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Oktober 2005
Marc Degens
für satt.org


T.Raumschmiere:
Blitzkrieg Pop

Novamute 2005

Cover
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Blitzkrieg Pop

»SO LISTEN UP YOU SCHMUCK«

T.Raumschmiere:
Blitzkrieg Pop

"T.Raumschmiere", der „King of Gnarz", hat soeben sein viertes Album vorgelegt, es heißt „Blitzkrieg Pop“ und wird alle Freunde der elektronischen Tanzmusik der härteren Gangart begeistern – und gewiß einige alte Fans verstören. „Blitzkrieg Pop“ ist der ideale Soundtrack zum Pogen und in die Lufttreten, rockig, rotzig und irgendwie asozial, so wie der Schwitzkasten eines älteren, nach Zigarettenrauch und Schweiß riechenden Schulkameraden. Liedzeilen wie „Ey, are you sick like me?“ sprechen eine deutliche Sprache. Doch bevor wir auf die Gegenwart zu sprechen kommen, sollten wir die Uhren ein paar Jahre zurückdrehen.

T.Raumschmiere

1998 zieht Marco Haas, der 1975 in Heidelberg geboren wurde, nach Berlin – und für den Musikstandort Berlin und ganz speziell den heutigen In-Stadtteil Friedrichshain wird dieser Wohnortwechsel zum Glücksfall. Haas, der bislang als Schlagzeuger in verschiedenen Formationen seine Vorlieben für Punk, Hardcore und Industrial ausgelebt hat, beginnt mit elektronischer Musik zu experimentieren, wird zum verhexten Knöpfchendrücker und Reglerschieber und entwickelt rasch seinen eigenen, unverwechselbaren Sound. In Anlehnung an die deutsche Übersetzung „Die Traumschmiere“ von Williams S. Burroughs Erzählung „The Dreamcops“ nennt sich Haas fortan „T.Raumschmiere", und 1999 erscheint auf seinem gemeinsam mit Marcus Stotz gegründeten Label Shitkatapult die erste Mini-LP „Stromschleifen“ mit acht instrumentalen Tracks. Es ist die Geburtsstunde des knisternd-knarzend-knackigen „Gnarz"-Technos, und auf den folgenden acht EPs und drei Alben beweist Haas, das er den Stil in all seinen Spielarten meisterhaft beherrscht: Sphärisch-hypnotische, bedrohlich-schleichende, lange, aber nie langweilig werdende Ambientcollagen wechseln sich ab mit basshämmernden, melodiös verspielten, gnadenlos groovenden und absolut eingängigen Tanznummern. Titel von Stücken wie „Synapsengeknister", „Leichtes Kratzen“ oder „Erlösung durch Strom“ auf der einen Seite, und „Nietenbolzen", „Rabaukendisko“ oder „Querstromzerspaner“ auf der anderen Seite sprechen für sich.

In der Zwischenzeit ist Haas nicht nur als Labelchef, sondern auch als Veranstaltungsmacher äußerst umtriebig und erfolgreich, er schafft und nutzt ein eng geknüpftes Netzwerk und steigt in wenigen Jahren zum Star und Aushängeschild der neuen jungen untergründigen Berliner Musikszene auf und entwickelt sich zum international begehrten Plattenaufleger und Live-Act. „T.Raumschmiere“ produziert Remixe für „2Raumwohnung", „Goldfrapp", Dave Gahan und zuletzt Andreas Dorau – und bewies letztes Jahr mit dem für die Shitkatapult-Jubiläums-DVD produzierten Song „Noch nie/nicht mehr", daß er, wenn er will, auch deutschsprachige, charts- und VIVAtaugliche Dancehits produzieren kann. Gemeinsam mit dem Laptopkünstler Martin Gretschmann von „Console“ besetzt der Tausendsassa Haas für die elektronische Tanzmusik derzeit eine ähnliche Vorreiterrolle, wie sie in den siebziger Jahren „Kraftwerk“ gespielt haben. Auch an musikalischer Vielseitigkeit steht Haas seinem Weilheimer Kollegen kaum nach. Er ist halt nur eine Spur härter, dreckiger, prolliger …

Wie bereits für das Vorgängeralbum „Radio Blackout“ lud Marco Haas auch für „Blitzkrieg Pop“ wieder mehrere Gastsänger ins Studio, auf zwei Stücken betätigte er sich erstmals aber auch selbst als Schreihals. Strukturell sind weite Strecken des Albums sehr liedhaft ausgefallen, mit dem von der Ex-"Guano Apes"-Frontfrau Sandra Nasic gesungenen Song „A very loud lullaby“ besitzt das Album sogar eine pathetische Rockballade, die Ende der achtziger Jahre durchaus auch als Tatort-Titelmelodie durchgegangen wäre. Dafür kommen mit „Divinig in whiskey“ die Liebhaber und Puristen der elektronischen Tanzmusik auf ihre Kosten, gesungen wurde die ultrakühle Nummer von Ellen Allien, die mit „Thrills“ eines der besten Elektro-Tanzalben dieses Jahres veröffentlicht hat.

Flankiert wird „Blitzkrieg Pop“ wieder von mehreren Maxi-Singles mit Remixen bekannter Szene-Größen, und besonders die „A very loud lullaby"-Bearbeitung von Si(mon) Begg begeistert und knallt wie ein Hit von „The Prodigy". Hervorzuheben ist auch die umfangreiche „T.Raumschmiere"-Webseite (www.t.raumschmiere.com), auf der man alle neueren Stücke immerhin anspielen und sich die meisten alten sogar komplett anhören kann. Und eines hat „T.Raumschmiere“ seinen Kollegen von „Console“ oder „Kraftwerk“ voraus: Live ist Marco Haas ein echtes Naturereignis, egal ob solo als DJ oder gemeinsam mit seiner famosen Band.



Erstveröffentlichung in der FAZ am 15.10.2005.