dem Gun Club, sich noch einmal selbst zu übertreffen. Miami (1982), produziert von Chris Stein, erscheint und macht das Punkpublikum mit Country und Rockabilly vertraut. Hinter dem Pseudonym D.H. Laurence Jr. verbirgt sich niemand geringere als Debbie Harry, die der Platte ihre Stimme leiht. Die Musikpresse beginnt, begeisterte Töne anzuschlagen. Sylvie Simmons beschreibt 1982 in Sounds den Gun Club als „Muddy Waters, begleitet von The Damned“. Ein Bild, das in Pierces Sinne gewesen sein könnte. Auf The Las Vegas Story (1984) setzt er, diesmal von Patricia Morrison am Bass unterstützt, seine Geschichtsexkurse fort. Pharoah Sanders und George Gershwin stehen auf dem Programm. Pierce selbst zieht nach London und nimmt dort Wildweed (1985) auf. Sein erstes Soloalbum, dessen unerwartet zugänglicher Tonfall sich auch den englischen Mitspielern, unter ihnen Andy Anderson, Drummer bei The Cure, verdankt. Der Gun Club muss derweil pausieren. Bis Pierce, zwischenzeitlich als Spoken-Word-Künstler unterwegs, 1987 Robin Guthrie von den Cocteau Twins trifft. Und sich zu einem Comeback überreden lässt. Es gelingt mit dem von Guthrie selbst produzierten Mother Juno (1987). Pierce kann Blixa Bargeld als Gast an der Gitarre gewinnen. 1992 erfüllt er sich einen langgehegten Wunsch und nimmt in Holland unter dem Pseudonym Ramblin’ Jeffrey Lee & Cypress Grove With Willie Love ein Album voller klassischer Bluessongs und anverwandter Eigenkompositionen auf. Der Gun Club wird bis in die neunziger Jahre aktiv bleiben und mit Pastoral Hide & Seek (1990) und Lucky Jim (1993) höchstes Niveau halten können.

Als Verweis auf Joseph Conrad war Lucky Jim, Pierces Schwanengesang, gedacht. Erlaubt, das Leben eines anderen zu führen, hätte er sich für den englischen Autor polnischer Herkunft entschieden. Pierce hat sein Leben gelebt. Es bestand nicht nur aus Musik und Literatur, aus Reisen nach Vietnam und Japan wie aus einer späten Liebe für Rap. Sondern auch aus Süchten, Krankheit und Einsamkeit. Sterben wollte er an einem Kopfschuss, „Time’s Up“ sollte auf seinem Grabstein stehen. Vor zehn Jahren ist die Zeit tatsächlich abgelaufen. Im Haus seines Vaters in Utah an einer Buchpublikation arbeitend, erlitt er eine Gehirnblutung und starb, nach einer Woche im Koma, am 31. März 1996. Jeffrey Lee Pierce wurde 37 Jahre alt.