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Februar 2006
Katarina Mazurkiewicz
für satt.org


Einstürzende Neubauten:
Liebeslieder

(DVD)

Cover
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Einstürzende
Neubauten:
Liebeslieder

"Man muss oft lange schreien,
damit die Leute danach die Stille genießen können."

FM Einheit 1993

Ja, ja, die moderne portable Unterhaltungselektronik ist schon eine grandiose Erfindung. Für die Rezensentin heißt es in der Praxis: keine Bus- und Bahnfahrt ohne den Einsatz eines MP3-Sticks (ok, um ganz ehrlich zu sein - nicht mal Brötchen von der Bäckerei um die Ecke holen). Und für längere Strecken erweist seit einiger Zeit der Laptop seinen treuen Dienst im Kampf gegen die Langeweile im Fortbewegungsmittel. Meine Bahnreise in Richtung Bayern fing richtig gut an. Die brandneue DVD einer meiner Lieblingsbands und ein Platz nah an der Stromquelle im Großraumabteil des ICEs versprachen entspannt-spannende 120 Minuten in bester Gesellschaft von Blixa Bargeld und Co. Da der Silberling laut Cover etwas über 100 Minuten Spielzeit hat, entschied ich mich, keine unnötige Zeit zu verlieren. Bevor der Zug fahrplanmäßig den Hannoveraner Bahnhof verließ, schaute ich bereits konzentriert auf den Bildschirm meines portablen Rechners und lauschte auf voller Lautstärke den extravaganten Klängen – durch die mitgebrachten Kopfhörer, versteht sich, um die anderen Mitreisenden nicht zu stören. Doch die benahmen sich trotz der durchgeführten Maßnahmen etwas merkwürdig. Manche - anstatt sich mit eigens mitgebrachter Lektüre oder womit auch immer zu beschäftigen - starrten mich ganz unhöflich an. Einige verließen sogar mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck das Abteil. Durch den freundlichen Schaffner erfuhr ich prompt des Rätsels Lösung: Als ich mich von dem Kopfhörer befreite, um nach dem Fahrschein zu greifen, bemerkte ich zu meinem Beschämen, dass der richtige Audioausgang meines Laptops nicht belegt war und in Folge dessen das gesamte Großraumabteil unfreiwillig mithörte!

Laut beschwert hat sich keiner der übrig gebliebenen betagten Passagiere. Ob es allerdings an der Qualität der dargeboten Klänge oder eher an den niedrig eingestellten Lautstärkereglern der Hörgeräte lag, sei dahingestellt. Die Rezensentin plädiert natürlich für ersteres.

Zugegeben, die Einstürzenden Neubauten sind keine leichte Kost, doch andererseits fängt die DVD Liebeslieder den Umständen entsprechend beinahe melodisch an.

Nach einer kurzen Einführung von Blixa Bargeld, der den ersten Teil von Prolog rezitiert und dem darauffolgenden noch kürzeren Liveausschnitt desselben Stücks, folgt bereits der erste Höhepunkt der DVD - der komplette Videoclip zu Die Interimsliebenden – melodisch, rhythmisch, ästhetisch und objektiv betrachtet gar nicht schräg, zumindest an anderen Werken der Berliner gemessen.

Das Konzept der DVD wird schnell klar; zwischen den leider teilweise viel zu kurz geratenen Konzertauschnitten plaudern die Hauptakteure aus dem Nähkästchen und zeigen sogar bereitwillig die historischen Brutstätten der "tonalen Neuland-Entdeckungsreise". Andere seltene Aufnahmen, darunter ein Trailer für das Goethe-Institut und das Filmmaterial vom San-Francisco-Artspace, gedreht 1990 anlässlich des zehnjährigen Bandjubiläums, machen die Collage die sich "Liebeslieder" nennt, perfekt. Die Dokumentation entstand übrigens bereits 1993 als Auftragproduktion des WDR. Der Großteil der darauf verwendeten Liveaufnahmen stammt auch aus der in dem Jahr stattgefundenen Tour.

