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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




März 2006
Christina Mohr
für satt.org

 

Sampler Galore!

Die im folgenden vorgestellten drei Sampler haben musikalisch wenig bis nichts gemeinsam – außer der jeweils absolut speziellen, ungewöhnlichen, großartigen Zusammenstellung. Um Aufmerksamkeit wird gebeten:

OHM +

Cover

OHM +:
The Early Gurus
of Electronic Music
1948 – 1980

Ellipsis arts, edel 2006
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Was ist Musik? fragte vor einigen Jahren Justus Köhncke, und dieses Schmuckstück von einem Sampler kann bei der Grundlagenforschung helfen. Am Besten schwärmt man erst einmal von der Ausstattung dieses Pakets: drei CDs, eine DVD und ein hundertzehnseitiges Booklet bekommt man hier; die CD-Box ist 1999 zum ersten Mal erschienen, war in Windeseile vergriffen und liegt nun als aufpoliertes Standardwerk im Schuber vor. Hat man sich durch alle enthaltenen Medien durchgearbeitet, ist der Doktorhut für elektronische Musik in greifbare Nähe gerückt. Auch wenn viele bekannte Namen wie Holger Czukay, Klaus Schulze und Brian Eno auf Ohm + versammelt sind, ist das zusammengetragene Material keineswegs Pop- oder gar Tanzmusik. Lange bevor Kraftwerk, Yello und Tangerine Dream mit elektronischen Sounds experimentierten und – noch später – Bands wie Depeche Mode zu Weltstars wurden und Synthesizerklänge in den Mainstream einzogen, tüftelten Menschen wie Morton Subotnick, Joji Yuasa oder Raymond Scott an Maschinen herum, waren eher Nerds und Forscher als Musiker oder Komponisten. Zu diesen elektronischen Klängen kann nicht getanzt werden, eher bietet sich freie Assoziation an: wie klingt ein geöffneter Kühlschrank? Was hört ein Satellit auf seiner Umlaufbahn? Kann man mit Taschenrechnern musizieren?

Track Nr. 1 auf CD 1 ist eine Tchaikovsky-Interpretation der Geigenvirtuosin Clara Rockmore auf dem Theremin, einem von Leon Theremin entwickelten Gerät, das auf Körperbewegungen reagiert und dadurch Töne erzeugt. Wie das Theremin funktioniert, kann man auf der DVD anschauen: dort sieht man den lustigen Herrn Theremin mit anderen älteren Herren in einer russischen Mietwohnung Fisimatenten vor dem Wunderding vollführen. Die DVD bietet nicht nur aufschlußreiche Interviews mit den alten Herren des Electro, sondern auch witzige Kurzfilme wie zum Beispiel „The Dust Bunny“ von Paul Lansky, man wird Zeuge des erbitterten Kampfes eines aus Staub und Büroklammern bestehenden Häschens gegen einen furchterregenden Staubsauger.

Wen die Geschichte elektronischer Musik abseits des modernen Pop interessiert, kommt an Ohm + nicht vorbei. John Cage ist hier ebenso vertreten wie Karl-Heinz Stockhausen, Steve Reich und Terry Riley. Wie gesagt: Doktorhut!


New York Noise II

Cover

New York Noise II
Soul Jazz 2006
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Das Londoner Label Soul Jazz hat sich in den vergangenen Jahren sehr verdient gemacht, wenn es darum ging, verlorene Schätze zu heben. Sei es das Werk des verstorbenen New Yorker DJs Arthur Russell, die Batucada-Reihe, Frühachtziger-Wave von A Certain Ratio oder Konk, Studio One Soul und vieles mehr. Jedes Soul-Jazz-Album kann man bedenkenlos nach Hause tragen, zumal Soul Jazz auch sehr feine Vinylausgaben produziert. Der Sampler New York Noise II ist wie sein Vorläuferalbum New York Noise prall gefüllt mit No- und New-Wave-Kuriositäten der späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre, NYN II spannt den Bogen von 1977 – 1984, NYN Teil I war etwas knapper gefaßt (1978 – 1982). NYN II dehnt sich nicht nur zeitlich etwas mehr aus, auch die stilistische Bandbreite ist erweitert worden: waren auf dem ersten Noise-Sampler die etwas bekannteren Protagonisten der New Yorker Undergroundszene versammelt (Konk, Liquid Liquid, Lizzy Mercier Descloux, Defunkt, Bus Tetras), werden hier nun Acts vorgestellt, die in erster Linie nur einem Spezialistenpublikum bekannt waren. Eröffnet wird der illustre Reigen auf NYN II mit dem Song „Ungawa Pt. 2“ von Pulsallama, einer vielköpfigen Frauen-Percussioncombo, die völlig durchgedrehte Liveperformances bot, sich später in verschiedene Kunstprojekte aufsplitterte und musikalisch kaum noch aktiv war.

