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Oktober 2005
Katarina Mazurkiewicz
für satt.org


Silence: Veronika
Soundtrack
Chrom Records 2005

Silence: Veronika / Soundtrack
Interview mit Boris Benko, Sänger und Mastermind der slowenischen Band Silence

Silence:
Veronika

Als vor einigen Jahren ein junger, engagierter Seminarleiter der Lehrveranstaltung „Einführung in die Psychologie“ uns Studierenden verkündete, dass wir Ende des Semesters keine Klausur schreiben müssten, um den Schein zu erwerben, ahnte ich zuerst nichts Böses. Ganz im Gegenteil - der Deal sah auf dem ersten Blick ziemlich fair aus: die Seminarteilnehmer sollten lediglich das Lieblingsbüchlein des Lehrenden lesen und abschließend ihre Gedanken darüber in einem kleinen Essay zusammenfassen. Völlig unvoreingenommen erwarb ich das wärmstens empfohlene Werk mit dem Titel „Der Alchimist“ und …. fand es nach dessen Lektüre überraschend schwer, meine Gedanken in Worte zu fassen.
Immerhin, trotz des abschließendes Satzes, der sinngemäß etwa: „auch unter vorgehaltener Pistole möchte ich keine weiteren Esoterikmärchen von Paulo Coelho je wieder lesen müssen!“ lautete, erhielt ich für mein Essay erstaunlicherweise eine gute Note und unsere Wege (meine und die des brasilianischen Popliteraten) trennten sich anscheinend für immer.

Silence (Foto: Joze Suhadolnik)
Silence
Foto: Joze Suhadolnik

Bis zu dem Tag im Frühjahr 2005, als auf der Homepage der slowenischen Band Silence eine Nachricht erschien, dass das Duo seit einiger Zeit an der Musik für eine zeitgenössische Tanzperformance des slowenischen Nationaltheaters arbeitet, das von Coelho’s Werk „Veronika beschließt zu sterben“ inspiriert wurde. Der dafür zuständige Choreograph Gagik Ismailian kam übrigens aus Portugal, dem Land, das zumindest durch die Sprache mit der Heimat des Schriftstellers stark verbunden ist.
Nach ausgiebigen Internetrecherchen, die einige durchweg negative Kritiken des besagten Buches ans Tageslicht förderten, stellte ich fest, dass es ebenfalls eine erstaunliche Verbindung zwischen dem Roman und Slowenien gibt. Dort nämlich lebt die Titelheldin Veronika, die, scheinbar ohne jeglichen Grund, eines Tages beschließt, sich umzubringen. Der Versuch geht schief und die Protagonistin erwacht in der Psychiatrie. Paradoxerweise fängt sie erst dort an, richtig zu leben. Allerdings bleiben ihr dafür nur einige Tage, denn, wie man ihr mitteilt, wird sie wegen ihrer ausgeprägten Herzschwäche sehr bald das Zeitliche segnen.