Doch zuerst begibt sich der Zuschauer auf eine Zeitreise zu jener Berliner Autobahnbrücke wo einst 1980 die Geschichte der Einstürzenden Einbauten ihren Anfang hatte. Ob die im Film gezeigte dort angebrachte Messingplakette, gestiftet vom Berliner Senat, 12 Jahre nach Drehende noch immer an dem Brückenpfeiler zu finden ist?

Tracklisting:
01 Prolog 1 
02 Die Interimsliebenden (Video) 1993 
03 Stimme frisst Feuer 1982 
04 Sehnsucht 
05 Einsame Wölfin 1981 
06 Armenia 1990/1993 
07 Hör mit Schmerzen 1981 
08 Ich bins 
09 Hiroshima (A.v. Borsig) 
10 Kollaps 
11 Prolog 2 
12 Der Tod ist ein Dandy 1986/ 1993 
13 Headcleaner 1993 
14 Ein Stuhl in der Hölle 
15 Sehnsucht 1982/1990 
16 Hospitalische Kinder 
17 Das letzte Biest am Himmel 
18 DNS- Wasserturm 1990/1993 
19 Wüste 1993 
20 Sand 1985 
21 Prolog 3 
22 Seele brennt 
23 Salamandrina 1993 
24 Ubique Media Daemon 
25 Blume (Video) 1993

Zwischen Konzertauschnitten erzählen derweil alle Musiker in Einzelinterviews lustige Anekdoten aus der damals 13jährigen Bandgeschichte. Erstaunlicherweise wird sogar die Antwort auf die brennende Frage, die wohl jeden Neubauten-Fan interessieren dürfte, nämlich: "Warum klingen Neubauten so wie sie klingen?" präsentiert. Dabei ist sie verblüffend einfach: aus Langeweile, wie Alexander Hacke grinsend erklärt, aus Protest dagegen, dass alle anderen Rock’n’Roll-Bands gleich klingen. Na, wer hätte das gedacht? …. Auch die langjährigen Wegbegleiter und Förderer, darunter der Dramaturg Heiner Müller, kommen in der Dokumentation zu Wort.

Dem Betrachter wird allmählich klar, wie methodisch das vermeidliche musikalische Chaos der Einstürzenden Neubauten in Wirklichkeit ist. Schade nur, dass kaum eines der eindrucksvollen Klangbeispiele zu Ende ausgespielt wird.

Blixa Bargeld erklärt uns den zuerst etwas befremdlich klingenden Titel der Dokumentation. Doch seine Aussagen über "keine Liedertradition in Deutschland" klingen aus heutiger Perspektive etwas veraltet, betrachtet man die hiesige Entwicklung auf dem heimischen Plattenmarkt.

Dass die Zeiten sich verändert haben, wird dem eingeweihten Neubauten-Fan nach der Passage klar, in der die Musiker über die Creative Performance of Destruction in der Mojave-Wüste berichten, die die Band zusammen mit u.a. Boyd Rice absolviert hat. Heute ist der Provokateur von damals wohl zu heikel geworden: Blixa Bargeld äußerte sich unlängst sehr kritisch über die braunen Tendenzen, die in Rice‘ Kunst immer sichtbarer werden.

Liebeslieder ist eine beeindruckende Dokumentation, die dazu beitragen kann, dass sich alle, die mit den Einstürzenden Neubauten lediglich ohrenbetäubenden Krach verbinden, vom Gegenteil überzeugen können. Der eingefleischte Fan dagegen erkennt um so deutlicher, welch raffinierte Struktur sich hinter der scheinbar total wahllosen Oberfläche der neubautischen Klangwand verbirgt.

Und nach den Einstürzenden Neubauten ist alles andere sowieso nur noch


Schweigen … ….