Populäre Ausnahmen sind auch dabei, wie zum Beispiel ein frühes Sonic-Youth-Stück (I Dreamed I Dream) oder der bereits erwähnte Arthur Russell. Apropos Russell: NYN II hat neben sperrigen No-Wave-Stücken der Mars- und DNA-Schule jede Menge feine Discostücke im Gepäck, Black Box Disco vom Soundtrack des Films Vortex (mit Lydia Lunch) ist zwingender Streetsound mit spooky Gesangsparts; Back Downtown von Certain General vereint knackigen Funkwave mit Psychobilly-Vocals. Auch die Songs von Clandestine und Glorious Strangers lassen das Tanzbein zucken und machen klar, daß Disco, Funk oder House auch Underground oder „No Wave“ sein können. Lupenreiner No Wave ist hingegen Rhys Chathams Drastic Classicism, eine achtminütige Schrengel-Dengel-Orgie, die alle räudigen Kater der Nachbarschaft bis in alle Ewigkeit verjagt. Erwähnt seien hier auch The Del-Byzanteens, die nicht nur musikalisch interessant waren, sondern einen gewissen Jim Jarmusch als Keyboarder beschäftigten. No-Wave-Veteran und Progressivgitarrist Glenn Branca ist hier mit The Static zu hören – Branca war neben Leuten wie Arto Lindsay ein besessenes Mastermind der Szene, seine Lärmorgien waren revolutionär und sorgen auch heute noch für erschüttertes Staunen.

Das Booklet zu New York Noise II ist zwar sehr umfangreich und bietet viel Hintergrundinfo zu den Bands und MusikerInnen, stellt aber auch Aufgaben: zum Beispiel gibt es keine Angaben zu Erscheinungsdaten der einzelnen Stücke und einige Fußangeln mehr. Ist aber durchaus angemessener Style, die Musik macht es einem ja auch nicht leicht.


The Pig's Big 78s

Cover

John Peel & Sheila:
The Pig's Big 78s

Trikont 2006
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Der große John Peel war nicht nur Liebhaber und Förderer von Punk- und Wavebands, nein, er liebte auch – jede andere Musik des Welt. Er kannte keine Einschränkungen, weder zeitlicher noch (pop-)kultureller Art, sein Catalogue of Cool schloß nicht aus, sondern brachte zusammen. Kurz vor seinem Tod bat Peel das Münchner Label Trikont, einen Sampler mit von ihm gesammelten 78er Schellackplatten herauszubringen. Und so ist The Pig's Big 78s etwas wie das Vermächtnis John Peels geworden, obwohl hier keine einzige der durch ihn groß gewordenen Bands verewigt ist. Von Tango aus den fünfziger Jahren über den Jail House Blues von Lightnin' Hopkins bis zum jodelnden Neuseeländer Ronnie Ronalde sind hier Kuriositäten versammelt, an die man im Traum nicht dachte – weil man sie nicht kannte. John Peel beschämt den Popfan noch postum durch seine weltoffene Leidenschaft, die niemals eine bestimmte Mode oder Szene im Blick hatte. Ihm ging es immer um die Musik, und die entsteht nun mal auf jedem Quadratzentimeter der Erde. Die in Trinidad geborene Pianistin Winifred Atwell ist mit einem Charleston aus dem Jahre 1953 vertreten, das Blechflötenensemble „Elias & his Zig-Zag Jive Flutes“ aus Johannesburg spielt seinen Hit „Tom Hark“ und so geht es rasant rund um die Welt. In die Abteilung „total obskur“ fällt eine Aufnahme von mutmaßlich 1950: Die „Daily Mail Mystery Record“ ist eine Gagplatte des britischen Boulevardmagazins, ein Preisgeld von 1950 Pfund gab es für denjenigen, der die Musiker der Platte identifizieren konnte. Die Reihenfolge der Songs ist ein Knaller für sich: auf einen Kantonesischen Chor folgt Fünfzigerjahre-Rockabilly von Peanuts Wilson - The Pig's Big 78s ist eine typische Peel-Session insofern, weil sie sich jeglicher Kategorisierung entzieht und der charmante Mixtape-Charakter versteckt gewitzt den didaktischen Gehalt dieser Zusammenstellung.

Das Booklet (es gibt zwei: eins in Deutsch, eins in Englisch!) enthält ein ausführliches Interview mit Peels Frau Sheila Ravencroft und jede Menge Fotos aus dem Peel'schen Familienalbum.