Das bloße Lesen der Inhaltszusammenfassung schien meine tiefste Abneigung gegenüber Coelho nochmals zu bestätigen.
Da aber die Tanzperformance von dem Buch lediglich inspiriert wurde, sah ich keinen triftigen Grund, das Werk lesen zu müssen. Dafür versprachen die Soundclips auf der Bandhomepage mit dem Veronika-Soundtrack ein unglaubliches Hörerlebnis. Für alle Silence-Fans außerhalb Sloweniens, die nicht bereit waren, einen Kurztrip nach Ljubljana zu unternehmen, um das Album an der einzigen Verkaufsstelle - der dortigen Theaterkasse - zu erwerben, hieß es, sich geschlagene sechs Monate in Geduld zu üben.
Die Welt von Veronika öffnet ihre Pforten zu den ersten Klängen von Lagrimae, die sofort an eine Spieluhr im Kinderzimmer denken lassen. In einer Traumlandschaft ertönt ein seltsames Lied. Erst nach näherem Hinhören erscheinen manche der Wörter doch irgendwie bekannt. Kein Wunder, sie wurden tatsächlich verschiedenen Sprachen der Welt entliehen. So haben sich Silence ihre eigene imaginäre Sprache zusammengebastelt, die zu der Universalität der Aussage von Veronika passen sollte. Das Wiegenlied wird zunehmend schneller, rhythmischer und hypnotischer. Nahtlos geht es über in Respirator Dance und wird mit dezent eingesetzten Balkanfolklore-Elementen noch märchenhafter. Die menschlichen Atemgeräusche werden plötzlich zu einem vollwertigen Instrument, das sich in die komplexen Soundscapes perfekt einschmiegt.
Wie kaum eine andere Band verstehen es Silence meisterhaft, elektronische und analoge Klänge zu vermischen, wie in Veronika decides to die - einem zurückhaltenden, fast schüchtern wirkendem Klavierstück, (gespielt von Primoz Hladnik, der bei der Band hauptsächlich für Tasteninstrumente und Arrangements verantwortlich ist), dem nach und nach das Rauschen und andere „rohe", beinahe bedrohlich wirkende synthetische Geräusche beigemischt wurden.
Da es sich bei Veronika um einen reinen Tanzperformancesoundtrack handelt, bleibt die Musik naturgemäß durchweg stark rhythmusorientiert und vorwiegend instrumental. Dort wo die Stimme eingesetzt wird, spielt sie eher die Rolle eines perfekt eingepassten Instruments als eines zusätzlichen Ausdrucksmittels. Vielleicht deswegen, im Unterschied zu vielen anderen solchen Produktionen, wirkt hier kein einziges Stück so, als ob bei dem der Gesangspart schlichtweg vergessen oder weggelassen wurde.
Bereits auf ihrem letzten regulären Studioalbum Vain - a Tribute to a Ghost haben Silence mit Tracks wie Murder und The rise and fall of the American Empire bravourös bewiesen, dass sie im Stande sind, nur mittels Soundscapes und ohne ein einziges Wort zu benutzen, eine Geschichte zu erzählen. Diese seltene Gabe trägt am stärksten dazu bei, dass der Veronika-Soundtrack nicht einen Moment langweilig wirkt. Das von pulsierenden Beats durchzogene Vitriol klingt schon fast (trip)poppig, das darauffolgende Ucello’s Clock wird zu einer auditiven Wanderung durch wunderschöne Klanglandschaften.
Die Welt von Veronika mag vielleicht seltsam wirken, doch der Traum mutiert an keiner Stelle zu einem Alptraum. Auch nicht dort, wo der Titel des Stückes ein solches vermuten lässt wie Both feet in hell mit aggressiv wirkenden Bohrergeräuschen oder The well of madness wo mal wieder die Stimme des Sängers Boris Benko als Instrument eingesetzt wird, der richtige Höllentrip bleibt dem Hörer bis zum Schluss erspart. Die musikalische Vision einer Psychiatrischen Abteilung klingt beinahe einladend.
Die Musik von Silence erfüllt den ganzen Raum. Wen das Schicksal mit toleranten Nachbarn gesegnet hat, sollte sich daher Tracks wie Present, unexistent und An impossible love unbedingt in voller Lautstärke anhören. Der Rest der Hörer sollte zumindest auf vernünftige Kopfhörer zurückgreifen können.
Veronika ist trotz, oder vielleicht gerade wegen seiner Vielschichtigkeit ein sehr homogenes Album. Manche Motive ziehen sich wie ein roter Faden durch die Soundscapes, werden jedoch an verschiedenen Stellen neu interpretiert.
Die Musik erinnert streckenweise an die alten Werke von Cocteau Twins, obwohl der Vergleich eher der Gesamtatmosphäre als konkreten Liedern gilt. Die Fans von Elizabeth Fraser und Co. werden zweifellos den Soundtrack von den ersten Tönen an lieben.
Silence bleiben für mich eine Ausnahmeband (für das Wort gehört die Rezensentin auf der Stelle geteert und gefedert), die sich in beiden Welten, der Pop- und Theatermusik souverän bewegen kann.

Veronika ist ein unglaublich schönes, völlig zeitloses, genreübergreifendes Album, das nicht für einen Moment langweilig wird. Es ist so schön, dass ich trotz meiner mehrfach betonten Abneigung gegen Paulo Coelho ernsthaft erwäge, mir besagtes Buch zuzulegen, um es vielleicht eines Tages sogar lesen zu wollen. Mein junger engagierter Seminarleiter von damals wäre bestimmt entzückt!